Im Kino

Herrensport Autorenfilm

Die Filmkolumne. Von Maximilian Linz, Jochen Werner
29.08.2012. In Leos Carax' großem Stretchlimousinen-Film "Holy Motors" flackern die Geister des Kinos aus der Leinwand und selbst der Tod ist nichts Endgültiges. Rudolf Thome schöpft in "Ins Blaue" aus dem Vollen des cinéphilen Kino-Erbes und schickt Alice Dwyer und Vadim Glowna auf eine Italien-Reise.


"Who were we / When we were who we were?" singt Kylie Minogue einmal mit den Worten des großen Songwriters Neil Hannon, spät in "Holy Motors", dem in fast dreißig Jahren erst fünften Kinofilm von Leos Carax. In den dreizehn Jahren nach dem kontroversen, genialischen "Pola X" hat Carax lediglich drei Beiträge zu Kurzfilmanthologien sowie drei Musikvideos veröffentlicht; nun wurde "Holy Motors" scheinbar aus dem Nichts zum meistdiskutierten, umstrittensten und heißestgeliebten Film im diesjährigen Wettbewerb von Cannes - und nahm am Ende doch keinen Preis mit nach Hause. Ob das tatsächlich so überraschend war, sei dahingestellt - ein Konsensfilm ist "Holy Motors" sicherlich nicht -, schade ist es in jedem Fall, ist er doch zum Bersten vollgestopft mit Poesie, Phantasie, Melancholie, Magie und überhaupt: ganz großen Kino-Momenten.

Oberstes Prinzip seiner Struktur sind die zahllosen, meist völlig unberechenbaren Wechsel von Tempo, Stil und Modus: zusammenzubringen, was nicht (oder vielleicht eher: was nur im Kino) zusammengehört. Plötzlich, von einem Moment, einem Schritt auf den anderen, wird "Holy Motors" in der einleitend beschriebenen Episode mit Popstar Kylie Minogue eine großartige Sequenz lang zum Musical - und zwar, das ist das Schönste daran, mit großer Selbstverständlichkeit und vollkommen unironisch. Carax sucht und findet zwar immer wieder Bilder von einer Absurdität, die neben Poesie und Prägnanz auch Komik birgt, aber er gibt nie dem Drang nach, bloße parodistische Zerrbilder zu inszenieren.



Dabei lädt die episodische Dramaturgie von "Holy Motors" im Grunde dazu ein: wenn diese dem Schauspieler Monsieur Oscar (Denis Lavant) folgt, der in einer Stretchlimousine - ganz nebenher ist dies auch noch neben David Cronenbergs "Cosmopolis" der zweite große Stretchlimousinen-Film des Kinojahres - einen Tag und eine Nacht lang durch Paris chauffiert wird und immer wieder für kurze Augenblicke geschminkt, maskiert und kostümiert in die Leben anderer Menschen schlüpft, so begünstigt diese Erzählweise, die ganze Biografien in kurzen, vereinzelten Bildern verdichtet, einen Hang zum Überzeichneten, Plakativen.

Tatsächlich ist das Spektrum der Figuren, die Oscar verkörpert, nicht nur breit, sondern schlägt auch weit in die Extreme und die Stereotype des Generischen aus. Manchmal steht am Ende einer Episode auch ein Tod: mehr als einmal wird Oscar töten, mehr als einmal wird er selbst sterben. Aber der Tod ist in der Sphäre, die "Holy Motors" durchmisst, nichts Endgültiges: er ist eine unter den zahlreichen Rollen, die man zu spielen hat. Le tueur, le tué und le mourant: der Mörder, der Ermordete und der Sterbende zählen zu den elf Credits, die Denis Lavants Rollen in "Holy Motors" auflisten. Aber das ist, in Anlehnung an Roland Barthes' Überlegungen zur Fotografie, eben auch die Magie des Kinos: wer auf der Leinwand zu sehen ist, ist bereits tot und wird sterben.



Und was ist eigentlich mit dem Publikum? Ist noch irgendwer im Kinosaal, ist noch irgendwer am Leben, oder spielen die Schatten dort auf der Leinwand nur noch für sich selbst oder für die Phantome? "Holy Motors" ist vielleicht in erster Linie - darauf deutet nicht nur der Name von Monsieur Oscar hin - ein Film über das Kino, und er beginnt mit einem gespenstischen Prolog. Leos Carax selbst spielt da einen Mann, der - frei nach Kafka - eine bis dato unbemerkte Tür in seiner Wohnung entdeckt, die ihn zum Rang eines Kinosaals führt. Von der Leinwand flackern die elektrischen Schatten, und das Kino ist voll besetzt, aber keiner der Zuschauer gibt ein Lebenszeichen von sich. Sind die Geister des Kinos, wie beim japanischen Medienapokalyptiker Kiyoshi Kurosawa, durch die Leinwand hindurch in unsere Welt eingedrungen und haben uns selbst in den Schatten gezogen? Und was ist dann noch auf der Leinwand zu sehen? Wird der Film jemals zu Ende sein, und für wen wird er gespielt?

Die "heiligen Motoren" des Titels, das sind nicht nur die der Limousinen, von denen wir nun endlich wissen, wo sie - man denke noch einmal an "Cosmopolis" - ihre Nächte verbringen. Diese Motoren treiben auch die Filmprojektoren an und die Kameras, die einmal so groß und schwer waren und nun immer kleiner, versteckter, unsichtbarer werden. Wenn jedes Leben vor den Linsen der allgegenwärtigen Kameras gelebt wird, ist es dann überhaupt noch ein Leben - oder nicht vielmehr eine Episode in einem allumfassenden, nie mehr endenden Film? Und wenn das so wäre - wäre diese Auflösung der Wirklichkeit in den Begriffen des Kinos dann Alptraum oder Paradies?

Jochen Werner

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Unter vielen drögen Erotomanien im allmählich zum Herrensport regredierenden Geschäft namens Autorenfilm - kein Film von einer Regisseurin im Wettbewerb von Cannes, 2 aus 28 in der Kurzfilmreihe "Pardi di Domani" in Locarno - ist der Film "Ins Blaue" ein eher schillernder Fall. Er handelt von den Dreharbeiten zu einem Film, den die Tochter eines Filmemachers jenseits der Siebzig unter seiner Aufsicht und mit seinem Budget in Italien dreht. Gleich in der ersten Einstellung ist zu sehen, wer von diesen, wie den meisten anderen deutschen Dreharbeiten am meisten profitiert: die Autovermietung. Hier werden die Avis-Fahrzeuge immerhin an die Küsten der Adria bewegt, statt lediglich die Berliner Innenstadt zuzuparken.

Alice Dwyer gibt den Regie-Nachwuchs, Vadim Glowna den Filmvater. Das Spiel mit dem Film-im-Film, des Films der Tochter im Film des Vaters, funktioniert solange, bis der Vater aus Geldmangel im Film der Tochter selbst eine Rolle übernehmen muss - im Bett. Als es hier ernst wird, ist der Dreh gelaufen und der Film vorbei. Rudolf Thome insistiert auf seiner Film-Form, die sich für realistische Repräsentationen von Konflikten nicht interessiert und immer "nur" Kino bedeutet; eine bestimmte Idee von Kino, die sich auch für die im Realen (zumindest des Diskurses) konfligierenden Aspekte ihrer eigenen Repräsentationspolitik nicht zu interessieren scheint.

Drei Freundinnen fahren mit dem VW-Bus in den Urlaub. Tief im Süden haben sie eine Panne. Ein Mönch mit attraktivem Haupthaar, der Deutsch spricht und vor seiner Einkehr ins Kloster praktischer Weise Automechaniker war, kommt wie gerufen. Er meldet sich bei seinem Orden ab und man beginnt eine ménage-à-quatre. Ähnlich halbseiden ließen sich auch die anderen Episoden des Films zusammenfassen. Dass "Ins Blaue" trotzdem schöner und besser aussieht als das allermeiste, was hier gegenwärtig im Kino vorkommt, liegt am sozusagen klassizistischen Verständnis der Inszenierung für die Mittel des Kinematografischen. Thome und die Bildgestalterin Bernadette Paaßen schöpfen nach wie vor aus dem Vollen des cinéphilen Kino-Erbes, wenn wie bei Howard Hawks immer mehrere Figuren im Bild sprechend handeln, natürliches Licht an sogenannten Original-Schauplätzen sogar die Pixel der RED-Kamera neo-realistisch auratisiert, der Schnitt (Béatrice Babin) die Zeit entmächtigt. Man wird von keiner Psychologie genervt, nicht von überflüssigen Großaufnahmen terrorisiert und bleibt von jeder neo-biedermeierlichen Moralität verschont. Dass aber alle Weiblichkeit, die in diesem Film vorkommt, ob Tochter/Assistentin/Schauspielerin, als Bettgefährtin markiert wird, ist ein konstanter ennui.



Was sagen denn die Cahiers du cinéma dazu? Sie widmen sich in ihrer aktuellen Sommerloch-Ausgabe dem "érotisme". Aufschlussreich ist im Hinblick auf "Ins Blaue" vor allem ein historischer Abriss der Beziehung der Zeitschrift selbst zum Thema. Er erklärt die entfesselte Erotomanie der Gründungszeit bis 1968 aus einem Impuls gegen das bürgerlich-klerikale Kino-der-Qualität. Der Mai 68, gewöhnlich mit einer Sexualisierung der Öffentlichkeit assoziiert, habe dann in den Cahiers zu einer entschiedenen Kritik der Erotik als Spektakel geführt. Diese wiederum sei Anfang der achtziger Jahre unter der Chefredaktion Pascal Bonitzers verworfen worden; und die "érotomanie des premiers temps" habe sich über die letzten 30 Jahre mit der Entdeckung neuer erotischer Kino-Territorien in Asien immer wieder erneuern können. Es ist, als ob das Begehren, den Zauber des Anfangs der "politique des auteurs" auf Unendlich zu stellen, dazu führen würde, in jedem neuen Film nur nach der Realisierung ausgeträumter Träume zu suchen, Asien zu kolonisieren, um das patriachale Subjekt des "Filmautors" aufrecht zu erhalten. Betreibt man also Ursachenforschung in filmkulturellen Hintergrund - und Thome ist erklärtermaßen Teil der Kolonne des europäischen Autorenfilms - wird deutlich, wie sehr seine Filmografie die immer auch im Medium der Filmkritik vollzogenen Auseinandersetzungen spiegelt, vom 68er-Hit "Rote Sonne", über den Triumph der Liebe über die Politik in "Berlin Chamissoplatz" Anfang der Achtziger bis zur gegenwärtigen Begeisterung für die Filme des koreanischen Regisseurs Hong Sang-Soo, die auf "Ins Blaue" abgefärbt hat.

In einer Paraphrase von Rosselinis "Reise in Italien" stehen die "Ins Blaue"-Freundinnen mit ihrem süßen Mönch in einer seltsam gedrängten Einstellung an einer der berühmten Ausgrabungstätten in Pompei, die Lava hat hier angeblich vor zweitausend Jahren zwei drapiert wirkende Liebende überrascht. Eine der Freundinnen sagt: "Ich will das nicht sehen. Mir ist das unheimlich. Ich fürchte mich vor der Ewigkeit". Doch diese Furcht ist unbegründet. Am Ende sitzt das Team des Tochter-Films im Delphi-Filmpalast in Berlin-Charlottenburg. Das "Ins Blaue" des doppelt abwesenden Vaters Glowna/Thome wird hier nicht gezeigt werden. Diese Zeiten sind vorbei bzw. es hat sie nie gegeben. Das Bedauern darüber muss eine neue politique ins Leben rufen.

Maximilian Linz

Holy Motors - Frankreich / Deutschland 2012 - Regie: Leos Carax - Darsteller: Denis Lavant, Edith Scob, Kylie Minogue, Eva Mendes, Elise Lhomeau, Michel Piccoli, Jeanne Disson, Geoffrey Carey, Nastya Golubeva Carax - Länge: 115 min.

Ins Blaue - Deutschland 2011 - Regie: Rudolf Thome - Darsteller: Vadim Glowna, Alice Dwyer, Esther Zimmering, Janina Rudenska, Elisabeth-Marie Leistikow, Henning Vogt, Stefan Rudolf, Christian Althoff - Länge: 105 min.