Im Kino

Am Rande der Straßenschlachten

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Jochen Werner
29.05.2013. Terrence Malicks Liebesfilm "To the Wonder" zeigt das notwendige Misslingen einer ganzheitlichen Begegnung mit der Welt. Und die Bedingungen dieses Misslingens. "Die wilde Zeit" von Olivier Assayas ist eine kollektive Autobiografie der 68er Generation unmittelbar nach dem Mai 1968.


Ein Liebesfilm, der seinen Ausgangspunkt bei dem Wort "Neugeboren..." nimmt, gesprochen von einer Voiceover-Stimme, während das Bild noch schwarz ist. Aus dem fast völlig undifferenziert wirkenden Bewusststeinsstrom, der "To the Wonder" in den darauffolgenden Minuten ist, formt sich eine in ihren Grundzügen einfache Geschichte: Ein Amerikaner - Neil - lernt in Frankreich eine ukrainische Frau - Marina, ihr gehört der Voiceover vom Anfang - kennen, sie verlieben sich, er nimmt sie und ihre Tochter mit in seine Heimat, in einen kleinen Ort in Oklahoma, wo er als eine Art Inspektor für Umwelt- und Bauprojekte zu arbeiten scheint; die Beziehung gerät in eine Krise, Marina kehrt zurück nach Frankreich, Neil kommt mit einer blonden Jugendliebe - Jane - zusammen, nimmt Marina dann doch noch einmal auf, für einen weiteren Versuch.

Auch wenn man "To the Wonder" auf dieser Ebene recht gut rekonstruieren kann, hat man nie das Gefühl, den Film ganz beherrschen oder auch nur überblicken zu können. Von allen Seiten ragen schwer lesbare Bilder, zusammenhanglose Gesprächsfetzen, Fragmente von - parallel verlaufenden, vergangenen, möglichen zukünftigen - Geschichten, rätselhafte Figuren, wie zum Beispiel eine tendenziell eher bösartige Italienerin in den von Emmanuel Lubezki aufs bezauberndste fotografierten Bilderstrom; der seinerseits noch einmal fragmentierter, noch einmal sprunghafter geworden ist, als er es in Terrence Malicks Vorgängerfilm "The Tree of Life" war. Die Kamera ist in ständiger Bewegung; aber nicht in einer gleichförmigen Bewegung, sondern in einer stets neu erratischen, mit besonderer Vorliebe etwas ungestüm nach vorne drängenden, dabei aber immer wieder durch Jump Cuts unterbrochenen Bewegung, einer Bewegung, die immer gleichzeitig ein nicht enden wollender, nicht enden könnender Fluss und eine Serie von Neuanfängen, von schockartigen Bewegungsimpulsen ist.

(Bilge Ebiri hat bei Vulture die Produktion in einem aufschlussreichen Text beschrieben, den man vielleicht um ein interessantes Detail ergänzen kann: Die enthemmte Form hat sicherlich auch etwas mit den neuen Freiheiten digitaler, nonlinearer Montageverfahren zu tun; gleichzeitig ist Malick einer von immer weniger werdenden Regisseuren, die konsequent weiter auf klassischem Zelluloidmaterial drehen, die dem digital kanalisierten Bilderfluss den vielleicht ebenfalls schockartigen Weltbezug des Analogen entgegen setzen.)



Mehr noch als in "The Tree of Life" überträgt sich dieser Bewegungsmodus auch auf die Darsteller; und vor allem auf die Hauptdarstellerin. Olga Kurylenkos - Marinas - Tanz ist längst zum Objekt des Filmkritikerspotts geworden, mehr fast noch als die zärtlichen Dinosaurier in "The Tree of Life". Es scheint da jeweils einen Überschuss an filmischer Imaginationskraft zu geben, der Abwehrreflexe hervorruft… aber ich möchte diesen Text nicht defensiv schreiben, das hat Malicks auf die beste Art in sich selbst ruhender, so gar nicht auf dem letzten Wort beharrender Film nicht nötig. Olga Kurylenkos Tänze sind schon auf den ersten Blick nicht die einer entkörperlichten Fee, nicht die einer fetischisierten, idealisierten Projektionsfigur; sondern vielmehr tastende, oft genug nur halb gelingende Versuche, den eigenen Körper mit der Welt in Beziehung zu setzen. Eine frühe, eindrückliche, später mehrmals wiederaufgenommene "Tanz"-Szene an einem Strand in der Nomandie, auf dem Weg zum motivisch für den gesamten Film zentralen Mont Saint-Michel, gibt das Modell vor: Entscheidend ist nicht ein irgendwie urwüchsiger Bewegungsdrang, sondern das Staunen über die sonderbare Elastizität des nassen Sands.

Ben Afflecks Neil hat nur sehr wenige Voice-Over; er tanzt zu Beginn noch mit Marina gemeinsam über den nassen Sand, etwas allzu unbeholfen-tappsig allerdings schon da; später, in Amerika, scheint er sich zu verhärten und zu versiegeln, die Hände mal in die Hüften gestemmt, mal hilflos entlang des Körpers fallen gelassen, dem Boden oder sich selbst, nie der Welt entgegen gestreckt. Afflecks sonst ja durchaus geschmeidiger, bei Malick aber plötzlich ganz schwer, wie ein unbehauener Stein in der Welt herumstehend wirkender Körper wird in manchen Szenen zum (männlichen) Dispositiv, auf dem sich die (oft weibliche) Bewegtheit der Welt um ihn herum abbildet. Aber auch auf eine solche (Geschlechter-)Dichotomie lässt sich der Film nicht stillstellen; schließlich geht es auch Neil gerade darum, aus dem Selbstgefängnis auszubrechen. Wenn "To the Wonder", wie "The Tree of Life", ein teilweise autobiografischer Film ist - Malick lebte in den Achtzigern für längere Zeit in Frankreich -, dann auf eine seltsam dezentrierte Art: Neil mag zwar der nominelle Ausgangspunkt einiger Erinnerungsfragmente sein, aber in erster Linie stürzt sich der Film in die Subjektivität Marinas, immer wieder neu und dann jedesmal mit Haut und Haaren.



Die völlig befreite Kamera, die völlig entfesselte Montage und der ungestüme Bewegungsdrang Marinas scheinen tatsächlich etwas mit einem Versuch zu tun zu haben, eine Gesamtheit von Leben, Materie und Bewusststein herzustellen. Der Film behauptet aber, glaube ich, nicht, dass ihm das gelingt. Eher geht es, wie schon im Vorgänger, um ein notwendiges Misslingen einer "ganzheitlichen Begegnung" mit der Welt. Und um die Bedingungen dieses Misslingens. In "The Tree of Life" manifestierte es sich unter anderem in einer Grenze, die der Vater zwischen dem eigenen Garten und dem Garten der Nachbarsfamilie ins Bewusstsein seiner Kinder eintrug - und die sich dann in einem Gartenzaun materialisierte. "To the Wonder" spielt nun in einer Welt, die von Anfang an eingezäunt, parzelliert ist. In den unendlichen Weiten des amerikanischen Heartlands wird das viel deutlicher, als es in der ornamentalen Kulturlandschaft, als die Marina und Neil zu Beginn Frankreich erleben, je werden könnte: Wenn der Blick so weit, fast ins Unendliche gehen kann, wirken die Grundstücke, die die Menschen aus dem großen Ganzen herauspräparieren, umso kleiner und erbärmlicher.

Trotzdem kann man die Zäune in Malicks Welt nicht einfach einreißen. Man muss andere Wege finden, das Band zur nun einmal zivilisatorisch (und vielleicht schon in jedem einzelnen Wahrnehmungsakt) verformten Welt aufrecht zu erhalten. Die Kritik sieht in Malicks Filmen an dieser Stelle immer nur die Religiosität, die in "To the Wonder" tatsächlich nicht zu übersehen ist, da sie in Gestalt von Javier Bardems Pfarrer Quintana daherkommt. Nicht in großspuriger, selbstbewusster Manier allerdings, sondern im Modus der beständigen, beständig zweifelnden Introspektion. Aber wie gesagt: Ich möchte diesen Text nicht defensiv schreiben. Was mich an "To the Wonder" vor allem anderen überrascht hat, war, wie er sich immer wieder, in kleinen, alle narrativen und motivischen Kontexte verlassenden Szenen in einen genuin ethnografischen Film verwandelt hat, der in fast schon interviewartigen Konstellationen die Lebenswelten und Biografien jener Menschen erkundet, zwischen denen Marina und Neil ein neues Leben aufzubauen versuchen; wie sich der intime, manchmal tatsächlich fast privatmystische filmische Modus, den Malicks neuere Filme erforschen, ganz unvermittelt in eine Form unvoreingenommen neugieriger Welterschließung übersetzt.

Lukas Foerster

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"Une adolescence dans l'après-mai" - eine Jugend im Nach-Mai, so überschrieb der französische Filmemacher Olivier Assayas im Jahr 2002 seine in Briefform verfasste und an Alice Becker-Ho, die Witwe des Situationisten Guy Debord, gerichtete Autobiografie. Gemeint ist natürlich der Mai 1968 - jene Zeit, in der die Studentenproteste in Paris sich im Anschluss an die Besetzung der Sorbonne allmählich zu einem Generalstreik verdichteten, der über mehrere Wochen das gesamte Land in einen (freilich sehr bewegten) Stillstand zwang.

Filmemacher erklärten seinerzeit unbedingte Solidarität mit den protestierenden und immer mehr auf den Barrikaden kämpfenden Jugendlichen, und auf die Forderung vor allem Jean-Luc Godards hin wurde gar das Filmfestival in Cannes abgebrochen - eine Entscheidung, die, könnte man aus heutiger Perspektive mutmaßen, ganze Regisseurskarrieren auf dem Gewissen hat. Vorübergehend gar die ihres prominentesten Vorkämpfers Godard selbst, der nicht nur seine Filme den kommerziellen Vertriebswegen entzog, sondern der überhaupt nicht mehr als individueller Auteur in Erscheinung treten wollte und sich in ein Kollektiv mit dem Namen "Groupe Dziga Vertov" zurückzog.

Kritische Zeiten für das Kino, das hinter die eskalierenden Schlachten der Tagespolitik zurücktreten musste, könnte man meinen - und doch, jedenfalls in der Retrospektive, waren es auch Zeiten, die Filmemacher bis heute zu einer stetigen Reimagination bewegen. Einen scharfen Konflikt um die Deutungshoheit trugen vor einigen Jahren Philippe Garrel und Bernardo Bertolucci aus, die mit ihren Filmen "Les amants réguliers" und "The Dreamers" zwei sehr unterschiedliche Perspektiven auf die prägenden Ereignisse ihrer Jugendjahre vorschlugen. Mit Olivier Assayas ergänzt ein Nachgeborener seine Perspektive auf den Traum von der Revolution, den er nur noch im melancholisch dämmernden Ausgeträumtwerden mitzuerleben vermochte (hier ein Interview in Les Inrockuptibles mit Assayas zu 68).

"Après mai", der unter dem verwechselbaren Titel "Die wilde Zeit" in den deutschen Kinos zu sehen ist, ist eine Art Fortsetzung von "L'eau froide" - dem vielleicht persönlichsten Film von Assayas, in dem der ohnehin häufig autobiografische Elemente verarbeitende Regisseur recht offen eine Kindheit erzählt, die auch die eigene ist. Im Mai 1968 war Assayas 13 Jahre alt, die prägenden Phasen seiner Jugend ereigneten sich also nach, aber unter direktem Einfluss der revolutionären Träume und Ideale dieser bewegten Tage. Da ist kein Platz für Revolutionsnostalgie, eher zeigt Assayas Figuren, die noch immer unmittelbar in der Überzeugung leben, eine bessere Gesellschaft sei durch ihre Anstrengungen zu bauen. Auf welchem Weg aber dieses große Ziel anzustreben sei, wird zunehmend unklarer.



Der Film beginnt am 9. Februar 1971 mit der brutalen Zerschlagung einer geplanten Demonstration der maoistischen Organisation "Le secours rouge" durch die Pariser Polizei, bei der der Studentenführer Richard Deshayes ein Auge verliert, was ihn zur Symbolfigur der sich zunehmend radikalisierenden linken Bewegung macht. "Après mai" erzählt dies nur am Rande, stolpert eher mit seinem unpolitischen Protagonisten, dem Gymnasiasten Gilles Guiot (Clément Métayer), aus der Peripherie in das Geschehen hinein. Am Rande der Straßenschlachten aufgegriffen, wird Gilles völlig willkürlich und ohne jeden Beweis für ein nicht begangenes Verbrechen verurteilt. Die Geschichte, die Assayas schreibt, ist auch die einer von außen erzwungenen Politisierung der Unpolitischen: In einem durch die radikale Infragestellung des Status quo konsequent im Erschütterungszustand gehaltenen sozialen Klima gibt es keine unpolitische Position mehr.

Dennoch wird die politische Sozialisation Gilles' stets genauso als eine persönliche Bewusstwerdung - zwischen zwei Frauen, zwischen zwei Leben - und eine Suche nach dem eigenen Weg gefasst. "Après mai" ist auch ein Künstlerfilm - so wie der aufwachsende Assayas beschäftigt sich auch sein Protagonist mit unterschiedlichen Formen künstlerischen Ausdrucks. Und findet darin immer wieder Widersprüche zur von der Außenwelt erwarteten Rolle als politischer Akteur. "Die Realität klopft an die Tür, aber ich mache nicht auf" - so bringt Gilles einmal die Krise des künstlerischen Individualismus, der sich vor den kollektiven politischen Anstrengungen rechtfertigen muss, auf den Punkt.

Welchen Blickwinkel nimmt Assayas zu seinen Figuren, ihrer Zeit (die die seine ist) und ihren Konflikten ein? Ist "Après mai", ähnlich dem unsäglichen deutschen "Baader-Meinhof Komplex", ein Film, der unter minutiösen Rekonstruktionen eine empörende Falschheit im Großen-Ganzen zu verbergen versucht? Oder ein privatistischer, im Autobiografischen verhaftet bleibender Blick in die persönliche Erinnerung hinein? Weder noch, Assayas strebt nach so etwas wie einer kollektiven Autobiografie. "In dem Moment, in dem man einen Film macht, wird der autobiografische Vertrag in Stücke zerrissen", so Assayas, und folgerichtig ist alles in "Après mai" - obgleich die Stimmlage konkreter erscheint als in Assayas' abstrakteren, weniger narrativ arrangierten Filmen - gleichzeitig persönlich und verfremdet. Das Politische und das Private, in diesem schönen Film ist beides in der Tat untrennbar ineinander verschmolzen.

Jochen Werner

To the Wonder - USA 2013 - Regie: Terrence Malick - Darsteller: Ben Affleck, Olga Kurylenko, Rachel McAdams, Javier Bardem, Tatiana Chiline, Romina Mondello - Laufzeit: 113 Minuten.

Die wilde Zeit - Frankreich 2012 - Originaltitel: Après mai - Regie: Olivier Assayas - Darsteller: Clément Métayer, Lola Créton, Felix Armand, Carole Combes, India Menuez, Hugo Conzelmann - Laufzeit: 122 Minuten.