Im Kino

Sehr österreichische Zustände

Die Filmkolumne. Von Nikolaus Perneczky
07.11.2012. Dem Gemauschel wider die Geschmacksdiktatur des Festivaldirektors Hans Hurch zum Trotz gab es auch auf der diesjährigen Viennale wieder viel zu entdecken. Unter anderem neue Filme von Hong Sang-soo, Wang Bing, Soi Cheang und Olivier Assayas - sowie Klassiker des sowjetischen und des portugiesischen Kinos.

Es liegt viel Unmut in der Wiener Luft, über die andauernde "Geschmacksdiktatur" (Wolfgang Ainberger) des langjährigen Viennale-Direktors Hans Hurch. Am Ende der kürzlich bis 2016 verlängerten Vertragslaufzeit wird Hurch dem Festival fast zwanzig Jahre vorgestanden haben, bereits jetzt ist er schon halb so lange im Amt wie ich auf der Welt. Der Geschmack des absoluten Herrschers, der aus seinen despotischen Überzeugungen übrigens nie ein Geheimnis gemacht hat, ist zu gleichen Teilen informiert wie borniert, weltoffen wie eigenbrötlerisch, in einer dialektal gefärbten Dialektik, wie man sie nur hier in Wien Jahr für Jahr hinbekommt oder, will man den sich mehrenden kritischen Stimmen Glauben schenken, hinbekommen hat. Ausgerechnet heuer, zum 50. Jubiläum der Viennale, soll das Hurch'sche Erfolgsprinzip sich nämlich selbst verraten haben, im undialektischen Festhalten am amerikanischen Independent-Kino lange über dessen Haltbarkeit hinaus etwa, oder in der allzu kanonischen Viennale-Retro im Österreichischen Filmmuseum, die in diesem Jahr dem Werk des gebürtigen Wieners Fritz Lang gewidmet ist. Dass die Viennale - so wie Wien als Ganzes - immer auch ein wenig um die eigenen Begehrlichkeiten kreist, ist die Kehrseite von Hurchs selbstherrlicher Arbeitsweise. Aber hat sich die einst bewegliche Geschmacksdiktatur inzwischen wirklich so tief in den eigenen Routinen verschliffen, dass nun alles zur Selbstperpetuierung drängt? Oder leidet, wer sich über eine große Fritz-Lang-Retro (zumal bei fantastischer Kopienlage) beschwert, nicht doch eher an Luxusproblemen?

Ganz unberechtigt sind die Vorwürfe sicher nicht. Dass sie sich gerade jetzt entladen, hat aber mindestens so viel mit Hurchs nicht enden wollender Amtszeit zu tun wie mit der vermeintlichen Selbstbezüglichkeit des Viennale-Kosmos: Was zu lange währt, wird endlich schal. Dass viele Wiener sich jetzt schon dem Jahre Null einer neuen Zeitrechnung - "n. H.H." - entgegensehnen, liegt auch an dem eklatanten Mangel öffentlich vorgetragener Kritik an diesen sehr österreichischen Zuständen. Medienpartnerschaften, in die fast der gesamte österreichische Qualitätsjournalismus eingelassen ist und die relative Überschaubarkeit der einheimischen Filmszene, in der jeder mit jedem verschwistert oder doch zumindest bekannt ist, verleiten zu allseitiger Vorsicht. Notwendige Kritik kehrt in der Schwundform eines überall vernehmlichen Gemauschels wieder, das aus dem Dunkel der Kinosäle dringt. Und wenn sich dann doch einmal jemand zu Wort meldet, wie es der ehemalige Viennale-Kodirektor Wolfgang Ainberger letzte Woche im Standard getan hat, fallen zwar viele polemische Stichworte ab (die ich in meinen Festivalbericht einflechten kann), aber kaum ein stichhaltiges Argument gegen Hurchs Programmarbeit.


Freilich gab es auch auf der diesjährigen "Hurchiade" (wieder Ainberger) in allen Sektionen viel Großartiges zu entdecken. Bei den Spielfilmen lief "In Another Country", der neue Film von Hong Sang-soo (dem übrigens gerade eine große Retrospektive im Berliner Arsenal gewidmet ist). Darin gibt Isabelle Huppert eine "foreign woman", die den koreanischen Männern in einer am Meer gelegenen Feriensiedlung den Kopf verdreht. Eigentlich sind es gleich drei Versionen dieser aparten Ausländerin, mit denen Huppert hier jongliert. Und als ob der Hong'schen Wirrungen noch nicht genug wären, sind sie alle drei zudem als - konkurrierende, koexistierende, korrelierende - Imaginationen einer jungen koreanischen Drehbuchautorin gekennzeichnet, die viel lieber woanders wäre als an dem langweiligen Ferienort außerhalb der Saison. Wie immer ist es eine Freude dabei zuzusehen, wie Hong einzelne Szenen von an sich glasklarer Einfachheit zu einem hochkomplexen, durch Differenz und Wiederholung strukturierten Gefüge verbindet, in dem manifeste und virtuelle Inhalte sich verwirren: Ein Regenschirm, der in einer Geschichte irgendwo abgestellt wurde, kann in einer anderen - und es muss nicht die zeitlich nächste sein - wieder aufgehoben werden. Bestechend an "In Another Country" ist auch, wie gut die saisonale Lingua franca des Urlaubsenglischen sich mit der für Hong üblichen Dialoglastigkeit verträgt: Nuancen und Subtilitäten der sozialen Interaktion gehen ein Stück weit verloren, zugunsten einer nahezu buddhistischen Bescheidenheit: "You are beautiful." - "Thank you. You are beautiful, too."


Ein Höhepunkt des Dokumentarfilmsegments war Wang Bings "Three Sisters", ein Dokumentarfilm über drei Mädchen, die in einem Bergdorf in der südwestchinesischen Provinz Yunnan leben. Da ihr Vater als saisonaler Wanderarbeiter meist außer Haus ist, sind sie oft auf sich selbst gestellt. Wang Bing überlässt sich dieser aus Not sehr eigenen Welt in gewohnt langen Einstellungen, denen es um ein ungerichtetes Mitsein, eine mehr oder weniger voraussetzungslose Teilhabe zu tun ist - obwohl die rotstaubige Wildnis, in der die drei Schwestern hausen, unmöglich mit unseren Vorstellungen von Häuslichkeit vereinbar ist. Mehr als in Wangs bisherigen Beobachtungsfilmen ("Crude Oil", "West of the Tracks"), die sich vor allem auf einen unbewegten Kamerastandpunkt zurückzogen und dem nackten Geschehen unbedingte Priorität gegenüber seinem Verstehen einräumten, legt "Three Sisters" nicht nur seine narrativen Koordinaten frühzeitig offen, sondern etabliert in Ansätzen einen illusionären Erzählraum. Als der Vater einmal zuhause ist, erklärt er sich und seine Lebensumstände so konzis spielfilmgerecht, dass man eine gemeinschaftliche Konfabulation von Filmemacher und Figuren am Werke wähnt. Umso überwältigender die langen, ungeschnittenen Einstellungssequenzen, in denen alle Erklärungen wieder verstummen.

Soi Cheangs "Motorway" wurde als der bessere "Drive" angekündigt und in diesem Zeichen dem Spätvorstellungspublikum im gut besuchten Gartenbaukino zum Fraß vorgeworfen. Besonders vielsagend ist der Vergleich nicht, denn wo Nicolas Winding Refns abgebrühtes Eighties-Pastiche auf große Affekte hinauswill, ist an "Motorway" alles stromlinienförmige Effizienz. Nur nicht zu viel erzählen und vor allem: alles weglassen, was sich nicht durch und über die Liebe zum Automobil erzählen lässt, scheint sich Soi Cheang diesmal auf die Fahnen geschrieben zu haben, in deutlichem Kontrast zum erzähltechnischen Hyperraffinement seines Meisterwerks "Accident" von 2009. Man kann ihm zu dieser Entscheidung nur gratulieren: So überzeugendes, auf ein Substrat an vor allem äußerlicher Bewegung (die nur momentweise in innere sich übersetzt) reduziertes Genrekino habe ich schon lange nicht mehr gesehen.


In Interviews hat Olivier Assayas mehrfach darauf bestanden, dass "Après mai", sein semiautobiografischer Ausstattungsfilm zum melancholischen Ausklingen des Mai 68 in einer Jugend der Siebzigerjahre, aus seiner anhaltenden Faszination für historische Materialien und Texturen hervorgegangen sei. Während der Dreharbeiten zu seinem letzten Film "Carlos", der denselben Zeitraum aus einer anderen Perspektive erschließt, seien ihm die Geschichtlichkeit erheischenden sets und props so sehr ans Herz gewachsen, dass er sich länger in dieser gefallenen Welt aufhalten wollte. Es ist "Après mai" in jeder Einstellung anzusehen, dass er von solchen Äußerlichkeiten her konstruiert ist, die Überraschung ist vielleicht, dass ihm seine Herkunft aus der Kostümabteilung gar nicht einmal so schlecht bekommt. Während die historisch akkurat angezogenen Figuren in ihren Wünschen und Zielen weitgehend undurchdringlich bleiben - das geringfügig Unterspielte ihrer Darstellung ließe sich auf die Formel eines Bressonianismus light bringen -, folgt die rastlose Erzählung einer expansiven Bewegung, deren polare Endpunkte Kabul beziehungsweise London sind. In einer späten Szene, die am Set einer B-Filmproduktion der Londoner Ealing Studios spielt, scheint für einen Moment die Selbsterkenntnis aufzublitzen, dass Assayas' meisterliche Mise-en-scène nicht die Komplizität mit dem Spektakel scheut, für das seine Figuren nur Abscheu übrig haben. In der Schlusseinstellung fällt das ganze Kartenhaus dann aber doch zu der zweidimensional-ideologiekritischen Pointe zusammen, die "Après mai" vermutlich von Anfang an war.


Wie in jedem Jahr waren die intensivsten Viennale-Erlebnisse auch diesmal an den liebevoll kuratierten Nebenschauplätzen abzuholen. Das Special "Wien-Moskau" galt den Exilwienern Artur Berger und Gerbert (im Russischen gibt es kein "H") Rappaport, die beide 1936 in die Sowjetunion emigrierten, um dort als Filmarchitekt beziehungsweise Regisseur zu arbeiten. Gesehen habe ich leider nur Boris Barnets "Annuška" (1959), für den Berger die überaus signifikante Ausstattung besorgt hat. Der ganze Film trägt sich nämlich vor dem Hintergrund sowjetischen Sozialbaus zu; das aber mit einer solchen Ausschließlichkeit, dass die aufwändigen Kulissen sich regelmäßig in den Vordergrund der Inszenierung drängen. Selten ist der kollaborative Aspekt der Spielfilmproduktion so offenkundig wie hier, wo Bergers Studiobauten und Barnets Inszenierung zu kongenialen setpieces verschmelzen.

Neben der Achse "Wien-Moskau" stand ein kleiner Schwerpunkt zum portugiesischen Filmschaffen. Festivalliebling Miguel Gomes lud den etwas älteren und ungleich weniger bekannten Regisseur Manuel Mozos ein, der die gastfreundliche Geste prompt in die portugiesische Filmgeschichte verlängerte: Gemeinsam mit einer Handvoll eigener Arbeiten präsentierte Mozos Raritäten aus der portugiesischen Kinemathek, von denen vor allem Antónia Reis und Margarida Cordeiros "Trás-os-Montes" (1976) und "Os Verdes Anos" (1963) von Paulo Rocha in Erinnerung blieben. Ersterer ist ein Dokumentarfilm über einen entlegenen Landstrich im äußersten Norden Portugals; ein Film, dessen Fabulierlust ihn gelegentlich in rätselhaften Spielszenen über die soziale Wirklichkeit hinausträgt. Immer wieder bricht der abbildliche Realismus auf und lässt aus der Bruchstelle Andeutungen von Märchen- und Sagenmotiven aufsteigen, die sich aber nie zu einer Erzählung verbinden. Im Gegenteil zerstreut sich "Trás-os-Montes" gegen Ende auf ein immer zahlreicher werdendes Personal - bis man überhaupt keine einzelnen Figuren mehr vor sich zu haben meint, sondern ein halb wirkliches, halb fiktives Volk am Rande der portugiesischen Gesellschaft, so weit vom Zentrum der (damals faschistischen) Macht entfernt, dass das Gesetz sich auf dem Weg nach Trás-os-Montes im Wind verliert, wie der Rauch der Eisenbahn, die am Ende durch eine fast stockdunkle Einstellung fährt (eine Dunkelheit, die so nur auf Celluloid festgehalten werden kann).


"Os Verdes Anos" - die grünen Jahre - erzählt von einem Lissabon, das wie "Trás-os-Montes" zwischen den Zeiten steht. Ein junger Mann aus der Provinz kommt in die Stadt und verliebt sich in eine junge Frau, die ebenfalls vom Land kam, um hier ihr Glück zu versuchen. Die Stimmung des Films ist von einer irgendwie traurigen Heiterkeit: Momente, in denen alles möglich zu sein scheint, wechseln sich mit solchen ab, in denen die Stadt als ebenjenes monolithische Zentrum erscheint, vor dem "Trás-os-Montes" über zehn Jahre später in märchenhafte Lyrismen fliehen wird. Freiheit (vom traditionellen Landleben) und Unterdrückung (durch die moderne Stadt) liegen ganz nah beieinander. Ein unentwegt vor sich hin plätschernder Gitarrenscore hält die schwelenden Spannungen bis zur finalen Entladung in Schach - gerade weil er so banal ist, klingt er noch dann in den Ohren, wenn der Film längst vorüber ist.

Nikolaus Perneczky