Im Kino

Neue Dimensionen des Body Horror

Die Filmkolumne. Von Elena Meilicke, Nikolaus Perneczky
15.08.2012. In Steven Soderberghs Multiplex-Meisterwerk "Magic Mike" üben sich ikonisch zerknautschte Darsteller wie Matthew McConaughey in der disziplinierten Ganzkörpertechnik des Striptease. Psycho- oder Horrorfilm? Lynne Ramsay findet in "We Need to Talk About Kevin" über einen kleinen Jungen, der zum Attentäter wird, Bilder voller Drastik, verstrickt sich aber auch in Widersprüche.


Mike (Channing Tatum) hat zwei, drei oder vier Jobs; einen tagsüber am Bau, einige mehr offscreen, als Gelegenheitsbuchhalter für diverse Kleinstunternehmen, und einen weiteren wenn es Abend wird, als Stripper "Magic Mike" in einem nicht allzu schmierigen, nicht allzu glamourösen Stripclub irgendwo in Tampa, Florida. Chef des "Exquisite" - französisch ausgesprochen - ist der alternde Cowboy Dallas (Matthew McConaughey), die ausschließlich männlichen Stripper tragen sprechende Bühnennamen wie Tarzan, Big Dick Richie, Ken oder Tito. Mike selbst versteht sich als Entrepreneur, das hart verdiente Geld spart er für eine ewig aufgeschobene Zukunft als Designer von "custom furniture" zusammen.

Der Plot von "Magic Mike", in dem es um den Neuankömmling Adam (Alex Pettyfer), den Mike unter seine Fittiche nimmt und eine sich anbahnende Romanze mit dessen Schwester Brooke (Cody Horn) geht, entfaltet sich wie nebenher oder, besser noch, wie mittendrin: Man hält sich zuvorderst in dieser besonderen Welt auf und ist erst in zweiter Linie damit beschäftigt, irgendwelchen Handlungen darin zu folgen. Ungleich Paul Verhoevens "Showgirls" (1995), einem naheliegenden Referenzfilm, in dem Drama und kritische Absicht sich auf die Vorgänge onstage verlagern, genießt die Bühne in "Magic Mike" ein erstaunliches Maß an Autonomie. Wenn Channing Tatum sich zu Ginuwines "Pony" elegant aus seiner Oberbekleidung windet, während die Frau seines Herzens zusieht, dann reduziert Soderbergh diesen Vorgang weder zur Funktion des meet cute, noch auch zielt er auf den ästhetischen Exzess, der das Reich der narrativen Notwendigkeit in utopischer Richtung überschreiten würde. Und obwohl "Magic Mike" ein ausgeprägtes, quasi-materialistisches Interesse an der Mühsal der Lohnarbeit hat, so verfängt dieses doch eher an Nachbildern der bereits getanen Arbeit - vom Schweißtrocknen, Glattpressen und Zählen kleiner Banknoten - als am Bühnengeschehen selbst.



Soderberghs Kamera verhält sich zu den Tanznummern so, dass sich die libidinöse Entfesselung, von der das Kreischen aus den Rängen kündet, auch dem nur mittelbar beteiligten Kinozuschauer ungeschmälert mitteilt. Dies allerdings ohne uns darüber auch nur für einen Augenblick vergessen zu lassen, dass die von Magic Mike und seinen Kollegen freigesetzten Energien zugleich gebunden sind in der disziplinierten Ganzkörpertechnik des Striptease. Es ist ein analytischer Blick, der die Choreografien in ihre Bestandteile zerlegt und auch den illusionären Bühenraum von der Hinterbühne aus aufhebt; der aber trotzdem empfänglich bleibt für die spezifischen Reize und Überreizungen des richtig verstandenen Spektakels: Aufklärung ohne Entzauberung.

Die Erzählzeit zwischen den Auftritten ist zum Bersten gefüllt mit kleinen, minimal auffälligen Manierismen und Bildeinfällen. Hier scheint Soderbergh seine Kritiker am ehesten zu bestätigen: er sei einer, der allen Regeln der Kunst angestrengt und streberhaft Folge leistet, ohne je etwas zu wagen oder über die Stränge zu schlagen. Dennoch hat man hier nicht das Gefühl, einer aseptischen Genre-Fingerübung beizuwohnen. Der flow stimmt, die durch die Bank grandiosen, auf verknautsche Weise ikonischen Darsteller sowieso, und obwohl übers reine Genrekino hinausreichende gesellschaftsdiagnostische Ambitionen immer wieder ihr smartes Haupt recken, versteht es Soderbergh, die Allegorie der spätamerikanischen Arbeiterklasse, die "Magic Mike" auch ist, auf denkbar unaufdringliche Weise auszuspielen.

Ideologiekritiker werden es sich nicht nehmen lassen, den wertkonservativen Fluchtlinien des Films - vom Ideal des selbstständigen Handwerks bis zur finalen Paarbildung - bis an ihr biederes Ende zu folgen. Aber man darf sich nicht täuschen: Auch wenn Magic Mike (die Figur) den Traum vom Small-Business-America gegen die Wirklichkeit anträumt, so ist Anständigkeit für "Magic Mike" (den Film) doch keine Frage der Wertschöpfung. Zwar gibt es Seitenhiebe gegen den Finanzsektor (Mike zu einer Bankangestellten, die ihm keinen Kredit geben will: "I'm distressed? I read the news. YOU'RE distressed"), aber die Kleinunternehmer, zu denen der Lohnarbeiter Mike aufschließen will, kommen alle noch schlechter weg. Auch aus den moralisierenden Untertönen in der Darstellung des party- und also drogenaffinen Lebensstils der Stripper kann man dem Film keinen Strick drehen, weil sich die Kamera allem, was in dieser Nachtwelt passiert, mit der gleichen Aufmerksamkeit und dem gleichen Respekt nähert. Ein Multiplex-Meisterwerk.

Nikolas Perneczky

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Tzaktzaktzak - ein ganz zartes Geräusch, es erinnert ein wenig an eine leise tickende Uhr, ist aber schneller und feiner. Als versprengter Wahrnehmungsfetzen schwebt dieses Geräusch über den Bildern von "We need to talk about Kevin", ein frei flottierendes Soundobjekt (filmwissenschaftlich: ein akusmatisches Wesen), das den ganzen Film hindurch immer wieder auf- und abtaucht. Spät erst bekommt das Geräusch seine Ursache, der Ton sein Bild, der Plot sein traumatisches Zentrum. Deakusmatisierung deluxe: Tzaktzaktzak, ein Rasensprenger, der sattgrünen Vorstadt-Rasen benetzt, darauf - sorgfältig arrangiert und kunstvoll niedergestreckt - zwei schöne Leichen mit blumenartigen Blutwunden im Oberkörper. Was ist hier passiert?
 
"We need to talk about Kevin" beginnt als Muttermythen zersetzendes Psychodrama: ihrem Sohn Kevin gegenüber ist Eva (Tilda Swinton) eine Mutter ganz ohne Mutterliebe. Weil man so etwas im Kino nicht oft zu sehen bekommt, verschlagwortet man es schnell als feministischen Tabubruch und ist fasziniert: wie Eva verzweifelt versucht, ihren kreischenden Säugling zu beruhigen, dabei total verkrampft und sich das Kind mit gestreckten Armen vom Leibe hält. Mutterinstinkt scheint nicht angeboren zu sein. Erleichterung verschafft erst das Dröhnen eines Vorschlaghammers, der Kevins unablässiges Geschrei übertönt. Aber dann wird aus dem nicht geliebten Kind eine Bestie, ein Amokläufer, und Evas Leben wird endgültig Passionsgeschichte: leiden, bespuckt und bestraft werden. Was ist das jetzt für eine Message? Kindergarten-Diskussion der CSU? Schicksalsjahre einer Rabenmutter? Egal. Vielleicht lieber keine Message suchen. Einfach nur Bilder anschauen.

Die sind zunehmend in Rot getunkt, alles markiert und gezeichnet: Evas Gesicht, Evas Haus, Evas Auto. In seinem Symbolgehalt wäre das ziemlich platt (Blut, Schuld, Schande); viel mehr als um diesen aber geht er hier um die Texturen des Rots, um seine Materialität, Dinglichkeit und Dringlichkeit. Eva, die Monstermutter, wird Opfer von Farbbeutelattacken, sie tut und macht, sie schrubbt und scheuert, aber es hilft nicht: Zäh klebt die rote Farbe an der Fensterscheibe, lässt sich nicht wegwischen, beharrt und insistiert. Kann einen aus der Fassung bringen, dieses schmierige Zeugs, das den Blick verstellt. Immer wieder findet Regisseurin Lynne Ramsay Bilder, die in die Magengrube gehen, Bilder voller Drastik und Deutlichkeit; erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch die Parade ekliger Partialobjekte (Scheiße, Kotze, mit Eiter getränkte Wattestäbchen und abgebissene Fingernägel), mit der Ramsey dem Genre "Body Horror" neues Leben einhaucht.
 


Dennoch: irgendwie geht "We need to talk about Kevin" nicht auf und das liegt an der Figur von Kevin. Der nämlich, so suggeriert der Film, ist gar nicht unbedingt ein vernachlässigtes Kind, sondern eher das absolut Böse an und für sich. An dieser Stelle verlässt der Film seine Psycho- und Trauma-Logik, die Ebene der Immanenz, und wechselt in die transzendente Logik des Horrorfilms, in der auch das Übersinnliche seinen Platz hat. Es ist, als wären da zwei unterschiedliche Filme ineinander gewuchtet und verkeilt, inkommensurabel und monströs. Auf der einen Seite treibt der Film unablässig die Psychodeutungsmaschine an - mehrmals werden die Gesichter von Mutter und Sohn bedeutungsschwanger überblendet, sowieso sehen sich die beiden (dunkelhaarig, gertenschlank und androgyn) zum Verwechseln ähnlich. Alter egos also? Ist das Rasensprenger-Tableau nichts als Wunscherfüllung? Agiert Kevin aus, was Eva insgeheim will: das Vorstadtleben, die Familie verwüsten? Auf der anderen Seiten aber lässt die lapidare Setzung von Kevin als dem Bösen per se alle diese Deutungen im Sand verlaufen. Kevin treibt einen Keil in die Psycho-Logik, die den Film eigentlich am laufen hält; nicht nur seine Mutter bringt er an den Rand des Irrsinns, sondern in einem Akt von Selbstdemontage auch den Film selbst. Das ist nicht uninteressant, aber verwirrend.

Elena Meilicke


Außerdem läuft der DDR-Skaterfilm "This Ain't California" an - hier unsere Berlinale-Kritik.

Magic Mike - USA 2012 - Regie: Steven Soderbergh -Darsteller: Channing Tatum, Alex Pettyfer, Matthew McConaughey, Olivia Munn, Joe Mangianello, Matt Bomer, Cody Horn, Riley Keogh, Mircea Monroe, Wendi McLendon-Covey, Kevin Nash - Länge:110 min.

We Need to Talk About Kevin - Großbritannien 2011 - Regie: Lynne Ramsay - Darsteller: Tilda Swinton, John C. Reilly, Ezra Miller, Jasper Newell, Rock Duer, Ashley Gerasimovich, Siobhan Fallon Hogan, Alex Manette - Länge: 110 min.