Im Kino

Sprache zweiter Ordnung

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky
11.01.2012. Das erste Meisterwerk des Jahres: Corneliu Porumboiu untersucht in "Polizeilich, Adjektiv" die linguistischen Grundlagen der modernen rumänischen Gesellschaft. David Finchers "The Girl With the Dragon Tattoo" ist dagegen vor allem die zweite Verfilmung eines besonders zynischen Bestsellers. Hinter der sich möglicherweise ein formradikaler Autorenfilm verbirgt.


Drei Jugendliche stehen auf einem Innenhof und rauchen einen Joint. Die Kamera filmt sie aus einigem Abstand durch einen Drahtzaun hindurch. Die Perspektive erinnert unmittelbar an die eines Beobachters. Doch nach einer Weile verschwinden die Jugendlichen, die Kamera schwenkt zur Seite und der Beobachtende, dessen Blick wir gerade noch zu teilen meinten, tritt ins Bild. Das Filmbild wird zur Beobachtung von Beobachtung, zur Beobachtung zweiter Ordnung. Kippfiguren dieser Art tauchen immer wieder auf in "Police, adjective", dem zweiten Spielfilm des Rumänen Corneliu Porumboiu: die Kamera vermittelt ohne Schnitt zwischen subjektiver und objektiver Perspektive und gleichzeitig wird der Beobachter zum Vermittler zwischen dem technischen, sich ostentativ zurückhaltenden Kamerablick und der dargestellten Welt, dem sozialen Gefüge, das das postkommunistische Rumänien bildet.

Der beobachtete Beobachtende ist Cristi, ein junger Polizist. Einer der drei Jugendlichen ist ein Informant, der Cristi vor einigen Tagen auf ihre Spur gebracht hat, ein anderer das Ziel des Einsatzes. Bei einer Festnahme drohen dem Ziel mehrere Jahre Haft, da in Rumänien nicht nur der Handel, sondern auch der Konsum von Marihuana strafbar ist. Cristi möchte nicht verantwortlich dafür sein, dass das Leben des Jungen wegen ein paar fröhlicher Minuten während der Unterrichtspausen zerstört wird. Gleichzeitig hat er professionellen Ehrgeiz: Die simple Beobachtung reicht ihm nicht aus, er möchte an die Hintermänner, er möchte eine echte Investigation starten. Dafür mobilisiert er im Polizeirevier einige Kollegen, die vor rostigen Metallschränken an altmodischen Computern mit Röhrenmonitoren sitzen - wo sich doch sogar Cristi und seine Frau, eine Lehrerin, mit ihren schäbigen Beamtengehältern einen Flachbildschirm leisten können.

Das sind dann auch schon fast alle Schauplätze und Situationen im Film: Die Beobachtung vor der Schule und vor dem Haus des Verdächtigen, die Versuche, im abgewrackten, aber als Teil eines Verwaltungsapparats gerade noch so funktionalen Polizeirevier eine Ermittlung in Gang zu bringen, zuhause die Gespräche zwischen Cristi und seiner Frau, am Esstisch und vor dem Computer. So minimalistisch Handlungsgerüst wie Kameraarbeit auch sind: In "Police, adjective" geht es um nichts weniger als um das große Ganze. Und zwar auf einer sehr basalen Ebene: der der linguistischen Semantik. Wenn Cristi und sein Vorgesetzter zu Beginn, während einer dienstlichen Unterhaltung, plötzlich auf die Restauration des Golddachs einer Kirche und die Möglichkeit, der Stadt Brasov den Beinamen "Klein-Prag" zu verschaffen, zu sprechen kommen, kann man diese Abschweifung noch als bloßen Realismuseffekt abtun. Vom Ganzen her betrachtet aber wird klar: Es gibt in dem Film kaum etwas wichtigeres als die Frage danach, wie sich Sprache zur Welt verhält, wie mit ihr Dinge und Orte bezeichnet werden und vor allem, welchen Regeln sie folgt, welche Regeln sie vielleicht auch als symbolisches System, das sozialen Systemen zugrundeliegt, aus ihrer eigenen Logik heraus durchsetzt.



Es geht später unter anderem um die poetologischen und semantischen Operationen in einem populären Liebeslied, um "negative, pronominale Adjektive" und schließlich in einer langen, gleichzeitig urkomischen und ernüchternden Sequenz, die an der Stelle auftaucht, an der in anderen Filmen der Showdown steigen würde, um die Erdung von Polizeiarbeit und individuellen Moralvorstellungen in Lexikondefinitionen. Und im erweiterten Sinne geht es darum, dass da, wie schon im ebenfalls umwerfenden Vorgänger "12:08 East of Bucharest", eine Gesellschaft über ihr eigenes, auch zwanzig Jahre nach Ceausescu keineswegs gefestigtes Selbstverständnis nachdenkt. Mit den Mitteln der lakonischen Komödie - und in diesem Fall auch mit denen des Genrekinos - konstruiert Porumboiu Bilder, die jenseits bloß vermittelnder Formen wie der Allegorie das politische Substrat der rumänischen Gesellschaft gewissermaßen direkt in sich einschließen.

"Police, adjective", der vielleicht tatsächlich großartigste der vielen großartigen Filme, die in den letzten Jahren in Rumänien entstanden sind, überschreitet die Logik des Genres Polizeifilm, von dem er seinen Ausgangspunkt nimmt und dessen Spannungsdispositiv er bei aller Überschreitung nicht aufgibt, gleichzeitig in Richtung Konkretion und Abstraktion: Einerseits verzichtet er auf analytische Montage, bildet die "tote Zeit" der Beobachtung ebenso ab wie die Textur der Räume, in denen Polizeiarbeit stattfindet, lässt in den entschleunigten Beschattungsszenen die Figuren in Echtzeit vom Bildhintergrund in den Bildvordergrund passieren, präsentiert schließlich fiktionale Beobachtungsprotokolle und Tafelaufschriften wie Zeitzeugnisse in einem Dokumentarfilm: leinwandfüllend, interessant nicht nur als Zeichenträger für die fortlaufende Handlung, sondern auch als materielle Objekte. Andererseits formuliert er - nicht in der klassischen Dalogform des fiktionalen Kinos, sondern eher als Sprachspiel, als Sprechen über Sprache, als Sprache zweiter Ordnung - die ideologischen (und erkenntnistheoretischen) Voraussetzungen aus, die andere Genrefilme dem Handeln ihrer Protagonisten von Anfang an zugrunde legen.

"Police, adjective" endet - und wer große Angst vor Spoilern hat, sollte hier aufhören, zu lesen - mit einer Zeichung, einem Einsatzplan für einen Zugriff: die drei jungen Kiffer sind, das geht aus ihr hervor, dingfest gemacht, wasserdicht umzingelt, nicht einfach nur von einem Kommando der Polizeistation einer rumänischen Provinzstadt, sondern von den Funktionsmechanismen der modernen Gesellschaft, in die sich Youtubevideos ebenso fügen wie ein kollegiales Fußballtennismatch.

Lukas Foerster

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Panta rhei, alles fließt bei David Fincher, und das gilt - "Verblendung" erbringt den Beweis - auch noch dort, wo die Dinge sich längst verfestigt haben zu den drögen, immergleichen Klischees, die der Plotmaschine von Stieg Larssons gleichnamiger Bestsellervorlage als Triebmittel dienen. Die Geschichte wäre wirklich nicht der Rede wert, käme sie einem nur nicht so unangenehm vertraut vor. Von Altnazis und Inzest und Misogynie will sie handeln, sowie vom Missverhältnis zwischen der properen Fassade des heutigen Schweden und all dem Dunklen, das - im Ernst - dahinter nistet. Wenn überhaupt irgend einmal die Erzeugnisse der Kulturindustrie ihr Millionenpublikum verhöhnt haben, dann in der genau berechneten Zusammenführung und Indienstnahme dieser pseudo-kontroversen Topoi zum Zweck ihrer nachmaligen "Enthüllung", wie der dramaturgische Vektor in seiner ganzen Nacktheit angegeben werden kann. So dumm ist das Buch tatsächlich. So dumm sind auch die beiden Filmversionen, Niels Arden Oplevs vom schwedischen Fernsehen koproduzierter anämischer Möchtegernblockbuster von 2009 genauso wie Finchers amerikanische Wiederaufnahme, die sich zu allem Überdruss in Verlauf wie Bildgebung stark am Vorgänger zu orientieren scheint. Oder hat Fincher die Erstverfilmung gar nicht gesehen und ist unabhängig von ihr zu einem ähnlich anmutenden Ergebnis gelangt? Es wäre nicht verwunderlich: Lässt ein derart in Schematismen aufgehobener Plot überhaupt andere Bilder zu als diese?

Trotzdem: Alles fließt bei Fincher, auch diesmal, gerade diesmal. Fast kann man den Eindruck gewinnen, Fincher interessiere sich überhaupt nicht für den letztklassigen Stoff, sondern einzig fürs handwerklich perfektible Exerzitium, für die Schwünge und Rundungen seiner auktorialen Handschrift. In seinen weniger überzeugenden Momenten ist das Designkino, das über eine genaue Abstimmung von Farben, Formen und Texturen eine Nische zwischen Volvo, Philippe Starck und Nine Inch Nails zu besetzen sucht; visuelles Derivat des lauen Plots, das trügerische Oberflächen evozieren soll. In den besten Momenten von "Verblendung" jedoch geht dieser ganze Tand auf in schier endlosen, (fast) nie kulminierenden Parallelmontagen, die mit so altmodischen Regularien wie jener der Ermittlung, des Suspense, oder auch nur des markierten Szenenübergangs aufräumen und an ihre Stelle einen steten Fluss elliptisch verfügter Mikrobewegungen setzen. Diese Parallelmontage, die "The Girl with the Dragon Tattoo" auch als Ganzes ist, und als die man den Film einzig empfehlen sollte, ist reine Magie, wenngleich auf verlorenem Posten. Auch die an den Rändern verschatteten - und in einer eindrücklichen Szene: weißlich diffundierenden - Bildräume (Kameramann: Jeff Cronenweth, courtesy of RED) hat man so noch nicht gesehen. Es bereitet Schwierigkeiten, die Begrenzungen des Bilds auszumachen, der Bildrand frustriert noch den gezielten Versuch, ihn zu fixieren, dingfest zu machen. Nur hier wird das Verrätselte und Vieldeutige, das die Erzählung so angestrengt behauptet, wirklich schlagend.



Warum hält sich Fincher überhaupt mit diesem banalen Stoff auf, an dem er allem Anschein nach noch nicht einmal besonders interessiert ist? Sollte "Verblendung" sich zuletzt als eine Art formradikaler Autorenfilm herausstellen, der, in Anlehnung an die Lektürepraxis mancher Auteurs, nach dem Ideal eines reinen Films strebt, den es aus der narrativen Umklammerung zu lösen gilt? Die Klammer ist bei Fincher wohlweislich noch da, aber sie ist von einer solchen Belanglosigkeit, dass sie sich gleichsam selbst erübrigt. Dass der Versuch, "Verblendung" ernst zu nehmen, vielleicht sogar zu mögen, auf eine so gespreizte Interpretation angewiesen ist, spricht nicht gerade für den Film.

Schlussbemerkung zum "crotch shot" (Spoiler!): Aus schwedischen Medien verlauten Beschwerden, wonach die Figur der Lisbeth Salander (Rooney Mara) in Finchers Version irgendwie fragiler oder jedenfalls weniger riot-grrrl-mäßig unterwegs sei als sich das gehöre. Tatsächlich hat Fincher den narrativen Unterstrom des rape revenge auf ähnliche Weise feministisch radikalisiert, wie Quentin Tarantino es in seinem meisterlichen "Death Proof" vormachte. Die Apotheose ist bei Fincher noch großartiger: Den Flammentod des frauenmordenden Bösewichts zeigt er uns in einem Close-Up durch Lisbeths Schritt hindurch, dessen Konturen vor der Feuersbrunst im Bildhintergrund aureolisch aufleuchten.

Nikolaus Perneczky

Police, adjective - Rumänien 2009 - Originaltitel: Politist, adjectiv - Regie: Corneliu Porumboiu -Darsteller: Dragos Bucur, Vlad Ivanov, Irina Saulescu, Ion Stoica, Marian Ghenea - Länge: 113 min.

Verblendung - USA 2011 - Originaltitel: The Girl with the Dragon Tattoo - Regie: David Fincher -Darsteller: Daniel Craig, Rooney Mara, Christopher Plummer, Stellan Skarsgard, Steven Berkoff, Robin Wright, Yorick van Wageningen - Länge: 158 min.