Im Kino

Kamera im Genick

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer, Nikolaus Perneczky
19.01.2011. Eine so wilde wie sehenswerte Mischung aus Küchenpsychoanalyse und Horroraffekten ist Darren Aronofskys Schwanensee-Paraphrase "Black Swan". Pia Marais präsentiert in ihrem Zweitling "Im Alter von Ellen" eine von Jeanne Balibar gespielte Figur, die mit sich und der Welt auf verstörende Weise nicht im reinen ist.


Nina Sayers (Natalie Portman) ist Tänzerin am New York City Ballet. Der Choreograph Thomas Leroy (Vincent Cassel) kürt sie zur nächsten Schwanenkönigin, eine Herausforderung, an der sie alsbald zu zerbrechen droht. Im Verlauf der Probenarbeit kommt Nina der jungen Tänzerin Lily (Mila Kunis) näher, und sieht sich mit ihren persönlichen Abgründen konfrontiert.

Natalie Portman wurde bei der diesjährigen Verleihung der Golden Globes als beste Hauptdarstellerin in einem Spielfilm der Kategorie drama ausgezeichnet. "Black Swan" war als beste Produktion derselben Sparte nominiert, unterlag aber gegen David Finchers "The Social Network". Was von einem Preis zu halten ist, dessen Juroren Florian Henckel von Donnersmarcks "The Tourist" als beste - man muss wohl ergänzen: unfreiwillige - Komödie nominiert hatten, sei dahingestellt. Als Fingerzeig in Richtung Oscars dürfen die Gewinner das Ergebnis aber allemal werten.

Nicht, dass sie Zuwendungen nicht verdient hätte. Mit ihrer spätreifen, nur von Disziplin und den Ambitionen der Mutter (Barbara Hershey) zusammengehaltenen Primaballerina gelingt Portman ein durchweg überzeugendes Charakterporträt - auch wenn die Rede von Charakteren in diesem speziellen Fall womöglich daneben greift. Denn das Gör, dem Portman hier zu so überzeugendem Leben verhilft, ist, bei aller Psychologisierung, ein recht eindimensionales Wesen. Dass sich ihr, in Gestalt sinistrer Tagträume, deren erotischer Unterton sich zusehends intensiviert, späterhin eine neue Welt - die ihres libidinösen, unzähmbaren Körpers - eröffnet, macht diese Eindimensionalität zwar im Rückblick als dramaturgisches Kalkül nachvollziehbar. Interessanter wird sie darum aber noch lange nicht.



Ricky Gervais, der diesjährige host der Golden Globes, witzelte in seiner Eröffnungsrede: "It seems like everything this year was three-dimensional. Except the characters in 'The Tourist.'" Denselben Untergriff hätte er sich gegenüber der Protagonistin von "Black Swan" erlauben können. Nur dass der Mangel an Tiefe hier Programm zu sein scheint. Mit anderen Worten: Ninas Seichtigkeit markiert lediglich den Ausgangspunkt für die psychologischen und - wir befinden uns schließlich in einem Film von Darren Aronofsky - inszenatorischen Metamorphosen, die Nina auf ihrem Weg zur Schwanenkönigin durchläuft.

Die gegenläufigen Selbstbilder, zwischen denen Ninas Innerlichkeit zum Zerreißen aufgespannt ist, sind Klischees von Reinheit und Disziplin auf der einen, von Verletzung und Genuss auf der anderen Seite. Noch ihre Klischiertheit mag man, in einem Film, der seine subjektivierenden Verfahren allerorten ausstellt, Ninas analog beschaffener Psyche zurechnen. Auf diese Weise, über den Hinweis auf die kontinuierliche Subjektivierung, lässt sich jede noch so grobschlächtige Figurenzeichnung und jeder noch so abgedroschene Drehbucheinfall an die Erzählung zurückbinden und irgendwie rechtfertigen. Aber warum sollten wir die küchenpsychoanalytisch informierte Welt dieses Mädchens überhaupt teilen wollen?



Nun, einmal weil Aronofsky weiß, was er tut. Ninas leibliche Wahrnehmung und deren Verwandlung vermittelt sich, vor allem in den exquisit gearbeiteten Tanzszenen, in visuellen und akustischen Korrespondenzen, die es - und später: Es - in sich haben. Um den Weg von der harten Disziplinierung, die Nina ihrem Körper zu Beginn zumutet, bis zur schubartigen Emergenz einer verwandelten Körperlichkeit am Ende des Films nachfühlbar zu machen, greift Aronosfky erst zu einer bebenden Handkamera, die an allem das Moment der Anspannung und Anstrengung hervorkehrt, und später - zunächst sehr zurückhaltend, dann aber immer entschiedener - in die Trickkiste. Ohne das fulminante Ende verraten zu wollen: In ihm lassen Nina und der Film gleichzeitig los, überlassen sich beide dem erweiterten Möglichkeitsraum von fließenden Tanz- und Kamerabewegungen gerahmter Spezialeffekte. Zumindest momenthaft entfaltet "Black Swan" dann doch echte, und für Aronofsky erstaunlich unprotzige Meisterschaft.

In den Szenen in der Wohnung von Nina und ihrer Mutter mutet "Black Swan" entschieden retro an, wie ein Film aus einer anderen Zeit. Die Wohnung ist alt und in einigermaßen desolatem Zustand, die Stimmung darin am besten als klaustrophobisch zu beschreiben. Der Kampf, den Nina mit sich und ihrem Körper ficht, führt vor allem hier, an diesem zeitverlorenen, intimen Ort in die Gefilde des Horrorgenres und weckt filmhistorische Erinnerungen an Roman Polanskis "Ekel" (1965) und "Rosemary?s Baby" (1968). Mehr sogar noch an Sidney J. Furies "Entity", einen B-Horrorfilm aus den frühen 1980ern, in dem Barbara Hershey, die in "Black Swan" Ninas Mutter gibt, von einer unsichtbaren Macht verfolgt und mehrfach vergewaltigt wird.

Allen diesen Filmen gemein ist eine weibliche Hauptfigur, die in geschlossenen Räumen an ihrer Körperlichkeit leidet; ein Zustand, den die Filme aus Sicht der Frau, als undeutlich geschiedenes Ineinander von alltäglichen und wahnhaften Episoden, erlebbar machen. In diesen Übereinstimmungen erweist sich "Black Swan" als später Wiedergänger dieser genealogischen Linie.

Nikolaus Perneczky

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Ellen steigt aus. Sie ist eine Frau um die vierzig, Stewardess, gerade hat sie noch die Arme geschwenkt, Notausgang, Bodenbeleuchtung, Sauerstoffmaske, die Kamera beobachtet sie dabei aus der Nähe. Dann sagt sie nichts, hat aber genug, macht die Tür auf, geht mit dem Rollkoffer die Gangway runter, eilt, die Kamera im Genick, übers Flugfeld, ganz eng ist der Blick, man hört Hupen, man sieht oder ahnt den Verkehr der Busse und Transportwagen darum herum. In der nächsten Totalen ist Ellen am Rand des Feldes, allein im struppigen Gelände. Sie ist davon. Im Gespräch, das dann folgt, muss sie erfahren, dass ihr Verhalten unentschuldbar ist. Was sie getrieben hat, weiß man nicht. Zurück ins Leben mit dem Mann, der sie betrügt, zieht es sie nicht. Wohin sie will, ist sehr unklar, auch ihr selbst, muss einem scheinen. Sie lässt sich treiben.

Ellen ist Jeanne Balibar, die in Rivettes "Herzogin von Langeais" die Balzac-Figur so bewunderungswürdig nuanciert zu spielen verstand. Von Pia Marais, der aus Südafrika stammenden Regisseurin, die an der Berliner dffb studiert hat, wird sie in diesem Film an einen fremden Ort und in eine fremde Sprache versetzt: Sie spricht Deutsch mit Akzent, was an keiner Stelle erklärt wird. Sie ringt aber nicht mit der Sprache, es wäre zugleich auch nicht richtig zu sagen, sie eigne sie sich umstandslos an. Es ist eine Durchdringung von Vertrautem und Fremdem, der Effekt eine Künstlichkeit eher als der Charme, den die französische Intonation sonst im Deutschen gern hat. Das Deutsch Jeanne Balibars ist nur eine Fremdheit, die zum sich weitenden Riss passt, der durch die Identität Ellens geht.



Jeannne Balibar spielt Ellen als Frau, die streng ist. Neben und mit ihr wird einem nicht unbedingt warm. Das sieht man den Menschen, die mit ihr zu tun haben, an. Die Kamera ist so oft bei ihr und doch bleibt diese Distanz. Es gelingt Ellen, sich umarmen zu lassen, ohne dass dabei Nähe entsteht. Sie weicht im Herannahen zurück. Pia Marais hat sich fest vorgenommen, diese Frau nicht zu erklären. Sie folgt ihr, die sich treiben lässt. Dass es eine Entschlossenheit geben kann in der Haltlosigkeit, das führt Jeanne Balibar eindrucksvoll vor. Sie lässt geschehen, was geschieht, und wirkt dabei doch nicht verloren. Eine souverän verlorene Beobachterin ihrer selbst und ihres eigenen Schicksals. Eine Figur, immer kurz davor, ein Affront zu sein für die Mitwelt. Im Taxi raucht sie und macht die Zigarette auf die Aufforderung des Fahrers hin auch nicht aus. Er schmeißt sie raus. Sie überlässt sich dem Zufall.

Ein Kleinlaster kommt vorbei. Sie steigt ein, die Verfolgung des Taxis, in dem Ellen ihren Rollkoffer vergessen hat, beginnt. Im Auto eine Gruppe von Tierrechtsaktivisten. Sie haben einen Affen befreit, den bringt Ellen an einen sicheren Ort. Ellen wird und wird nicht Mitglied der Gruppe. Sie verteilt in Stewardessenuniform und mit Tiermaske Handzettel vor dem Fleischkongress, während die anderen nackt protestieren. Die Uniform, die sie lange noch weiter trägt, ist einerseits Festhalten an einer aufgegebenen Identität, also Verweigerung der Realität, andererseits ist sie auch eine Maske: Ellen legt sich, indem sie provisorisch die bleibt, die sie war, nicht auf ihr zukünftiges Ich fest. Das orange-gelbe Tuch um den Hals und der Knoten darin halten die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft von Ellen - je länger, desto mehr mit Gewalt - noch zusammen.



Es gelingt dem Film, einen Blick auf die von Rebecca (Julia Hummer) angeführte Tierrechtstruppe zu werfen, der haargenau der von Ellen sein könnte: Sie macht, Distanz haltend, mit. Sie schlägt sich nicht auf die Seite der Aktivisten. Ihre Haltung ist neutral, aber nicht unklar. Sie ist die passivste Aktivistin der Welt. Sie ist eine Persönlichkeit im Übergang. Ein anderes Tier hat damit zu tun, als Anlass, nicht als Metapher. (Um Metaphern geht es hier nicht). Fast wäre es möglich zu sagen: Ellen hat sich beim unerwarteten Auftauchen dieses Tiers existenzphilosophisch infiziert. Auf einem kleinen Flughafen in Afrika ist ein Gepard auf dem Flugfeld und verhindert den Start. Hier schon hat Ellen kurz mit Tieraktivisten Kontakt. An diesen Ort, zum Geparden, zieht es sie am Ende zurück.

"Im Alter von Ellen" ist ein verstörender, gelegentlich enervierender Film zur großen Frage, wofür man lebt. Die Antwort, eindeutiger formuliert, als der Film sie wahrscheinlich gibt: Indem man sich einsetzt für eine Sache, an die man glaubt, auch im Angesicht ihrer Vergeblichkeit. Am Tisch, im Bildvordergrund sitzt am Rand der Gemeinschaft, deren Teil Ellen nun sein will, ein großer Geier. Er trägt im Film den Namen "Commander", im wirklichen Leben, sagt der Abspann, heißt er Voltaire. "Wir müssen unseren Garten pflegen", heißt es am Schluss von dessen "Candide". Darin liegt eine Ambivalenz, die auch "Im Alter von Ellen" nicht fremd ist.

Ekkehard Knörer

Black Swan. USA 2010 - Regie: Darren Aronofsky - Darsteller: Natalie Portman, Mila Kunis, Vincent Cassel, Barbara Hershey, Winona Ryder, Benjamin Millepied, Ksenia Solo, Kristina Anapau, Janet Montgomery, Sebastian Stan


Im Alter von Ellen. Deutschland 2010 - Regie: Pia Marais - Darsteller: Jeanne Balibar, Stefan Stern, Georg Friedrich, Julia Hummer, Alexander Scheer, Eva Löbau, Clare Mortimer, Ian Roberts, Jasna Bauer, Patrick Bartsch, Benno Lehmann