Im Kino

Totale wechselseitige Beobachtung

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
14.12.2011. Komplett aus altem Archivmaterial montiert Göran Olsson den Dokumentarfilm "Black Power Mixtape 1967 - 1975", der die Geschichte der schwarzen Bürgerrechtsbewegung von außen, nämlich von Schweden aus, nacherzählt. Nikolas Wackerbarths "Unten Mitte Kinn" sperrt Schauspielschüler in ein labyrinthartiges Gefängnis namens "Kunsthochschule Ulm".


"Schweden hat das US-feindlichste Fernsehen in Europa", gibt der Herausgeber einer amerikanischen Fernsehzeitschrift vor schwedischen Kameras zu Protokoll. Vorausgegangen war dem ein entsprechend skandalisierender Beitrag in seiner Publikation. Der Filmbeitrag ist historisch, späte 60er Jahre: Wenig später, informiert ein nachträglich eingeblendeter Text, zogen die USA ihre Diplomaten aus Schweden ab - zwar nicht der schwedischen US-Berichterstattung wegen, sondern wegen der harschen Kritik Olof Palmes am Vietnamkrieg.

Das schwierige schwedisch-amerikanische Verhältnis bleibt nicht näher erläuterte Episode in "Black Power Mixtape 1967-1975", ist aber insofern für den Film zentral, als ihn Göran Olsson komplett aus 16mm-Material aus schwedischen Fernseharchiven montiert hat, teils mit Original-Voiceovers schwedischer Reporter. Warum nun ausgerechnet schwedische Auslandskorrespondenten besonders die Black-Power-Bewegung in den Blick genommen zu haben schienen, wieso umgekehrt auch zahlreiche Aktivisten der ersten Stunden, wie manchen Szenen zu entnehmen ist, an schwedischen Universitäten Vorträge hielten, ist dem Film zwar nicht zu entnehmen, bedingt aber dessen leicht eigentümlich anmutende Perspektive: Frei vom Zwang, das Material auf Grundlage eines gesellschaftlichen Kampfs, der auch die eigenen Zuschauer beträfe, zu überformen oder von vornherein darauf zuzuspitzen, bleibt die Haltung des Films gegenüber der späten afro-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung mit ihren Radikalisierungstendenzen und Ausdifferenzierungen auffallend äußerlich, zwar durchaus interessiert zugewendet, aber offenbar ohne Not der Umarmung oder Ablehnung.

Schon deshalb schert "Black Power Mixtape 1967-1975" aus der jüngeren Tradition des emblematisierenden Dokumentarfilms aus, der kulturelle und politische Phänomene der Vergangenheit in Form einer meist heiklen ästhetischen Verdichtung heutigen Sehgewohnheiten mit Livestyle-Verve andient, auch wenn die Versuchung, manche der lose im Film stehenden Materialfragmente mit heutiger, schwarzer Popmusik zu unterlegen, dennoch hier und da Überhand gewann. Immerhin, das Projekt bleibt rein ökonomisch gewiss kontraintuitiv. Das ist tatsächlich soweit konsequent, als keine auf einen nostalgischen Mehrwert angelegte Stimmungsinseln eingebaut wurden, die das übergeordnete politische Geschehen etwa durch Einbindung amerikanischer TV-Aufnahmen oder anderer, aus anderen Zusammenhängen längst bekannter und ikonisch vorsortierter Bilder plus beigemengtem Jimi-Hendrix-Sound unterfüttern würden: Dass Nixon 1969 US-Präsident wurde, verrät eine kleine Texteinblendung am oberen Bildrand, keine aufgeregte Montage-Zäsur.

Dadurch entsteht ein zuweilen dicht an die Protagonisten angeschmiegter, auch ästhetisch erfreulich wenig an Ikonenbildung interessierter Einblick in die zentralen Weggabelungen der "Black Power"-Bewegung: Angefangen 1967 mit Stokely Carmichael, der sich kritisch von Martin Luther King und der Philosophie des Gewaltverzichts abhob. Dann geht es weiter mit der Popularisierung der Bewegung über Sozialarbeiten und Bildungsangebote in den communities und deren Radikalisierung und offen proklamierte Bewaffnung bis zum Prozess gegen Angela Davis, der späteren Diffusion in der Drogenkultur Harlems, dem Separatismus der "Nation of Islam" und dem Projekt einer dediziert schwarzen, aktiven Kulturgeschichtsschreibung, deren prominteste Form der heutige Hip-Hop darstellt. Eine aus heutiger Perspektive reflektierende Ebene stellen zahlreiche Voice-Over-Statements von Harry Belafonte, Sonia Sanchez, Talib Kweli, Erykah Badu und anderen, die sich selbst zum footage in Beziehung setzen, zur Seite.



Die einzige, die sowohl im historischen Material als auch in Form solcher Statements im Film anwesend ist, ist Angela Davis. Nicht nur im Kontrast zwischen junger und alter Stimme, zwischen alter und neuer Aufnahmetechnik ergibt sich hier eine historische Klammer, die etwas über die im Bild nicht konkret werdende, zeitliche "Nabelschnur" zwischen dieser Zeitkapsel und unserer heutigen Gegenwart aussagt: Immer wieder bricht die Stimme der jungen, agitierenden Angela Davis leicht weg, zumal unter Haftbedingungen, und wendet sich rhetorisch ins Empörte, das sich zuweilen auch gegen den schwedischen Interviewer selbst richtet. Ein anderes Fragment zeigt sie als Rednerin, wie sie eine Vision der Zukunft, die Rassismus nur noch in Form einer "Erinnerung an einen Albtraum" kennt, im halbsingenden Tonfall zeichnet, gerade so als würde sie den Erfahrungen der Schwarzen in den USA einen akustischen Resonanzraum eröffnen. Ihre heutigen Kommentare sind, wohl auch schon ihrer zwischenzeitlichen akademischen Karriere wegen, analytisch und einordnend, reflektierend und sprachlich ruhend: Die Zeit des politischen Kampfes ist noch nicht an allen Fronten vorbei, doch ist der auch emotionale Aufruhr längst in die Form eines historischen Wissens überführt worden. Während "Black Power Mixtape 1967-1975" gelegentlich wie der Blick in eine Krypta der Vergangenheit ist, führt mit diesem sachten Kontrast eine wichtige Spur in die Gegenwart.

Thomas Groh

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"Komplett improvisiert" sei "Unten Mitte Kinn", liest man im Presseheft, auf der Filmhomepage und in fast allen bisherigen Rezensionen. Was ist damit gesagt? Was sind eigentlich - der Einfachheit halber nur bezogen aufs Kino - die Vorteile oder auch nur spezifische, im Endresultat sicht- und hörbare Eigenschaften eines improvisierten, anstatt drehbuchgesteuerten Spiels? Dass mit ihr eine "größere Freiheit" für die Schauspieler einhergehe, ist zunächst nur eine Behauptung, die Gefahr läuft, die Komplexität filmischer Produktion unzulässig zu verkürzen, Formeln wie die vom "Verschwimmen der Grenze zwischen Fiktion und Dokumentarischem" ersetzen sowieso keine Beschreibung. Wenn die improvisationsbasierte Schauspielführung ästhetisch interessant ist, dann dort, wo sie nichttrainierbares Verhalten hervorbringt. In "Unten Mitte Kinn" gibt es zum Beispiel Sätze, denen man anhört - oder anzuhören glaubt -, dass sie, wenn sie begonnen werden, noch nicht zu Ende gedacht sind, dass der Sprecher oder die Sprecherin sich also in jedem Moment die Option erhält, auf die Reaktionen anderer, auf sich selbst oder vielleicht auch auf die Eigendynamik von Sprache zu reagieren. Auch kaum simulierbar dürfte sein, wie bei einer Darstellerin einmal, im Zustand erhöhter Agitation, ein ansonsten verdeckter süddeutscher Dialekt durchscheint. Ein Bruch im Sprechen, der auf die biografische Schichtung von Sprache verweist.

In "Unten Mitte Kinn" eignet der Improvisation außerdem ein selbstreflexives Moment. Regisseur und Drehbuchautor Nicolas Wackerbarths Film beschreibt in wenigen langen, sich nicht immer glatt ineinander fügenden Sequenzen die Vorbereitungen der Abschlussklasse einer süddeutschen Schauspielschule vor einem wichtigen Intendantenvorsprechen, das Anstellungen an staatlich subventionierten Bühnen in Augsburg, Bamberg und anderen Kleinstädten mit immer noch verhältnismäßig solider Haushaltslage in Aussicht stellt. Einstudiert werden soll eine stilisierte Variante von Gorkis "Nachtasyl", doch Spannungen zwischen den um ihre berufliche Zukunft besorgten Schülern auf der einen und den Schauspiellehrern Borchert (Fritz Schediwy) und Corinna Trampe (Ursula Werner) auf der anderen Seite drohen den Fortbestand der gesamten Schule zu gefährden. Zwischendrin gibt es noch einige, dem Genre der amerikanischen Teen-Komödien entlehnte Stichel- und Eifersüchteleien zwischen den Kommilitonen, die allerdings etwas verloren und ohne Anschluss im Film herum stehen: kein Darsteller in "Unten Mitte Kinn" wird soweit als Kinofigur individualisiert, als dass man in den erotisch aufgeladenen Spielchen nach Unterrichtsende mehr entdecken könnte, als weitere Talentproben. (Gut möglich, andererseits, dass genau dieser Eindruck ganz im Sinne des Films ist. "Unten Mitte Kinn" wäre dann so etwas wie eine durch Selbstprofessionalisierung verhinderte High-School-Comedy.)



"Unten Mitte Kinn", primär fürs Fernsehen produziert und jetzt einige Monate nach der Erstausstrahlung in den Kinos (beziehungsweise vorläufig nur in einem einzelnen Kino, dem fsk in Berlin) angekommen, ist Wackerbarths Abschlussarbeit an der Berliner Filmhochschule dffb. Die dffb erlebte in den letzten zwei Jahren, nach dem Rückzug des ehemaligen Leiters Hartmut Bitomsky und der vor allem innerhalb der Studentenschaft umstrittenen Berufung des Nachfolgers Jan Schütte Querelen, die der Film im zumindest bis kurz vor Schluss hilflosen Versuch der Abschlussklasse, sich gegen Borchardt (und damit auch gegen den Regietheaterveteran Schediwy) aufzulehnen, zu reflektieren scheint. Ob dies nun Zufall ist oder Intention, das Institutionenporträt, das Wackerbarths Film zeichnet, ist alles andere als optimistisch - und spricht dem Gedanken Hohn, dass sich in der kulturpolitischen Fördermelange Theater-Film-Fernsehen-Kunsthochschule Freiheit, und sei es auch nur eine ästhetische in der Improvisation, artikulieren lassen könnte.

"Unten Mitte Kinn" spielt komplett in den Räumen einer Schauspielschule, die zumindest insoweit fiktiv ist, als dass es zwar eine "Hochschule Ulm" und eine "Kunstschule Ulm", aber keine "Kunsthochschule Ulm" gibt. Das Ambiente, in dem sich die Studenten und Professoren bewegen - Informationsbretter, belagerte Kopierer im engen Flur, Proberäume mit Turnhallenatmosphäre, ein Heizungskeller als Fluchtraum - erscheint gleichwohl ohne Abstriche realistisch und verengt sich zu einem labyrinthartigen Gefängnis, das nur noch für staatlich besoldete Gutachter durchlässig ist. Gleich mehrmals werden, fast demonstrativ, Vorhänge zugezogen, die laut Corinna Trampe "kunstfeindliche Natur" bleibt ausgesperrt. Ein klaustrophobischer Ort, der die Kanäle nach außen streng reguliert und der die, die ihm ausgeliefert sind, dem unbarmherzigen Blickregime der Erkenntnis eher verhindernden als befördernden totalen wechselseitigen Beobachtung aussetzt. Ein Blickregime, in das über die ebenso unbarmherzig beobachtende Kamera auch der Kinozuschauer eingespannt wird.

Lukas Foerster

Black Power Mixtape 1967 - 1975 - Schweden / USA / Deutschland 2011 - Regie: Göran Hugo Olsson - Darsteller (Mitwirkende): Stokely Carmichael, Eldridge Cleaver, Kathleen Cleaver, Bobby Seale, Huey P. Newton, Angela Davis - Länge: 92 min.

Unten Mitte Kinn - Deutschland 2011 - Regie: Nicolas Wackerbarth - Darsteller: Fritz Schediwy, Kathleen Morgeneyer, Anne Müller, Luise Berndt, Grit Paulussen, Ursula Werner, Konstantin Frolov - Länge: 89 Minuten.