Im Kino

Doppelte Fluchtbewegung

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster
26.10.2011. In Steven Spielbergs "Die Abenteuer von Tim und Struppi" gibt es Bilder von traumartiger Schönheit, aber keine "ligne claire". In Gary McKendrys "Killer Elite" prügeln sich noch echte Männer mit Bart.


Das Comicheft "Tim und Struppi: Das Geheimnis der 'Einhorn'" entstand 1943, während des zweiten Weltkriegs, unter deutscher Besatzung. Welchen Einfluss dieser Kontext konkret auf den Band gehabt hatte, mögen Tintinologen und Biografen seines Zeichners und Autors Herge untersuchen. Unübersehbar ist auf jeden Fall die selbst für ein Abenteuercomic besonders ausgeprägte eskapistische Anstrengung, die sich in einer doppelten Fluchtbewegung weg von der ohnehin schon nostalgisch gefärbten Gegenwart niederschlägt: in der Raumdimension verschlägt es Tim und seine Mitstreiter - den Hund Struppi, die tumben Polizisten Schulze und Schultze, den ständig fluchenden Kapitän Haddock, die Opernsängerin Bianca Castafiore - in einen romantisierten Seeräuber-Orient. In der Zeitdimension springt die Erzählung zurück ins Mittelalter, an den Beginn einer Feindschaft, die sich bis in die Gegenwart fortsetzt. In der Beschreibung dieser Bewegung ist "Das Geheimnis der 'Einhorn'" nicht nur eine eskapistische Erzählung, sondern gleichzeitig eine Erzählung über den Eskapismus, über dessen Mechanismen und über die Sehnsüchte, die er artikuliert.

Vermutlich ist es kein Zufall, dass sich Steven Spielberg für sein "Die Abenteuer von Tim und Struppi" ausgerechnet diese Vorlage ausgesucht hat (er reichert sie an um Episoden aus zwei ähnlich gelagerten "Tim und Struppi"-Abenteuern derselben Schaffensperiode Herges) und nicht eines der stärker an zeitgeschichtlichen Ereignissen und politischen Diskursen ausgerichteten Hefte aus den dreißiger oder fünfziger Jahren. Eskapismus war, das legt schon der Blick auf die Titel seiner Filmografie nahe, immer schon eine grundlegende Antriebskraft des Spielberg-Kinos; "Die Abenteuer von Tim und Struppi" ist nun, wie vorher mindestens auch "Hook", "Jurassic Park" und zuletzt "Indiana Jones und das Königreich des Kristallschädels" ein Meta-Eskapismusfilm, ein Film, der sein Verlangen, dem Alltag in der Fantasie zu entkommen, in der Handlung selbst verdoppelt.
In einigen Passagen des Films hat die selbstreflexive Tendenz eines solchen Projekts auch eine medienhistorische Dimension: Wo "Jurassic Park" seinerzeit die digitalen Illusionen seiner Spezialeffekte in der Handlung kommentierte, spielt "Die Abenteuer von Tim und Struppi" mit dem Unterschied zwischen den flächigen, simplen Zeichnungen Herges und der zeitgenössischen computerbasierten Technik (die Figuren sind mithilfe von motion capturing animiert, ein realer menschlicher Körper scheint aber nur in wenigen Momenten durch) des Films.

Im schönen Vorspann löst sich der noch gezeichnete Tim von der Comicseite und springt in eine noch in mehrere Richtungen formbare, halb-abstrakte Welt aus Linien mit Eigensinn. Mit dieser Freiheit ist's dann aber schnell vorbei. "Die Abenteuer von Tim und Struppi" spielt in einer detailreichen, bonbonbunten, wohlgeordneten Welt, alles ist digital blitzblank poliert, die gesamte Optik des Films wirkt so heimelig und ein wenig spießig wie die Inneneinrichtung der von einer neugierigen Haushälterin bewachten Wohnung Tims. (Zumindest in der deutschen Synchronfassung hört man dazu durchaus passende, altbackene Formulierungen wie: "Ach du dickes Ei!".) Diese slicken, manchmal fast fotorealistischen Computerbilder sind gerade keine Aktualisierung des minimalistischen, zeichenhaften "ligne claire"-Stils Herges, sondern wirken eher wie ein übereifrig von den letzten Widerständen des Realen bereinigtes Kondensat der Indiana-Jones-Nostalgie: die soziale Wirklichkeit sind wir schon lange los, jetzt geht es auch noch der physikalischen an den Kragen.



Dazu passt, dass kaum jemand weiter von der inneren Zerrissenheit der amerikanischen Superhelden, die das Fantasykino der letzten Jahre prägten, entfernt sein könnte, als der grundgute Reporter Tim. Nicht bändigen lässt sich an ihm, damit spielt auch Spielberg zu Beginn, höchstens die ausdauernd senkrecht stehende Haarlocke auf der Stirn. Es gibt dann natürlich andererseits, als zweiten und viel menschlicheren, zugänglicheren Sympathieträger, Kapitän Haddock ("hunderttausend heulende Höllenhunde"), den heimlichen Star der Serie; ein obszöner, impulsiver Lustmensch, ein wandelnder Anachronismus, dessen offener und enthusiastischer Alkoholismus wiederum für Marvel oder DC untragbar wäre. (Eine Nebenüberlegung: Vielleicht gibt es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den älteren, meist europäischen Abenteuercomics mit ihren horizontal ausdifferenzierten Ensembles flacher Figuren und den neueren, amerikanischen, die alle Differenzen vertikal in die Tiefe ihrer Hauptfigur projizieren.)

Man darf es dem Film durchaus hoch anrechnen, dass er Haddock zwar um ein Haar, am Ende aber doch nicht von seiner Sucht kuriert. Und eine Abenteuergeschichte spannungsreich und dynamisch erzählen kann Spielberg natürlich auch. In den ausgedehnten, oft atemberaubenden Actionsequenzen ist der Film dann auch wieder ganz zeitgenössisch (eine entfesselte Jagd durch einen arabischen Hafenort erinnert an "Das Bourne Ultimatum?); der traumartigen Schönheit einiger wild-romantischen Seeräuber-Bilder kann man sich sowieso nicht entziehen. Spielberg bleibt sich selbst treu, als handwerklich perfektes, weitgehend durchreflexiertes Unterhaltungskino kann man seine Filme auch weiterhin bewundern; nur fühlt sich dieses Mal eben doch alles ein wenig zu steril an.

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Andere Liga, andere Regeln: Wer von den oft zu Tode konzeptionalisierten Blockbustern der Gegenwart genug hat und trotzdem noch an das Kino glaubt, muss keine weiten Wege gehen. Oft genügt es, im Multiplex nicht den größten, sondern einen der kleineren Säle zu betreten, wo sich, inmitten des Genresystems des populären Films, allem Kulturpessimimus zum Trotz, immer noch eine erstaunliche Vielfalt an Erfahrungsformen verbirgt, von der Welthaltigkeit und diskursiven Offenheit zeitgenössischer amerikanischer Komödien bis zu den energisiegeladenen cheap thrills des Horror- und Thrillerkinos.

"Killer Elite", ein neuer B-Actionfilm (ohne Bezug zu Sam Peckinpahs gleichnamigem Thriller aus den Siebzigern) mit dem derzeit vermutlich interessantesten Actionstar Jason Statham, beginnt im Jahr 1980 irgendwo in Mexiko, mit einem Hund, der in die Kamera bellt. Dann tauchen Danny (Statham) und sein Mentor Hunter (Robert de Niro) auf, beide sind professionelle Killer, der Auftrag, auf den sie in Lateinamerika angesetzt sind, geht um ein Haar schief. Zwischen explodierenden Autos und Maschinengewehrsalven, von einer nervösen, sprunghaften Kamera weniger souverän eingefangen, als hilflos registriert, bekommt Statham eine Kugel in die Schulter ab. Danny hat genug und beschließt, sich zur Ruhe zu setzen, was ihm selbstverständlich erst knapp zwei Stunden Erzählzeit und zehn Jahre erzählter Zeit später gegönnt sein wird.

Dass er sich ausgerechnet nach Australien - im Film lange ein grünes, fast außerweltlich anmutendes Paradies, vom dreckigen Rest der Welt scheinbar unbeeindruckt, bevor sich am Ende die ernüchternde Erkenntnis breit macht, dass es in der Welt von "Killer Elite" keine Unschuld geben kann - zurückzieht, hängt vermutlich mit der Finanzierung des Streifens zusammen. So sieht globalisiertes B-Kino aus: "Killer Elite" ist eine australisch-amerikanische Koproduktion über die Folgen britischer Geheimdienstaktivitäten im Oman, zwischendrin gibt es außerdem noch Abstecher nach Paris und in die schottischen Highlands.

Der vom Langfilmdebütanten Gary McKendry inszenierte Film basiert auf Ranulph Fiennes' Roman "The Feather Men", einer wüsten Räuberpistole um einen Scheich, der einen britischen Profikiller (im Film: Hunter) entführt, um einen anderen (Danny) dazu zu bringen, die britischen Agenten, die während des Dafur-Aufstands 1962 - 1975 seinen Sohn umbrachten, zu töten. Im Hintergrund ziehen währenddessen die mysteriösen "Feather Men? die Fäden, bemüht um ihre eigene Interpretation der späten Phase des britischen Kolonialismus. Das Buch sorgte in den frühen neunziger Jahren für einen kleinen Skandal, weil Autor und Verlag behaupteten, es beruhe auf tatsächlichen Begebenheiten. Vor allem einige ungeschickt zurechtgebogene Wendungen gegen Ende lassen dies recht unwahrscheinlich wirken. Tatsächlich vom Leben abgeschaut ist aber der Erzählgestus: anstelle eines runden Plots mit motivischer Stringenz, mit exakt definierten Ursachen und zwangsläufigen Wirkungen, prägt "Killer Elite" ein nur notdürftig vermitteltes Nebeneinander kontingenter Ereignisse: "und dann... und dann... und dann...". Nebenfiguren kommen aus dem Nichts und werden sofort wieder niedergemetzelt, vor allem die nur sehr sporadisch auftauchenden Frauen werden von den vielen kaputten Männern, die den Film bevölkern, schneller fallen gelassen als heiße Kartoffeln.



Finster und stumpf ist die Welt des Films, die bevorzugte - und gleichwohl trotzdem tödliche - Waffe ist die bloße Faust. "Killer Elite" ist, in a nutshell, ein Film, in dem schmutzige, bärtige Männe sich zwei Stunden lang an der Peripherie der Weltgeschichte gegenseitig die Fresse einhauen. Die Inszenierung passt sich dem Sujet an und ist also alles andere als elegant (darin ist "Killer Elite" ein Komplementärwerk zum eleganten, melancholischen "The Mechanic", dem anderen Statham-Auftragskillerstreifen von 2011; gemeinsam formulieren die beiden Filme einen überzeugenden Einwand gegen den dominanten 3D-Multiplex-Bombast). Immer wieder finden sich Momente von großartiger Konsequenz: Wenn zum Beispiel ein Kleinwagenfahrer zur Strecke gebracht werden soll, lässt der Film ihn einfach frontal in einen Laster krachen; allein in dieser Szene steckt mehr rohe Energie als in so ziemlich allen Blockbustern der letzten Monate.

Die Abenteuer von Tim und Struppi - USA / Neuseeland / Belgien 2010 - Originaltitel: The Adventures of Tintin - Regie: Steven Spielberg - Darsteller: (Motion Capture) Jamie Bell, Andy Serkis, Daniel Craig, Simon Pegg, Nick Frost, Cary Elwes, Toby Jones - Länge: 107 min.

Killer Elite - USA / Australien 2011 - Regie: Gary McKendry - Darsteller: Jason Statham, Clive Owen, Robert De Niro, Dominic Purcell, Aden Young, Yvonne Strahovski, Ben Mendelsohn, Adewale Akinnuoye-Agbaje, Firass Dirani - Länge: 110 min.