Im Kino

Immer schon Bild

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Elena Meilicke
12.10.2011. Gus van Sants "Restless" beeindruckt mit Charme und Aufrichtigkeit, auch wenn so manches marktwirksam zurechtgebogen wurde. Abbas Kiarostami bewährt sich mit "Copie Conforme" ein weiteres Mal als Kinobildforscher.

Zweimal zeichnet Enoch (Henry Hopper), mit seinen weichen Gesichtszügen an der Schwelle zwischen Milchgesicht und Erwachsensein, seinem melancholischen Blick und dem zerzausten Haar ein weiterer der typisch gewordenen, leicht androgyn wirkenden Gus-van-Sant-Jugendlichen, zweimal also zeichnet Enoch mit Kreide einen "Leichenumriss", wie man ihn von Unfall- und Tatorten kennt, um sich auf den Boden. Zweimal legt er sich nicht ganz passend hinein, eine Hand bleibt draußen: Ein Lebender, der tot sein will, oder aber ein Toter, der als solcher noch nicht recht fixiert ist? Oder vielleicht auch ein Lebender, der sich wie tot und darin eingesperrt fühlt und mit der Hand nach Hilfe und Nähe eines anderen sucht. Zumindest aber lässt ihn der Tod nicht mehr los: Wie sein filmhistorisches Vorbild Harold aus "Harold und Maude" (1971) pflegt er zu Beerdigungen ein touristisches Verhältnis, wie Harold trifft er dort auf seine Maude, in diesem Fall Annabel (Mia Wasikowska), beide verlieben sich zaghaft ineinander und haben, genau wie ihre Vorbilder, doch keine Zukunft: Annabel hat einen Hirntumor im Endstadium, noch drei Monate sind ihr beschieden, "Harold und Maude" trifft "Love Story".

Dazu gesagt werden muss allerdings, dass die Ähnlichkeiten hier auch schon aufhören: Bleibt "Harold und Maude" schwarze Komödie mit Herz, erzählt "Restless? vor allem davon, wie sich zwischen zwei verschrobenen, traumatisierten - bei einem Unfall hat Enoch seine Eltern verloren - jungen Menschen den Widrigkeiten zum Trotz Nähe entwickelt, obwohl es aussichtslos ist. Nicht, dass es sich um einen reinen Problemfilm handeln würde: Viele morbide, auch etwas todesromantische Episoden - etwa wenn die beiden Annabels Tod theatralisch in Szene setzen, wie das vielleicht Kinder machen würden, wenn sie Filmszenen nachspielen und sich dabei glatt über das Drehbuch in die Haare kriegen - bleiben zumindest in Blickkontakt zur schwarzen Komödie.

Das Zeitlose des Films einerseits, aber auch den Umstand, dass beide in der Zukunft nicht leben können und an der Vergangenheit schwer zu tragen haben, unterstreicht die Gestaltung des Films: Smartphones und iPods, die obligatorische Googlesuche oder anderes Web2.0-Kolorit fehlen, wenn ich mich recht erinnere, völlig, spielen aber zumindest keine (visuelle) Rolle in diesem Film. Stattdessen: Flohmarktkleidung, alte Möbel (Enoch wohnt sogar in einem Tim-Burton-esken Haus) und viele alte ornithologische Bücher, die Annabel regelrecht absorbiert. Der Vorspann des Films zeigt eine herbstliche USA, mit vielen melancholischen Blicken aus Zugfenstern auf alte Brücken und rot schimmernden Bäumen, die Farben wirken entsättigt - wie ein 16mm-Film aus den 70ern vielleicht; die musikalische Untermaltung des Films - darunter viel aus der aktuellen Low-Fi-Kultur des amerikanischen Indiepops - zelebriert ebenfalls das Vergangene, nicht Zeitgemäße. Auch der Film selbst blickt also vor allem zurück.

Dass er sich dabei nicht zur Nostalgieshow verdichtet, gehört zu seinen zentralen Stärken: Enoch und Annabel mögen in einer Welt aus alten Bettgestellen und alten Kaffeetassen leben, ihre Kleidung mag vom Flohmarkt eingesammelt sein, doch wird kein Objekt fetischisiert, zur ebay-Trophäe oder gar zum ironisch gebrochenen Retro-Accessoire erhoben - Enoch und Annabel entäußern sich nicht in diese Dingwelt, sondern leben in und mit ihr. Auch der Film selbst begreift seine eingestreute "70ies-ness" eher als Latenz, vielleicht auch einfach als nützliche Form und nicht als postmodernes Vexierspiel mit dem filmhistorischen Kenntnisstand seines Publikums. Gerade der Vergleich zum schrecklich infantilen "The Future" von Miranda July, dieses Jahr auf der Berlinale zu sehen und demnächst auch im Kino, in dem zwei junge Menschen ebenfalls um ihre Zukunft bangen und sich in eine Vintage-Welt einigeln (und natürlich sieht man beide zuerst vor dem Laptop sitzen), bietet sich da an - "The Future" kann man fast schon als Zombiefilm bezeichnen, so stark sind die Figuren in ihrer Gadget- und Objektwelt absorbiert.


Zwei Seelen wohnen in Gus van Sants Brust: Da ist zum einen der kompromisslose Filmemacher mit stark auteuristischem Projekt, der sich als solcher schon in seinem Debütfilm "Mala Noche" (1986), einem zentralen Werk des amerikanischen Indie-Kinos der 80er Jahre, empfahl. In seiner "Todestrilogie" - "Gerry", "Elephant" und "Last Days" - unterstrich er dies in den letzten Jahren. Daneben steht der gefälligere Gus van Sant, der neben konventionellen, aber meist doch interessanten Arthouse-Filmen ("Milk") auch mal gepflegten, unerträglichen Rotweintrinker-Schmalz abliefert. "Restless" bewegt sich zwischen diesen Polen: Einerseits wirkt der Film mitunter stark demographisch kalkuliert (Produzent: Ron Howard, eine der zentralen bösen Figuren im Hollywood-Circuit), nicht zuletzt durch die musikalische Untermalung, die dann eben doch sehr unverhohlen auf das Publikum von "The Future" zu schielen scheint, zum anderen aber arbeitet Gus van Sant vor allem in den Szenen, in denen Annabel und Enoch ganz dicht bei sich und die Kamera dicht bei ihnen ist, dem entgegen: Die Liebesszene zwischen den beiden etwa ist ungeheuer intim und zärtlich, aber immer zurückhaltend, dezent, lässt den Figuren ihre Privatheit.

So bleibt der Eindruck eines in sich leicht zerrissen wirkenden Films: Wunderbarer Charme und Aufrichtigkeit gegenüber den Figuren in ihrer Lage, auch in den gerade für Enoch wenig schmeichelhaften Szenen, steht neben mancher marktwirksam zurechtgebogener Szene. Man kann sehr vieles sehr mögen in diesem Film, muss dafür aber auch manches übersehen können.

Thomas Groh

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Ein Mann, eine Frau - "Copie Conforme" erzählt die alte Geschichte, aber als erzählerisches Experiment. "Er" (William Shimell, ein Opernsänger in seiner ersten Kinorolle) ist ein englischer Autor, der gerade ein Buch mit dem Titel "Copie Conforme" veröffentlicht hat - es geht darin um Ästhetik, um die Fragwürdigkeit von Kategorien wie Originalität und Authentizität und um den Eigenwert der Kopie. "Sie" (Juliette Binoche) ist Französin, Mutter eines Sohnes und lebt seit fünf Jahren in der Toskana. Die beiden treffen sich bei einer Lesung in Arezzo und verbringen den Nachmittag miteinander. Sie fahren übers Land, lassen sich treiben, reden, trinken Kaffee. "Copie Conforme" beginnt als leicht dahinplänkelndes Konversationsstück in sanfter Hügellandschaft - man denkt an Rohmer, aber ehrlich gesagt auch ein bisschen an "Before Sunrise" -, erfährt dann aber schnell eine gewaltige Abdrift. Der verfeinerte Dialog über Kunst und Leben gerät ins Stocken, die geistvollen Apercus und Repliken bleiben auf der Strecke. Immer wieder unterbricht Handyklingeln das Gespräch und das Hin und Her zwischen Englisch, Französisch und Italienisch produziert Redundanzen. Zwischen und in diesen Störungen zeichnen sich bald tiefer liegende Brüche und Unstimmigkeiten ab: Treffen sich die beiden wirklich zum ersten Mal oder sind sie bereits seit langem verheiratet? Haben sie hier, in genau diesem Hotel, vor 15 Jahren ihre Hochzeitsnacht verbracht? Was wird hier eigentlich gespielt: erster Akt oder Reenactment? Ist das alles Abklatsch, zweiter Aufguss, schlechte Kopie?

Was zu Beginn des Films wie eine hoffnungsfrohe erste Begegnung anmutet, scheint sich mehr und mehr als Wiedersehen und Wiederholung zu entpuppen. "Sie" führt ihn zu Orten einer gemeinsamen Vergangenheit, präsentiert Töne und Aussichten, die an sein Gedächtnis appellieren sollen; "er" erinnert sich an nichts und will einfach nur weg. Handelt "Copie Conforme" also von einer Frau, die verzweifelt eine vergangene Liebe wiederbeleben will? Auch diese Lesart geht nicht restlos auf, weil Kiarostami systematisch Unentscheidbarkeiten produziert und das Geschehen konsequent in der Schwebe hält. Dabei verwandelt sich "Copie Conforme" mehr und mehr in ein Spiegelkabinett: Blankes Autoglas und reflektierende Fensterscheiben holen immer noch eine weitere Ansicht ins Filmbild und setzen es so unter Spannung. Dazu drängen Doppel- und Wiedergänger ins Bild, junge Brautleute überall und uralte Paare, die sich über die Piazza schleppen. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft scheinen in eins zu fallen, aber ob "er" und "sie" sich eben erst kennengelernt haben oder ein altes Ehepaar sind, bleibt offen.


Vielleicht kann man sagen, dass Kiarostamis Film - der die Frage der Kopie auf den verschiedensten Ebenen diskutiert und im deutschen Verleih unter dem Titel "Die Liebesfälscher? läuft - selbst produktive "Bildfälschung" betreibt. Indem "Copie Conforme" einen Mann und eine Frau in zwei durchaus möglichen, jedoch miteinander unvereinbaren Varianten konstelliert, entzieht er den eigenen Bildern die Evidenz. Ein wenig erinnert dieses Verfahren an "Letztes Jahr in Marienbad" von Resnais und Robbe-Grillet; beide Filme sind virtuose Lektionen im filmischen Produzieren von Unentscheidbarkeiten und Verstören chronologisch-linearer Zeitverläufe.

Letztlich ist Kiarostamis Bildfälschung auch Bildforschung - Kinobildforschung. "Copie Conforme" endet mit einem Blick aus dem Fenster, wir sehen angeschnitten die Dächer einer toskanischen Kleinstadt, einen Kirchturm, die Kirchenglocken läuten; der ganze Ausblick wird tiefschwarz gerahmt von der Zimmerwand, die das Fenster umgibt. Als die Schluss-Credits einsetzen, laufen sie nur über das helle Fensterrechteck. Dadurch scheint das ganze Bild plötzlich zu kippen: das Fenster verwandelt sich in einen Schirm, in eine Leinwand, das dunkle Zimmer in einen Kinosaal. Der Blick nach draußen, aus dem Fenster, wird zur Ansicht einer Kinosituation - wie um uns zu erinnern, dass das, was wir im Kino sehen, nicht Fensterblick nach draußen ist, sondern immer schon Bild, Abbild, "Copie Conforme" eben.

Elena Meilicke

Restless - USA / Großbritannien 2011 - Regie: Gus Van Sant - Darsteller: Henry Hopper, Mia Wasikowska, Ryô Kase, Schuyler Fisk, Jane Adams, Lusia Strus, Chin Han, Henry Hopper, Kyle Leatherberry, Victor Morris, Jesse Henderson - Länge: 91 min.

Die Liebesfälscher - Frankreich / Italien / Belgien 2010 -Originaltitel: Copie conforme - Regie: Abbas Kiarostami - Darsteller: Juliette Binoche, William Shimell, Jean-Claude Carriere, Agathe Natanson - Länge: 106 min.