Im Kino

Begehren in Schallwellen

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Nikolaus Perneczky
02.05.2012. Céline Sciammas Jugendfilm "Tomboy" lässt das sozial zugewiesene Geschlecht als eigentliche Maske erkennen. Schmetterlingsflatterhaft tanzen Catherine Deneuve, Milos Forman und Paul Schneider in Christophe Honorés Musical-Fantasie "Die Liebenden" von den Sechzigern in die Neunziger.


Michael (Zoé Héran) ist neu in der Stadt. Es ist Sommer, die Schule hat noch nicht begonnen. Michael freundet sich mit einem Haufen Jungs und einem Mädchen, Lisa (Jeanne Disson), an. Man tollt im Wald, spielt Fußball, rauft, schwimmt. Was Jungs in dem Alter - alle sind um 10 herum - eben tun. Lisa mag Michael, Michael mag Lisa, beide küssen sich im Wald, ganz scheu und zaghaft.

Dass Michael Laure heißt, erfährt man vom Film erst später, wenn Laure in der Badewanne mit ihrer kleinen Schwester spielt. Als sie aufsteht und zum Handtuch greift, hat Laure da keinen Penis, wo Michael einen hätte. Später schminkt Lisa Laure, die sie für Michael hält, und meint: "Du würdest ein gutes Mädchen abgeben". Mit kurzen Strubbelhaaren, den weiten Hosen und den vorm Spiegel eingeübten Posen sieht Laure aus wie ein Junge, wie Michael: Die Schminke auf der Fassade lässt das sozial zugewiesene Geschlecht als eigentliche Maske erkennen.



Das Problem besteht in der Bändigung des Körpers: Techniken des Selbst. Noch hat Laure/Michael keine Brüste, wenn es heiß wird, zieht sie beim Fußballspiel sehr selbstverständlich das T-Shirt aus. Dass ihr das Triumph ist, merkt keiner, nur der Zuschauer, der vom Film auch durch dessen ruhigen, beobachtenden Gestus darauf konditioniert wird, die Durchlässigkeiten und Schranken zwischen den Geschlechtern genau im Blick zu haben. Beim sommerlichen Planschen im See steckt sich Laure ein langes Stück Knet in die Badehose: Am Abend wandert es in die Dose mit ihren gesammelten Milchzähnen als wäre es ein Abschied von einer biografischen Phase: Im nächsten Sommer, darf man mutmaßen, dürfte die Charade in der Entblößung vor aller Augen schon wegen den dann wahrscheinlich wachsenden Brüste nicht mehr gelingen. Auch der näherrückende Schulbeginn stellt ein Problem dar: Einmal fragt Lisa Laure, warum auf der Liste mit den Schülern im kommenden Jahrgang kein Michael zu finden ist. Wer du bist, setzt auch im Fall fluktuierender Selbstverortungen immer noch dein Datensatz bei den Behörden fest.

Mit ihrem rasant geschriebenen, schnell und spontan umgesetzten Film macht Regisseurin Céline Sciamma zwar sehr vieles nicht falsch. Wohl sehr bewusst fehlt dem politisch voll unterstützenswerten Plädoyer für durchlässig selbstbestimmbare Geschlechteridentitäten jeder agitatorische Ton. Auch ist es gut, dass die Thematik weder mit Subkultur kokettiert, noch das große Melodrama oder den großkatastrophischen Affekt zur Zuschauermobilisierung im Sinn hat. Kitsch bleibt aus, die Form entspricht der Mode des spröden, an den Rändern zur Welt hin offenen europäischen Autorenfilms, sehr gut ist die schauspielerische Leistung von Zoé Héran. Trotzdem bleibt ein Rest schaler Geschmack zurück: "Tomboy" hakt vielleicht eine Spur zu strebsam alle Tagesordnungspunkte ab und entspricht ohne viel Federlesens allem, was man heutzutage auch ohne viel Mühen an Gender-Awareness mitbringen kann. Schnell wirkt das wie bloße Gesinnungsillustration, auch wenn sie auf der guten Seite erfolgt.

Andererseits liegt die Subversion vielleicht gerade darin, einen kleinen, scheuen Sommer-Liebesfilm unter Demnächst-Pubertierenden gedreht zu haben, ohne dessen leicht prekäre Gender-Ausgangslage von vornherein nur unter Aspekten von "Aufklärung" oder "Gesellschaftskritik" unters Sozio-Mikroskop gerückt zu haben. Gerade auch, da die totale Subsumierung solcher Empfindungslagen und Identitätspräferenzen unter diese Gesichtspunkte eben auch nur ein fremdbestimmtes und falsches Leben im falschen bedeutet.

Thomas Groh

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Es wird Streit geben, ob Christophe Honorés "Die Liebenden" ein formloser Film im Freistil ist oder ein unförmiger Film ohne Stil. Einen besonders guten Stand hatte der französische Regisseur bei der Kritik ja nie, die Wetten stehen eher gegen ihn. Dabei vermag das Schmetterlingsflatterhafte von Honorés episch sich ausbreitender, aber nie episch anmutender Erzählung, die von 1964 nach 1978 und von dort nach 1997 und 2001 springt (in Orten: von Paris nach Prag nach London nach Montreal), als Annäherung an die erratische Interpunktion des Lebens durchaus zu überzeugen. Ein Großteil der zwei Generationen umspannenden Geschichte hält sich im Intimen auf, dieses jedoch nicht privat(iv) und hetero gefasst, sondern als eine Art fließender Äther zwischen den Figuren, der in zahllosen Musicaleinlagen beinahe greifbar wird. Anstatt einer geraden Linie zu folgen, breitet sich das Begehren in Schallwellen aus.

Der Cast und das Casting von "Les bien-aimés" können sich sehen lassen: Ludivine Sagnier verwandelt sich im Alter, mit einem Schnitt, in Catherine Deneuve, ihr (tschechischer) Ehemann in einen nonchalanten Milos Forman. Als beider Tochter tritt Deneuves wirkliche Tochter Chiara Mastroianni auf, und als deren Liebhaber Louis Garrel sowie - tatsächlich - Paul Schneider, der aus dem ganz anders gearteten amerikanischen Erzähluniversum David Gordon Greens in Honorés globalisierte Musical-Fantasie hineinragt, als unerwartet verletzliche, in ihrer beiläufigen Tragik kaum zu ertragende Figur. Alle (außer Forman) singen.

Zweimal brechen Ereignisse von historischer Tragweite in den ansonsten in sich gekehrten Reigen ein: sowjetische Panzer rollen durch Prag, zwei Flugzeuge kollidieren mit den New Yorker Twin Towers. Beide Male wird der Einbruch des Realen in ein Lied eingesponnen, die Panzer und Flugzeuge verschaffen sich Eintritt in die klanglich vermittelte Gefühlswelt der Figuren, werden im doppelten Wortsinn instrumentell: Man weiß nicht, was man von diesem Manöver halten soll.



Auf gut begründete Weise formlos oder unökonomisch ist die Erzählbewegung von "Die Liebenden"; nicht anders als unförmig kann demgegenüber der binnenhistorische Stilbruch im Übergang von den langen Sechzigerjahren zur allzu nahen, kaum bewältigten Vergangenheit der Jahrtausendwende beschrieben werden. Wo letztere in ihren Sounds und Texturen eine erstaunliche Vielgestaltigkeit entwickelt, stellt Honoré die Swinging sixties auf eine Handvoll Klischees fest, unentschlossen ins Halbironische eines sehr französischen Sexismus - in Dior-Pumps und Primärfarben - überspitzt.

In keinem Moment hat man das Gefühl, dass der Film weiß, wo es hingeht. Längere Durststrecken schmiegen sich an dichter gefügte Passagen, durchstoßen von dann doch recht seltenen Momenten, in denen alle Parameter dieser Konstruktion gewissermaßen epiphanisch, vielleicht durch den Sog von Anikas hypnotischem Coversong "I go to sleep" angezogen, zusammenkommen. Mitunter kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese paar Glückstreffer sich weniger einer künstlerischen Absicht als der schieren Länge von 139 Minuten verdanken.

Nikolaus Perneczky

Tomboy - Frankreich 2011 - Regie: Céline Sciamma -Darsteller: Zoé Héran, Malonn Lévana, Jeanne Disson, Sophie Cattani, Mathieu Demy, Yohan Vero, Noah Vero, Cheyenne Lainé, Rayan Boubekri, Christel Baras, Valérie Roucher - FSK: ab 6 - Länge: 84 min.

Die Liebenden - Frankreich / Großbritannien / Tschechien 2011 - Originaltitel: Les Bien-Aimés - Regie:Christophe Honoré - Darsteller: Catherine Deneuve, Ludivine Sagnier, Chiara Mastroianni, Louis Garrel, Milos Forman, Paul Schneider - Länge: 139 min.