Im Kino

Solidargemeinschaft im Kleinen

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
19.09.2012. Wer hätte das gedacht: Michael Hanekes "Liebe" ist ein sanfter Film über die letzten Dinge, frei von Weisungen und Urteilen. Paul W.S. Andersons "Resident Evil: Retribution" ist Legobaukastenkino im besten Sinne.


Mit einem gehörigen Schlag reißt einen Michael Haneke aus der sanften Vorspannkontemplation, aus dem samtschwarzen Grund. Mit einem Schlag direkt ins Gesicht: Da brechen Feuerwehrleute mit einem Rammbock die Tür einer Wohnung auf, Stoßrichtung: Kinopublikum. Ein Schlag, mit dem das gehobene Bildungsbürgertum, das man wenige Einstellungen später in der Totalen aus einer Bühnenperspektive sieht (fast, als würde man in einen gewaltigen Spiegel schauen), nicht rechnen muss: Dieses sitzt beim geschmackvoll-gediegenen Klavierkonzert, wo Grenzüberschreitungen wider das Publikum kaum zu erwarten sind.

Vielleicht liegt in dieser Engführung von Aggression gegen den Zuschauer und einer entspannten Zuschauersituation so etwas wie Ironie, vielleicht sogar Spott: Im europäischen Autorenfilm steht Michael Haneke wie kein zweiter mit seinem Namen fast synonym für autoritäre Publikumsverachtung; Haneke gilt als Regisseur, der seine Filme offen als (in ihrem pädagogischen Moralismus oft unerträgliche) Zumutungen, als "Schlag ins Gesicht" konzipiert. Das mit dem "Schlag ins Gesicht" hakt "Liebe" im ersten Bild ab, mit dem Publikum in der Totalen versichert Haneke: "Und nun kannst Du zuschauen." "Liebe" ist demgemäß ein hochkonzentrierter, sorgsamer KINO-Film, der seinem Publikum (einen) Raum zum Schauen und Verarbeiten des Gesehenen gestattet.

Im Zentrum von "Amour" stehen die betagten, dem gehobenen Bildungsbürgertum entstammenden Eheleute Anne (Emmanuelle Riva) und Georges (Jean-Louis Trintignant). Beide sind hochmusisch veranlagte, emeritierte Musikkoryphäen: Er Professor, sie Lehrerin - ihr Wohnzimmer wirkt fast wie ein Salon des 19. Jahrhunderts, wären da nicht Schallplatten, CDs und eine Musikanlage. Abends diskutiert man Zeitungsartikel und Literatur: Routine des schon lange aufeinander Eingestellt-Seins. Als Anne eines Morgens am Frühstückstisch einen irritierenden Aussetzer hat, beginnt für sie ein langes, auch körperliches Hinabdämmern in die Altersdemenz, das Georges nach (seinerseits bereits geschwächten) Kräften zu stützen sucht.

Mit gutem Grund fehlt im Originaltitel das "L'", das die Liebe zur Sache rauschhafter Schwärmerei erklären würde - "Amour", in seiner Schlichtheit und Unspezifität verweist dies auf die Beiläufigkeit, die Essenz der Liebe als Haltung zum Lebensmenschen jenseits aller großen romantischen Gesten, als freiwillig auf sich genommene Bürde einer Solidargemeinschaft im Kleinen, um den anderen da zu stützen (und in einer bewegenden Szene: sich schützend vor diesen zu stellen), wo dieser nicht mehr kann. Wäre "L'Amour" der Beginn einer womöglich nur kurz, dafür heiß und innig flackernden Liebesgeschichte, so zeigt "Amour" die Liebesgeschichte als Lebensgeschichte von den letzten Dingen her.



Haneke beobachtet die Geschichte eines Verfalls und des verzweifelten Ankämpfens dagegen minutiös, ohne Pomp. Seine Bilder sind zuweilen unangenehm, doch auch da, wo sie vor dem alten Körper die Augen nicht verschließen, nicht voyeuristisch (wer die Realitäten der Altenpflege kennt, weiß, wie wenig Haneke im Grunde zeigt). Emmanuelle Riva erweist sich als leise Meisterin ihrer Kunst, wenn sich ihr Spiel allmählich aufs rein Körperliche beschränkt, ohne sich zu entblößen.

"Liebe" ist, dem Thema angemessen, von Weisungen und Urteilen des Regisseurs auf ungewohnte Weise frei - auch darin liegt das Gelingen des Films begründet. Es ist ein exakter, sehr präziser Film, insbesondere auch, was die Rauminszenierung betrifft: Behutsam, Schritt für Schritt, ertastet Darius Khondjis Kamera im Laufe des Films die Wohnung der Eheleute. Pure Cine-Kartografie: Ist die Rammbock-Situation zu Beginn (die freilich in der Chronologie der Geschehnisse deren Ende darstellt) noch ein orientierungsloser freier Sprung ins kalte Wasser, steht ganz am Ende ein völlig klarer Überblick über die Gegebenheiten (dass manche Räume weiter sind, als man lange annimmt, gehört zu den Überraschungen, mit denen der Film sehr bewusst arbeitet).

Dazwischen gibt es sanfte Miniaturen: Einmal versucht Georges - dabei von Trintignant unwerfend mit dem instinktiven körperlichen Wissen einer langen Schauspielkarriere verkörpert - eine Taube im fast quadratischen Flur einzufangen. Die Kamera ruht dabei lange und unbewegt auf ihm, eine Perspektive, aus der man nicht gelassen wird. Eine gegenüber dem Publikum vielleicht typische Haneke-Strategie, doch gegenüber seiner Figur eine sanfte Haltung: Nichts soll diesen Mann bei seinen altersbedingt leicht ungelenken Manövern stören. Diesen sanften Haneke, der seine Stoffe nicht unentwegt ins Korsett seiner eigenen Überzeugungen zwängt, wünscht man sich nach diesem großartigen Film für die Zukunft häufiger.

Thomas Groh

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Alice (Milla Jovovich) steht in der eindrucksvollen Eröffnungssequenz mit erhobenen Armen, in jeder Hand eine Pistole, auf einem Kriegsschiff und feuert auf angreifende Bösewichter. Die Pose kennt man inzwischen, sie steht fast schon emblematisch für die "Resident Evil"-Serie, in der Alice sich seit nunmehr fünf Filmen gegen die übermächtige Umbrella Corporation und eine Zombie-Epidemie zur Wehr setzt (das ist auch schon alles, was es über die narrative Ebene der Filme zu sagen gibt). Aber genau so hat man die Pose trotzdem noch nicht gesehen: Die gesamte Szene läuft rückwärts ab, genauer gesagt in einer umgekehrten Zeitlupe, die Hubschrauberscheiben, die Alice zu Bruch geschossen hat, setzen sich wieder zusammen, die Patronenhülse gleiten in die Waffe zurück. Am Ende dieser Sequenz, die etwas von einer high-def-Videoinstallation hat und wie weite Teile des nachfolgenden Films von treibenden Elektrobeats (tomandandy) unterfüttert wird, ist "Resident Evil: Retribution" wieder genau bei dem Bild angekommen, mit dem der Vorgänger "Resident Evil: Afterlife" geendet hatte.

Paul W.S. Anderson, Produzent aller und Regisseur der besten drei Filme der Serie, verfügt über die "Resident Evil"-Welt, wie ein Kind über seine Legosammlung verfügt: alles, was zusammengebaut wird, kann wieder auseinandergenommen werden. Alles, was auseinander genommen wird, kann wieder zusammengebaut werden. Entweder ein wenig anders, oder, wie in diesem Spezialfall, auf die exakt gleiche Art und Weise. Die "Resident Evil"-Welt gehorcht offensichtlich nicht einer übergeordneten Dramaturgie, sondern unterliegt einem seriellen Prinzip, das lediglich von der Prägnanz einiger besonders prägnanter Legobausteine zusammengehalten wird: In erster Linie natürlich von Milla Jovovich, außerdem von einigen comicartig designten Bossgegnern und von einer Handvoll ihrer Mitstreiter - beziehungsweise vor allem: Mitstreiterinnen; "Resident Evil" ist, zumindest bezogen auf den amerikanischen und europäischen Markt, das einzige ganz unbedingt weiblich dominierte Actionfranchise - und zwar mit jedem Film mehr. In der visuell-dramaturgischen Hierarchie von "RE: Retribution" kommt der erste Mann vielleicht an fünfter oder sechster Stelle.



Zurück zur Legosammlung: Paul W.S. Anderson geht in seinen Filmen nicht von Erzählbögen aus, auch nicht von einer fiktionalen Welt und deren Mythologie, sondern von in einem gewissen Sinne sehr konkreten Räumen; nicht von natürlichen Räumen, sondern von synthetischen, modularisierten, von Anfang an auf bestimmte Effekte hin konstruierten, die eine Tendenz dazu haben, sich gegenüber ihrem Außen zu verriegeln und die sich dafür nach Innen ausdifferenzieren. "Death Race" (2008) zum Beispiel spielt in einer futuristischen Gefängnisanlage, in der deren Insassen brutale Autorennen veranstalten. In den "Resident Evil"-Filmen sperrt Anderson seine Protagonisten mit Vorliebe in Gebäude ein, die von allen Seiten von Zombies umstellt sind. "RE: Retribution" geht in dieser Hinsicht noch weiter als andere Anderson-Filme: mit Ausnahme von Prolog und Epilog spielt der gesamte Film in und über einem unterirdischen Komplex, der der Umbrella Corporation gleichzeitig als Militärbasis und Versuchslabor dient.

Dieser Komplex hat es in sich: Zu weiten Teilen besteht er aus großflächigen Versuchslaboren, in denen reale Orte - Moskau, New York, Tokyo und "suburb", letzteres ist das größte Labor und Schauplatz einer sehr effektiven Szene früh im Film - nachgebaut werden, in denen simulierte Zombieattacken mehr oder weniger mechanisch ablaufen. Außerdem stellt Umbrella industriemäßig Klone her, die passernderweise die Gesichtszüge von Figuren tragen, die der Filmserie eigentlich schon längst abhanden gekommen waren. So taucht unter anderem (und gleich in zwei unterschiedlichen Rollen) Michelle Rodriguez wieder auf, eine der wenigen Schauspielerinnen, die sich ähnlich konsequent wie Jovovich dem traditionell und leider noch immer weitgehend männlichen dominierten Actiongenre verschrieben haben.



In den Händen der meisten anderen Regisseure wäre aus so einem Stoff bestenfalls eine amüsante Reflexion aufs eigene Genre (nominell basieren die "Resident Evil"-Filme auf einer Videospielserie) und schlimmstenfalls postmoderner Bilderschrott geworden. Paul W.S. Anderson aber nimmt die quasi-architektonische Anordnung ernst; sein völlig ironiefreier (aber auch denkbar unpathetischer) Film begnügt sich damit, einen fiktionalen Raum und dessen auf Kopie und Illusionsbildung basierende Funktionslogik in einen mehrdimensionalen Hindernisparkour zu übersetzen. Immer wieder zeigt der Film als digitales Raster an, wo genau sich welche Person gerade befindet. Diese exakte Platzierung kann einstehen für einen selten gewordenen Genrefilmerethos. Der den Film bis in die einzelnen Action-Sequenzen durchwirkt: Wo amerikanische Blockbuster neueren Produktionsdatums Hektik mit Dynamik verwechseln, orientiert sich Anderson am analytischen asiatischen Bewegungskino. In "RE: Retribution" kann man, wie in einem guten Kung-Fu-Film, stets Einstellung für Einstellung, Bewegung für Bewegung nachvollziehen, wie Alice die zahllosen Monster, die ihr entgegengeworfen werden, ausschaltet. (Lediglich die 3D-Technik ist, muss man leider dazu sagen, abgesehen vom Vorspann, nicht mehr ganz so spektakulär wie in "RE: Afterlife").

Paul W.S. Anderson ist ein unzeitgemäßer Regisseur, der versteckt, inmitten des ansonsten immer amorpher werdenden Franchise-Fantasy-Spektakelkinos, eine eigensinnige Autorenposition verfolgt, die innerhalb der Filmkritik nur sehr langsam den einen oder anderen Anhänger findet; ein Regisseur, der sich nicht dafür schämt, Genrefilme zu machen, die sich selbst genug sind und die in ästhetischer Hinsicht den Materialschlachten der Konkurrenz fast diametral entgegen stehen. Falls sich das bisher zu steril-technokratisch angehört hat: "RE: Retribution" ist neben allem anderen ein sinnlicher Film, der zwischen funktionalen, schamlos klischeebehafteten Dialogen immer wieder genuine Erregungsbilder fabriziert: Hände, die sich verzweifelt durchs Badezimmerfenster nach außen strecken, dem Zuschauer und der Freiheit entgegen; oder Jovovichs orgiastisches Zucken in dem Moment, in dem sie dem letzten überlebenden Zombie den Gnadenschuss verpasst.

Lukas Foerster

Liebe - Frankreich / Österreich / Deutschland 2012 - Originaltitel: Amour - Regie: Michael Haneke - Darsteller: Jean-Louis Trintignant, Emanuelle Riva, Isabelle Huppert, Alexandre Tharaud, William Shimell, Ramón Agirre, Rita Blanco - Länge: 126 min.

Resident Evil: Retribution - Deutschland / USA 2012 - Regie: Paul W.S. Anderson - Darsteller: Milla Jovovich, Michelle Rodriguez, Kevin Durand, Sienna Guillory, Shawn Roberts, Colin Salmon, Johann Urb, Boris Kodjoe, Li Bing Bing, Mika Nakashima - Länge: 95 min.