Im Kino

Regen und Wunder in Cannes

Die Filmkolumne. Von Lutz Meier
26.05.2013. Aktualisierung: Abdellatif Kechiches Film "La Vie d'Adèle" bekommt die Goldene Palme. Eine Liebesgeschichte zweier Frauen rettet das Kino, zumindest vorläufig. Rückblick auf ein Festival mit tollen Filmen, das Steven Soderberghs Frage nach der Zukunft des Kinos dennoch nicht beantwortet.
Aktualisierung:Alle Preise von Cannes finden sich ganz aktuell im Hollywood Reporter.

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Es braucht nur ein Wunder. Alle Auswahlschwächen, Organisationsfehler, alle Ungleichgewichte, Zumutungen und selbst der prasselnde Regen, der tagelang über Cannes niederging - all das ist vergessen, wenn es dieses Wunder gibt. Nach dieser Regel funktioniert ein Filmfest, aber es gilt natürlich auch bei Filmfesten die allgemeine Lebensregel: Auf Wunder darf man nicht vertrauen. Manchmal kommen sie, öfter kommen sie nicht und wenn sie kommen, kommen sie unerwartet.

Dieses Jahr in Cannes ist am Donnerstagabend ein Wunder geschehen. Es erschienen diese zwei jungen Mädchen auf der Leinwand, man verlor sich im sanften Grübchen auf der Oberlippe der Schauspiel-Neuentdeckung Adèle Exarchopoulos, heftete sich an die kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen von Léa Seydoux, folgte einer Liebeserzählung, als habe es noch nie eine gegeben, einem Kinowunder, das fürchten ließ, etwas derart Wunderbares werde nie wieder kommen. Der Film des Franzosen Abdellatif Kechiche heißt etwas sperrig "La Vie d'Adèle, Chapitre 1 et 2", der englische Titel ist eingängiger: "Blue Is The Warmest Colour". Noch während der Abspann lief war klar, dass der Film nicht nur das bis dahin dahinplätschernde Festival verändern würde, sondern vielleicht auch ein bisschen das Kino. Wenn Steven Spielberg und seine Jurykollegen dem drei Stunden langen Film am Sonntag Abend die Goldene Palme verleihen und vielleicht seinen Hauptdarstellerinen Exarchopoulos und Seydoux den Schauspielpreis, dann wird Kechiche von da an zu den Großen des zeitgenössischen europäischen Kinos zählen, die beiden jungen Frauen werden Stars. Vielleicht wird das selbst ohne den Hauptpreis passieren.

Es ist eine nähere Betrachtung wert, wo dieser Film seine Kraft herholt. Aber zuvor gilt es zu klären, was die Wirkung der Liebesgeschichte von Adèle und Emma über den Zustand des Weltkinos sagt und den von dessen immer noch hellstem Schaufenster, dem Festival an der Côte d'Azur. Denn die klassischen Cannes-Filme, die "Taxi Driver", "Pulp Fiction", "Dancer In The Dark" sind immer schwerer zu finden, weil Hollywood sich auf Entertainment-Branding konzentriert, weil es dem unabhängigen Kino an Ideen und Geld mangelt, das europäische Kino sich im Förderwirrwarr verirrt und bei all dem die Zuschauer vom Kino weniger Entdeckungen erwarten und daher weniger ins Kino gehen, weil sich neue visuelle Eindrücke jederzeit bei Youtube finden. Man könnte an die früheren Ränder der Filmwelt schauen, könnte Versuchen, Anschluss an das Tempo der digitalen Zeiten zu finden, man könnte, statt auf das große Wunder zu hoffen, viele kleine zu ermöglichen suchen. Das ist in etwa der Ausweg aus dem Dilemma, den sich die Festivalmacher der Berlinale ausgedacht haben, und man muss zugeben, dass das bislang mal eher schlecht, mal eher recht funktioniert. Die Macher von Cannes dagegen vertrauen weiter auf die alten Kanäle: Europäisches Autorenkino und US-Independent-Kino. Und da die besten, die von beidem übriggeblieben sind, immer noch am liebsten nach Cannes fahren - dieses Jahr etwa die Coen-Brüder, Roman Polanski, Jim Jarmusch, François Ozon -, deshalb funktioniert auch das bislang mal noch ganz gut, mal schon nur noch leidlich. Die Frage ist, wie lange.

Da ist das Beispiel von Steven Soderbergh und Steven Frears, beide Repräsentanten des Kinos, das Cannes groß gemacht hat: populär, erzählorientiert, überraschend und aussagekräftig. Soderbergh hat vor der Anreise zum Festival eine bittere Brandrede gehalten (mehr dazu im New Yorker, wo die Rede auch als Video verlinkt ist), es ging darum, dass dieses Kino trotz seines Zuschauererfolgs in der Vergangenheit nicht mehr möglich ist, weil die Filmbranche sich seit der Finanzkrise der trügerischen Sehnsucht nach Nummer sicher verschrieben hat. Die Auswege von Soderbergh ("Traffic", "Ocean's Eleven", "Che") und Frears ("Mein wunderbarer Waschsalon", "The Queen") waren in Cannes zu besichtigen. Beide haben ihre neuesten Produktionen als Fernsehstücke realisiert, für den US-Abosender HBO. Fernsehen, deklarierte Soderbergh auf der Festival-Pressekonferenz, sei das neue Kino. Sein "Behind the Candelabra" ist die Biografie des Klavierspielers Liberace und seines jungen Lebenspartners Scott Thorson. Michael Douglas spielt als Liberace vielleicht die Rolle seines Lebens, so verführerisch im Verfall wie genießerisch im Gebrauch von Menschen, dass Douglas zu recht sofort zum Favoriten für den männlichen Darstellerpreis wurde. Auch Frears' Film "Muhammed Ali's Greatest Fight" (der in einer Sonderaufführung gezeigt wurde) ist überaus sehenswert. Er beleuchtet am Beispiel der Supreme-Court-Entscheidung zur Kriegsdienstverweigerung des Boxers Ali im Vietnamkrieg eine noch größere Frage: Ob und durch welche Zufälle gesellschaftlicher Fortschritt in den USA möglich ist.

Doch so gut diese Filme sind, so sehr wecken sie doch auch Zweifel, ob das Fernsehen das wiederbringen kann, was im Kino möglicherweise schwindet: Komplexes, überraschendes Erzählen. HBO ist zum einen weltweit in einer Sondersituation. Zum anderen hat der Sender eben auch bei Frears und Soderbergh konventionell strukturierte Erzählfilme bestellt, noch dazu mit Themen, die zumindest eine ältere Zuschauerschaft absichern, weil sie die USA in den Siebziger Jahren bewegt haben. Ob kühne, umstürzende verblüffende Geschichten auch aus dieser Richtung kommen können, müssen wir erst einmal sehen.




Wenn aber die neuen Bilder nicht vom Fernsehen kommen, woher denn? Damit zurück zu Kechiches wunderbarer Liebesgeschichte von Adèle und Emma. Der 1960 in Tunis geborene Franzose hat bereits vor zehn Jahren bei der Berlinale mit der Banlieue-Romanze "L'Esquive" einen eigenen Ton angeschlagen, hatte später in Frankreich mit dem warmherzigen Couscous-Film "Le Grain et le Mulet" Erfolg. Doch wer hätte von ihm nun eine Geschichte von so stiller Wucht erwartet wie sie jetzt in Cannes lief? 179 Minuten, keine davon zu lang. Ein Film der nie geschwätzig ist, nicht erklärt, sondern einfach zeigt, die Normalität als Sensation. Denn eigentlich zeigt "La Vie d'Adèle" eine Teenieliebe wie tausend andere, die wie so viele erwachsen wird und dann scheitert. Aber in seiner Erzählung bringt er die ganzen einzigartigen Gefühle zum Leben, die dazugehören, er zeigt, was eigentlich unzeigbar ist, weil zu vag, sagt, was unsagbar ist, weil Sagen Eindeutigkeit bedeutet. Da ist die Szene, als sich die beiden Mädchen erstmals zu zweit treffen, die Kunststudentin Emma erzählt von Sartres Existenzialismus, die literaturinteressierte, aber von Intellektuellencodes unberührte Adèle schlussfolgert: "Das ist so ähnlich wie bei Bob Marley: Get Up, Stand Up". Man muss die Blicke und die Gesichter der beiden sehen, um zu verstehen, dass Kechiche mit solch einer Szene mehr als hundert Dinge gleichzeitig zu erzählen vermag.

Natürlich hat es eine Bedeutung, dass es sich um eine lesbische Beziehung handelt, gerade weil der Film sie erzählt, als sei das völlig unwichtig. Und dann sind da die ausgedehnten Sexszenen, von denen man sich vor der Aufführung zuflüsterte, sie seien so eindeutig, wie man es noch nie im Normalo-Kino gesehen habe. Das ist nicht ganz falsch und dennoch legt es eine falsche Fährte, weil diese minutenlangen Szenen sich in die Erzählung organisch einfügen. Sex ist hier keine besondere, abgetrennte Sphäre mehr, sondern gehört eben zum Leben dazu, auch das ist ein Beispiel für die unspektakuläre Modernität von "La Vie d'Adèle". Das einzige, was den Durchmarsch des Films in den (auch deutschen) Kinos noch aufhalten könnte, ist seine lange Dauer, weil auch die keiner Konvention genügt. Dabei erklärten viele Zuschauer nach den drei Stunden, sie würden am liebsten noch einmal drei mit diesem Film dranhängen.




"Wir dürfen nicht vergessen, dass der zweite Feind von Schöpferkraft, abgesehen von 'gutem Geschmack' ist, sicher zu sein". Das sagte der Däne Nicolas Winding Refn, der Killerfilme mit der Kraft antiker Tragödien und dem Stilwillen großer Maler macht. Vor zwei Jahren bekam er für "Drive" den Regiepreis. Als er jetzt "Only God Forgives" vorstellte, wurde klar, dass Filme wie die seinen wohl niemals von HBO produziert werden. Wieder ist Ryan Gosling in der Hauptrolle, diesmal als tragischer Rächer seines toten Bruders, dazu gezwungen von Kristin Scott Thomas als eine Mutter, der Refn die Regieanweisung mitgegeben hat, "eine Mischung aus Lady Macbeth und Donatella Versace" zu liefern. Der Film definiert eigene Räume, eigene Bilder, ein eigenes Erzähltempo und zeigt damit, wo neue Bilder herkommen können, auch ohne allzuviel Budget.

Ähnlich hat auch Jim Jarmusch seinen neuen Vampirfilm gemacht. Sieben Millionen Dollar hat "Only Lovers Left Alive" gekostet, ein Klacks für einen US-Regisseur, sieben Jahre hat es dennoch gebraucht, bis die Finanzierung stand, die übrigens hauptsächlich aus Deutschland stammt. In den wunderbar dahingammelnden Kulissen von Detroit und Tanger erzählt er von der Liebe, die dem Untergang trotzt. Seine beiden zärtlich exzentrischen Helden Adam und Eve - Tom Hiddlesten und Tilda Swinton - haben über die Jahrhunderte alles Weltwissen angesammelt und ernähren sich von Blutkonserven, weil sie wissen, dass man im 21. Jahrhundert nicht mehr weit kommt, wenn man sich wie ehedem durchbeißt. Die Normalmenschen - in ihren Augen sind es "Zombies". L.A. - "die Hauptstadt der Zombies". Doch wie es kommen muss, auch ihre Liebe hat in dieser Welt keine Zukunft. Jarmuschs düstere Vision ist mal wieder schön anzusehen, hier ist ein Mann der darauf beharrt, eigene Regeln zu machen und sich gutgelaunt in Cannes aufs Podium setzt, die gleiche Sonnenbrille aufzieht wie seine Vampirhelden im Film und erklärt, man solle ihn bitteschön jetzt nicht fragen, was das alles bedeutet. "Aber ich möchte niemanden davon abhalten, meinen Film zu analysieren". Dann mal viel Spaß dabei. Denn es ist ein Sehvergnügen und ein bisschen auch ein intellektuelles Vergnügen.

Und dann kam Roman Polanski an die Croisette und hat ein weiteres mitgebracht. Nach "Der Gott des Gemetzels" hat Polanski erneut ein Theaterstück verarbeitet. Der Mann ist eben keiner, der untätig abwartet und die Arme über Kreuz legt, wenn das Geld oder die Idee für ein neues "Chinatown" nicht mehr um die Ecke kommt. "Man kann doch andere Sachen machen, die genauso viel wert sind", sagt er zu dieser Frage. "Venus im Pelz" erzählt die Geschichte einer Theaterprobe in der es wiederum um Alexander Sacher-Masochs gleichnamigen Roman geht, mit dem der Österreicher 1870 ungewollt den Begriff des Masochismus geprägt hat. Es geht also um Abhängigkeit und Begehren und um Macht - die ganz alten Fragen auf den ganz alten Brettern. Aber wie virtuos das Polanskis Gattin Emmanuelle Seigner und Mathieu Amalric aufführen - er sieht aus wie der junge Polanski - das ist atemberaubend und intelligent. Polanski ist fast achtzig und erklärt frank und frei, die Geschichte sei auch die Quintessenz seiner Erfahrungen mit Dominanz und Sex und Macht.

So lange die alten Meister noch so meisterhaft sind, so lange die bröckligen Hallen nicht stürzen und auch das alte Europa noch Kinowunder hervorbringt, so lange muss man vielleicht doch noch nicht an allen Ecken Zombies sehen. Cannes, sagt Polanski, ist am schönsten, wenn man unbekannt ist, jung und mit Neuem im Gepäck. Dann steht der kleine Mann auf, lächelt ins Publikum und verschwindet. Vielleicht sind irgendwann auch wieder Wunder möglich. Es sieht so mühelos aus.

Lutz Meier