Im Kino

Liebeskummer im Dschungel

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
25.09.2013. "Not Fade Away" von David Chase ist eine verfilmte Plattensammlung - und gleichzeitig eine berückende Studie über Nostalgie und Erinnerung. Mit herzzerreißender Spielfreude evoziert David Gordon Greens "Prince Avalanche" mitten im amerikanischen Indiekino die Poetiken Werner Herzogs.

"The Sopranos" war die erste und ist immer noch eine der besten jener "Qualitätsserien", die im Fernsehen seit einigen Jahren jene erwachsenen, komplexen Geschichten erzählen, die Hollywood seinem Publikum nicht mehr verkaufen zu können meint. David Chase, creator der Gangster-Saga, wendet sich jetzt trotzdem erstmals in seiner Karriere dem Kino zu. Mit dabei ist, schon das macht den Film zu etwas Besonderem, der unlängst verstorbene "Sopranos"-Hauptdarsteller James Gandolfini.

Gandolfinis Rolle ähnelt derjenigen, die ihn bekannt gemacht hat, fast aufs Haar: Er spielt einen engstirnigen, sturen Familienvater in New Jersey, der diesmal zwar nicht im kriminellen Gewerbe tätig ist; der aber seine Umgeber beinahe noch garstiger dominiert und der den Rassismus, den Tony Soprano bereits teilweise sublimieren muss, noch offen ausleben kann. Ein kleinbürgerlicher Familientyrann wie er im Buche steht, und der zumindest zu Beginn noch felsenfest im Zentrum der italoamerikanischen Lebenswelt steht, die Chase mit viel Sorgfalt und vermutlich zumindest teilweise basierend auf eigenen Erinnerungen - er wuchs ebenfalls in den 1960ern in Jersey auf - nachzeichnet.

Je länger der Film dauert, desto passiver wird Gandolfini, bewegt sich kaum noch vom Fernseher weg, der ein historical landmark nach dem anderen - vor allem die Bürgerrechtsbewegung betreffend - in das beengende familiäre Wohnzimmer hinein überträgt, die dort aber, im Gegenschnitt, wenig Reaktionen hervorrufen. Berührend ist eine Szene spät im Film, in der Gandolfini, jetzt endgültig sein eigener und Tony Sopranos Widergänger geworden, im Morgenmantel vor der Hauseinfahrt steht und seinem Sohn nachblickt, der das kleine New Jersey in Richtung der Freiheit verlässt, die er in Los Angeles vermutet.

Um diesen Sohn, um die jüngere Generation, die in den 1960ern den James Gandolfinis dieser Welt auf der Nase herumtanzte, geht es in "Not Fade Away" primär. Douglas (John Magaro) geht noch zur Schule, träumt, animiert von den Erfolgen der British Invasion, von einer Karriere als Musiker, in seiner eigenen Band ist er erst Schlagzeuger, bald wird er lead singer. Der große Durchbruch scheint nicht einmal ganz weit weg, die richtige Freundin hat er auch gefunden; die wird gespielt von Bella Heathcote, im - abgesehen von Gandolfini - konsequent nicht-prominent besetzten Cast die größte Entdeckung. Die vielleicht schönste Szene des Films ist die, in der, bald nach dem Kennenlernen, seine Unsicherheit sich plötzlich auf sie überträgt und die Liebe aus diesem Perspektivwechsel heraus entsteht.

Erstaunlich viel erinnert an einen anderen Erinnerungsfilm: Olivier Assayas' "Apres Mai" erzählt fast dieselbe Geschichte, nur ein Jahrzehnt später und in Frankreich. In beiden Filmen geht es um einen jungen Mann mit jeweils eher, aber auch wieder nicht zu wilder Frisur; beide Protagonisten stehen stets etwas außerhalb des eigenen Lebens, haben anfangs eher vage künsterische Ambitionen, die sich dann jeweils am Ende in Richtung Filmschaffen vereindeutigen.


Sowohl "Not Fade Away" als auch "Apres Mai" wirken streckenweise wie bloße verfilmte Plattensammlungen: alternde Männer auf dem Nostalgietrip, auf der Suche nach verlorener Jugend und vor allem verlorener Hipness. Der amerikanische Film ist, mit seinem komplexen pophistorischen Verweissystem, nerdiger als der eher klassisch inventarisierende französische; der Song "Not Fade Away" zum Beispiel, nach dem er benannt ist, taucht zwar in den Dialogen, nicht aber im Soundtrack auf, weder die Originalversion von Buddy Holly, noch das Cover der Rolling Stones. Dafür spannt der Soundtrack seinerseits einen weiten Bogen auf, vom klassischen afroamerikanischen Blues über dessen britische Aneignungen bis zu jenen amerikanischen Musikern, die über diesen Umweg ein Erbe entdecken, das nur bedingt ihr eigenes ist. In einer letzten Pointe springt der Film ein weiteres Mal über den Atlantik und landet, möglicherweise asynchron zur fiktionalen Welt, bei den Sex Pistols.

Ob das alles Sinn ergibt, mögen Pophistoriker entscheiden. Ein interessanterer Film als "Apres Mai" ist "Not Fade Away" aus anderen Gründen. Zum Beispiel, weil er sich tiefer hineinwagt in das Minenfeld der Nostalgie. Assayas erzählt, manchen Widerhaken zum Trotz, die geradlinige Geschichte einer Prägung, deren einziger echter Clou darin besteht, dass sie konsequent negativ verläuft: Gilles, alter ego des Regisseurs, bieten sich im postmairevolutionären Frankreich der Siebziger Jahre eine Reihe von Alternativen, sowohl auf politischem wie auf künstlerischem und sexuellem Gebiet, von denen er stets exakt keine einzige wählt. Zumindest bis kurz vor dem Ende des Films, an dem sich eine jetzt endlich eklektisch genug zusammengebaute Lebens- und Karriereplanung zu formieren beginnt. Und die Traumfrau wandert auf die Leinwand.

Von einem solchen Schematismus ist "Not Fade Away" weit entfernt. Chase' (in filmtechnischer Hinsicht weit weniger perfekt gemachter; in vielem noch den kleineren Bildern des Fernsehens verpflichteter; außerdem an den Rändern doch etwas prätentiöser) Film hat einen Blick für die Zufälle und Willkürentscheidungen, die das einzelne Leben für gewöhnlich weit mehr prägen als jeder Zeitgeist. Als Erinnerungsfilm ist "Not Fade Away" schön, weil er sich jeder einzelnen Situation mit Haut und Haaren verschreibt, mal zum Slackerfilm wird, mal zum Liebesdrama, mal zum Freundschaftsdrama, und weil er gleichzeitig gar nicht erst versucht, all diese Handlungsstränge zu bündeln, auf ein Leben, eine Prägung zu subsumieren, weil er nicht versucht, um jeden Preis die Kontrolle zu behalten über die Lebenslinien, die er evoziert. Weil er nicht, wie "Apres Mai", kalt und analytisch aushandelt, wie sich individuelle Handlungsmacht und Umwelteinflüsse zueinander verhalten könnten, bzw. idealtypisch verhalten sollten; und statt dessen, fast schon proustisch, dem Unverhältnismäßigen am menschlichen Leben einen Raum gibt, den ganz und gar eigenartigen Erinnerungen, die in diesem Fall nicht der Geschmack einer Madeleine, sondern die ersten Takte eines Stones-Songs evozieren.

Lukas Foerster


---


Am Anfang brennt die Welt. Eine lodernde, dämonisch leckende Feuersbrunst wie aus der Hölle unter dem unbekümmerten Blick eines pupillenartigen Vollmonds. Dann das neblige Morgengrauen: Die Wälder dampfen aus, ruhen in der Zeit. 1987, informiert eine Texttafel, fielen weite Teile des texanischen Waldes einem solchen Feuer zum Opfer. Ein Jahr später bilden die teils bizarr in den Himmel aufragenden Geäste in Form eines "wasteland" just in jenem Moment, in dem das Leben Millimeter um Millimeter in jenes zurückkehrt, die Kulisse für David Gordon Greens neuen Film "Prince Avalanche".

Dieser lässt sich leicht der eher nervigen Form des US-Indiefilms der letzten Jahre zuschieben, wie ein solcher vermarktet wird er eh: Mit skurrilen Figuren und leicht verschroben-verkrakeltem Indie-Chic arbeitet sich diese Filmsorte auf schlussendlich meist versöhnliche, stets beschauliche Weise am Ennui gegenwartsentfremdeter Zeitgeistverlierer ab und zeigt dabei eine auf Vintage eingerichtete Puppenhauswelt in satten Farben, die im gleichen Maße weltabgewandt ist, wie sie Zeitgenossenschaft für sich beansprucht. Und doch liegt der Fall in "Prince Avalance" etwas anders, auch wenn der Film in diversen Registern unzweifelhaft auf Einklang mit solchen Artverwandten gestimmt ist.

Im Grunde: Ein Roadmovie, wenngleich im Schneckentempo, ein kleines bisschen wie David Lynchs "Straight Story". Zwei Männer ziehen mit einem Sprühwagen durch das versehrte texanische Hinterland und tragen mit Respekt zollender Akkuratesse die gelben Mittelstreifen auf der aschgrauen Straßen auf. Der eine, Alvin (Paul Rudd), schon etwas älter, begegnet der monotonen Aufgabe mit der Unerschütterlichkeit eines kernigen Naturburschen, der seiner Liebsten in verzichtvollen Briefen davon vorschwärmt, wie gut ihm die Einsamkeit und die heidegger'sche Primärerfahrung der Welt im rohen So-Sein tue. Wenn er auf seine Mitmenschen blickt, dann nur in jener Form seufzender Zärtlichkeit, die in Wahrheit noch nicht einmal gönnerhaft herablassend ist. Der andere, Lance (Emile Hirsch), deutlich jünger und gerade im Begriff, fürs Leben aus dem Leim zu gehen, befindet sich nur deshalb in dieser Einöde, weil er der Bruder dieser Liebsten ist, und Alvin denkt, dem Schlendrian mit diesem Job einen Gefallen zu tun. In Wahrheit sehnt Lance den Verlockungen der Wochenend-Nächte entgegen: Mädchen bedeuten für ihn alles! Wenn Alvin schläft, wichst sich Lance heimlich im Schlafsack.


Die Geschichte einer unwahrscheinlichen Männerfreundschaft, geboren aus dem profunden Konflikt eigentlich unvereinbarer Lebensentwürfe. Regisseur David Gordon Green - einer der interessantesten und widersprüchlichsten Grenzgänger des US-Gegenwartsfilms, der beim auteuristischen Festivalfilm begann, in der Mainstreamkomödie an- und teils auch auf den Hund kam und nun, mit diesem wieder erstaunlich souveränen Film, ganz bei sich landet - Regisseur David Gordon Green also erzählt das zwar durchaus mit dem Gebot des Indiefilms zu Lakonie und skurrilem Witz, öffnet "Prince Avalanche" aber immer wieder in Richtung ganz anderer Filmzusammenhänge. Mit herzzereißender Spielfreude lässt er in der Froschperspektive das frische, neue Leben in dieser Brandlandschaft aufjauchzen, eine Episode in einem abgebrannten Haus wird zu einer durch und durch aufrichtigen Meditation in Demut über den Wert materieller Erinnerungsstücke. Schön in der Schwebe bleibt die Ahnung, dass sich in diesem Wald wohl Geister tummeln. Buchstäblich toll wird der Film, wenn die beiden Männer sich in einem Akt fröhlicher Resignation ganz dem Suff hingeben, sich von Zumutungen ihrer Arbeit freischütteln und mit geradezu anarchischem Zerstörungstrieb die Welt um sie herum neu sortieren.

Kurz: Immer wieder aufs Neue und stets aufs Herrlichste verrätselt David Gordon Green seinen Film, der zwischen Buddy Movie und Body Humor genauso pendelt wie zwischen industriell überformter Mainstream-Ästhetik und der gestalterischen Souveränität des Autorenfilms. Am rätselhaftesten ist vielleicht ein Detail, das mich den ganzen Film lang völlig gefangen genommen hat: Nicht nur beginnt "Prince Avalanche" mit dem Pathos mancher Monumentalschauen in Werner-Herzog-Filmen (die Feuerbälle in "Lektionen in Finsternis", die wolkendurchfluteten Alpentäler in "Jeder für sich und Gott gegen alle"), mit Kurzhaarschnitt und Schnauzbart sieht Paul Rudd auch noch aus wie dem jungen Werner Herzog zu seiner klassischen Phase aus dem Gesicht geschnitten. Dass er deutsch lernt - leider macht die Synchronisation daraus französisch -, von sich enorm eingenommen ist, ein von erotischen Gedanken auffallend freies Verhältnis zum Körper pflegt und in einer archaisch gedachten Natur nach Epiphanien sucht, tut das Übrige. Ganz davon zu schweigen, dass sich auch der Mythos um die Entstehung von Werner Herzogs und Klaus Kinskis gemeinsamen Dschungelfilmen im Groben ähnlich zusammenfassen lässt wie diese Geschichte zweier höchst eigenwilliger Männer, die unter den Bedingungen einer so imposanten wie am Menschen nicht interessierten Naturkulisse bei einer absurden Betätigung aufeinanderprallen, dabei einander fast an die Gurgel gehen, um am Ende doch Freunde fürs Leben zu werden.

Damit wäre vielleicht eine zentrale Frage dieses schönen, das Leben, dessen Sprießen und vor allem auch dessen körperliche Widerständigkeit geradezu ekstatisch feiernden Films, ob es wohl Nächte im Dschungel gab, in denen Werner Herzog vor Liebeskummer weinte.

Thomas Groh

Not Fade Away - USA 2012 - Regie: David Chase - Darsteller: John Magaro, Jack Huston, Will Brill, James Gandolfini, Bella Heathcote, Dominique McElligott, Brahm Vaccarella - Laufzeit: 112 Minuten.

Prince Avalanche
- USA 2013 - Regie: David Gordon Green - Darsteller: Paul Rudd, Emile Hirsch, Gina Grande, Lance LeGault - Laufzeit: 94 Minuten.