Im Kino

Ein Gnadenakt

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
05.01.2012. Vier Filme der "Unknown Pleasures"-Serie im Berliner Kino Babylon: Monte Hellmans Comeback "Road to Nowhere", Sofia Takals Debüt "Green", Frederic Wisemans Bewegungsstudie "Boxing Gym" und Lee Anne Schmitts historiografischer Dokumentarfilm "The Last Buffalo Hunt".
Nächste Woche geht es an dieser Stelle wie gewohnt weiter mit Texten zu aktuellen Filmstarts. Diese Woche jedoch widmet sich unsere Kolumne gleich noch einmal Filmen, die im Tagesprogramm der deutschen Kinos bislang nicht aufgetaucht sind. Zumindest für Berliner Leser sind sie dennoch in unmittelbarer Reichweite: Seit vier Jahren präsentiert die von Hannes Brühwiler (und seit diesem Jahr Andrew Grant) programmierte Filmreihe "Unknown Pleasures" im Berliner Babylon Mitte amerikanisches Independentkino, das diesen Namen verdient - nichts, was auf Oskars und Folgekarrieren im Mainstream spekuliert, sondern kleine, persönliche Arbeiten, oft fast ohne Budget realisiert (und fast durchweg digital gedreht). Wir stellen, stellvertretend für ein breites, facettenreiches Programm, vier Filme vor, jeweils zwei fiktionale und dokumentarische.

LF

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Road to Nowhere



Auf einem Laptop läuft ein Film. Die Kamera nähert sich dem Gerät, dem Bild - und setzt sein eigenes Bild schließlich damit in eins: Filmbild und Film-im-Film-Bild sind ununterscheidbar geworden. Bereits am Ende von "Two-Lane Blacktop", seinem großen, an den Kassen legendär gescheiterten Road movie von 1971, stellte sich Monte Hellman der Frage nach Materialität und Status eines Filmbildes: Im verbrennenden Filmmaterial, das da zum Bild wurde, verbrannte allerdings auch Hellmans Karriere zum Gutteil - eine biografische Straße ins Nichts, danach konnte er kaum mehr Projekte realisieren. "Road to Nowhere" heißt nun sein neuester Spielfilm, sein erster seit 1989.

Der Film-im-Laptop-im-Film ist programmatisch für "Road to Nowhere", in dem ein Film namens "Road to Nowhere" gedreht werden soll, in den wiederum Filmgeschichte - genauer: der Film noir - einfließt. Ein Mord geschieht, eine Frau ist auf der Flucht. Ein Film soll gedreht werden über einen Mord und eine Frau, die auf der Flucht ist. Wo endet, wo beginnt welcher Film? Und in welchem Verhältnis dazu steht wiederum der Containerfilm namens "Road to Nowhere", den wir gerade im Kino sehen?

Viel hat das alles zu tun mit der Digitalisierung des Kinos, die die vormals klar getrennten Sphären von Produktion, Distribution und Rezeption von Film untrennbar miteinander verwischt hat. Hellmans Film selbst ist das beste Beispiel dafür: Gedreht wurde mit der Canon 5D Mark II, einem vergleichsweise kostengünstigen Modell, das eigentlich erst einmal ein digitaler Fotoapparat ist, aber auch ohne weiteres für das Drehen knapp zehnminütiger Einstellungen verwendet werden kann. Ein post-kinematographischer Film, der von Anfang an in der Welt des Digitalen zirkuliert und von dieser Bedingung seiner Möglichkeit unter Rückgriff auf den Film noir, dieses immer schon labyrinthische Subgenre des Kriminalfilms, erzählt. Eigentlich anachronistisch, diesen Film im Kino zu sehen. Empfohlen sei es dennoch von Herzen.

Thomas Groh

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Green



"Green" beginnt mitten in einem Gespräch. Es redet da ein junger Mann über Literatur, über Marcel Proust und über Philip Roth, den er für einen mindestens gleichwertigen Autoren hält. Neben ihm sitzt eine junge Frau, seine Freundin, wie man später erfahren wird. Sie ist anderer Meinung als er, hat aber, darauf weist er am Ende des Gesprächs hin, auch einfach nicht so viele Bücher gelesen. Er, Sebastian, ist ein ziemlich unerträglicher Typ, blasiert, narzisstisch und gleichzeitig völlig unselbstständig, doch man bekommt schnell das Gefühl, dass sie, Genevieve, ihn fast in vollem Umfang verdient hat, so neurotisch und auf ihre Art ebenfalls unselbständig, wie sie ist, so vorbehaltlos, wie sie sich seine Arroganz zur eigenen Haltung macht. Der Film lässt seine Bilder meist lange stehen, wenn er sie einmal gefunden hat. Wenn der Schnitt dann doch kommt, ist er bisweilen ein Gnadenakt, so grundlegend entblößen sich die Figuren in den langen, meist statischen, unnachgiebigen Einstellungen.

Genevieve und Sebastian wohnen eigentlich in New York, der Film begleitet sie aber auf einer ausgedehnten Reise in die Provinz. Was sie dort zu suchen haben, erklärt "Green" nur kursorisch: Sebastian ist ebenfalls Schriftsteller, er möchte für ein Blog etwas über "farming" schreiben, da er aber selbst kein Bauer ist, versucht er, sich in einer Art Crashkurs das Grundwissen selbst anzueignen. Denn: "All my best shit comes from real life." Darum geht es also: Mit der verhuschten Muse an der Seite "echte Erfahrungen" zu machen, die von vornherein schon auf ihre literarische Verwertbarkeit angelegt sind; man ahnt schnell, dass diese Rechnung nicht so ganz aufgehen kann.

Da bräuchte es eigentlich die dritte Person, die auch noch im Spiel ist, gar nicht mehr: Die beiden Bohemiens (Boheme kann auf ihre Art auch harte Arbeit sein, das zeigt der Film zur Genüge) quartieren sich bei Robin ein, einer munter drauflos schwätzenden Provinzlerin, die nicht weiß, was Installationskunst ist, aber dafür Christopher Nolans "Batman Begins" für ein Meisterwerk hält. Die kulturelle Differenz ist jedoch nur ein Ausgangspunkt, der bald keine Rolle mehr spielt; die dritte Person bringt vor allem die Balance durcheinander, drängt mal die eine mal die andere Hälfte des Liebespaars aus dem Bild, bald liegen diverse Nervenenden blank. Es entspinnt sich ein hypnotisch-klaustrophobisches Kammerspiel (hauptsächlich) in freier Natur, angetrieben von düsteren Ambient-Klängen an der Grenze zum Noise und fast rhythmisch wiederkehrenden unscharfen Aufnahmen grünen Blattwerks.

Robin wird von Sofia Takal, der Regisseurin des Films, gleich selbst gespielt. "Green" ist der erste Langfilm Takals, die wie die beiden Hauptdarsteller aus dem Umfeld des Vielfilmers Joe Swanberg (dessen "Silver Bullets" ebenfalls von "Unknown Pleasures" präsentiert wird) kommt. Manches erinnert an die Filme ihres Mentors, zuerst vielleicht die auf den ersten Blick reichlich anstrengenden Hauptfiguren, die unbedingte Selbstbezüglichkeit Sebastians insbesondere. Genevieves Neurosen allerdings, ihr Kontroll- und letzten Endes Ichverlust, weisen in eine andere Richtung, über den oft etwas beschränkten Horizont des Swanberg-Kinos hinaus: "Green" ist im Zentrum keine filmische Nabelschau, sondern das Porträt einer Frau, die ihr von Anfang an nicht besonders sattelfestes Selbst an die Welt verliert. Bei alldem eher eine vielversprechende Filmskizze als ein bis ins Letzte überzeugendes, in sich schlüssiges Werk; aber auf jeden Fall ein Beweis dafür, dass sich das Stöbern an den Rändern des amerikanischen Indiekinos derzeit unbedingt lohnt.

Lukas Foerster

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Boxing Gym



Immer wieder findet die Kamera ihren Weg zu den Füßen der trainierenden Boxer. Die Beinarbeit, lernt man, ist ein zentraler, wenn auch nur buchstäblich stützender Aspekt dieses Sports. Die Boxer erinnern dabei an Tänzer - in einer Gesprächspause zwischen zweien fängt der eine auch tatsächlich an, einen Tanz aufzuführen, an anderer Stelle führt ein Boxer Geschmeidigkeitsübungen vor einem Spiegel auf, die auch eher an den Tanz als an den groben Sport denken lassen, für den manche zuweilen auch mit Vorschlaghammern auf große LKW-Reifen einschlagen.

Zuvor hatte Frederick Wiseman "La Danse" gedreht, einen Dokumentarfilm über die strapaziöse Arbeit des Balletts der Pariser Oper. Für "Boxing Gym" hat er sich nach Austin, Texas, begeben und zeigt - das legt die Rahmung nahe, auch wenn es nicht unbedingt so vonstatten gegangen sein muss - einen Tag in Richard Lords Boxertrainingshalle, die auf ihrer Website mit demonstrativer Bodenständigkeit wirbt: das ist kein Showroom für Yuppies, die so tun als ob, sondern eine echte Trainingshalle - Schweiß, mit Gafferband geflickte Boxsäcke, viel Handwerk und echte Erfahrung. Professionelles Interesse am Sport ist indessen keine Grundvoraussetzung: Viele trainieren rein des Trainings wegen - Frauen, Kinder, Alte, Rechtsanwälte, Profi-Boxer, sogar der Computerspielepionier Richard Garriott, der in den 80ern die Kult-Rollenspielreihe "Ultima" ersann und vor wenigen Jahren als Weltraumtourist der NASA im Orbit schwebte, allesamt schwitzen sie ehrlichen Schweiß.

Paris und Austin, filigraner Tanz dort, proletarische Körperertüchtigung hier - gegensätzlicher geht es eigentlich kaum, dennoch bilden beide Filme eine Art Geschwisterpaar, das durch Wisemans bereits abgedrehten neuen Film, "Crazy Horse", über ein Burlesktheater in Paris, womöglich zum Triptychon ergänzt wird: Seit den 60er Jahren nimmt Wiseman in seinen klar und präzise beobachtenden, sich jede konkrete Einmischung ins Geschehen verweigernden Dokumentarfilmen soziale Institutionen in den Blick, vorrangig jene, in denen Menschen gemaßregelt, erzogen oder konditioniert werden. In "La Danse" und "Boxing Gym" ist es nun die selbstverordnete Körperzurichtung, in die die Menschen sich aus unterschiedlichsten Motiven in auch sozial gedachten Räumen bewegen, die beide dem öffentlichen Blick sehr diskret entzogen werden.

Quer steht das zum Mythos des Boxers, der in "Boxing Gym" als nostalgische Referenz anwesend ist: In alten Plakaten, die die Wände säumen, oft verzweifelten Erinnerungsversuchen an dramatisch angekündigte, heute vergessene Kämpfe, in einem Filmplakat von Robert de Niro aus "Wie ein wilder Stier? und schließlich in einer antiken Boxkampfdarstellung wie zur kulturhistorischen Erdung. Vom triumphalistisch-existenzialistischen Pathos des Boxers als melancholische Ikone fehlt in "Boxing Gym" freilich jede Spur: Wisemans achtundreißigster Beobachtungsfilm zeigt Menschen selten im Faustkampf gegeneinander, dafür aber im Kampf mit sich selbst, mit dem eigenen Körper und schließlich mit dem groben Material, das ihnen in der Boxing Gym entgegen steht.

Thomas Groh

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The Last Buffalo Hunt



Die letzten freilebenden Bisonherden Nordamerikas wurden in Utah angesiedelt, ausgerechnet in einer Gegend, in der die Tiere historisch gar nicht vorkamen. Die Population, deren natürliche und historische Feinde ausgestorben sind, beziehungsweise selbst von den weißen Amerikanern ausgerottet wurden, wird durch Jagd kontrolliert. Die Jäger, vornehmlich alte Männer (sowie eine ganz besonders schwer erträgliche Frau mittleren Alters, die gerne in Utah oder Afrika seltene Tiere abknallt, aber nicht so gerne zeltet und die sonst sehr gerne täglich in die Mall geht) scheinen im Vollzug dieser Jagd vor allem zu versuchen, einem in ihnen selbst verborgenen "amerikanischen Urgeist? auf die Spur zu kommen; freilich sind sie nicht mehr an der Erschließung eines Kontinents beteiligt, sie nehmen lediglich eine Dienstleistung in Anspruch und zahlen dafür. Terry, der Organisator der Jagd, spricht mindestens so viel über den geschäftlichen Aspekt seines Jobs wie über seine Sehnsucht nach Natur und Abenteuer. Besonders gut läuft sein Unternehmen nicht, die Zeichenwüste der Zivilisation - Casinoleuchttafeln, Werbeschilder von Fernsehpfarrern, exotischer Indianer-Kitsch - ist im Film immer nur ein, zwei harte, analytische Schnitte von den vorletzten Jagdgründen entfernt.

Die Filmemacherin Lee Anne Schmitt hatte sich zuletzt mit "California Company Town? auf die Suche nach buchstäblich vom Winde verwehten Spuren der frühen Industrialisierung der amerikanischen Westküste und brutal unterdrückter Arbeitskämpfe gemacht. "The Last Buffalo Hunt" setzt ihr historiografisches Projekt in eindrucksvoller Manier fort. Wieder geht es um eine Spurensuche in der Einöde, um aus der Zeit gefallene Überreste vergangener Kämpfe. Die letzten Buffalojäger sind die Erben einer Expansionsbewegung, die Tierrassen und Volksstämme vernichtet hat. Diese Erben leben nun in einer Art selbstgewähltem Reservat und suchen nach der verlorenen Frontier. Frederick Jackson Turner wird zitiert, der Amerikamythos wird am lebenden Objekt seziert und bis in seine kulturindustriellen Verästelungen verfolgt - das letzte Bild stammt aus Las Vegas. Die Bilder der sterbenden Bisons aber haben einen Eigenwert, der in dem allen nicht aufgeht und auch nicht aufgehen soll.

Lukas Foerster

Road to Nowhere - USA 2010 - Regie: Monte Hellman - Darsteller: Thyg Runyan, Cliff de Young, Dominique Swain, Waylon Payne - Laufzeit: 121 Minuten

Green - USA 2011 - Regie: Sofia Takal - Darsteller: Kate Lyn Sheil, Lawrence Michael Levine, Sofia Takal - Laufzeit: 75 Minuten

Boxing Gym - USA 2010 - Regie: Frederic Wiseman - Laufzeit: 91 Minuten

The Last Buffalo Hunt - USA 2011 - Regie: Lee Anne Schmitt - Laufzeit: 76 Minuten