Im Kino

Die Welt steht Kopf und dreht Kreise

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Nikolaus Perneczky
02.10.2013. Wie lange reicht die Luft? In seinem Science-Fiction-Film "Gravity" erzählt Alfonso Cuarón von der Neugeburt des Menschen (hier George Clooney), der sich im Angesicht einer technologischen Katastrophe wieder die wesentlichen Fragen stellt. Steven Soderberghs "Liberace" verweigert den mehrheitsgesellschaftlichen Ausgleich zur Egoshow des homosexuellen Starpianisten (hier Michael Douglas).


"Houston, I have a bad feeling about this", sagt George Clooney, einkokoniert in seinem Raumanzug, wie der letzte, zufriedene Mensch im All schwebend, mit Vintage Country-Rock im Ohr. In bloßer Katastrophenprognostik hat sich der Satz allerdings noch nicht erschöpft, vielmehr umspannt er en miniature ein ganzes Referenzsystem: "Houston, wir haben ein Problem", steht seit Tom Hanks in "Apollo 13" für die Lakonie der Weltraumkatastrophe im Film - und ganz miese Gefühle werden in der "Star Wars"-Saga am laufenden Meter empfunden. Von Kubricks "2001 - Odyssee im Weltraum" übernimmt Regisseur Alfonso Cuarón noch die Stille des Alls und dessen majestätisch leeren, darin bedrohlichen Raum - sowie nicht zuletzt das philosophische Projekt: "Gravity" erzählt von der Wiedergeburt des Menschen im Angesicht einer technologischen Katastrophe.

Vorschnell könnte man sagen: Ein Amalgamfilm, der sich in der Kinogeschichte frei bedient. Der Vorwurf ist nicht ganz falsch, verfehlt aber den Kern der Sache: Cuarón dampft - eine Wohltat nach all den storymäßig überfrachteten Blockbustern der ausklingenden Saison - seine Geschichte aufs Minimum ein - ein technischer Einsatz in 600 Kilometer Höhe wächst sich zur existenziellen Meditation übers nackte Überleben aus -, setzt Science-Fiction-Partikel und -Anschlüsse gerade so ein, dass sie offenkundig werden, nicht aber zum Wesenskern, und konzentriert sich - dergestalt abgesichert, dass man sich immer noch im für die Refinanzierung des Ganzen so wichtigen Unterhaltungskinosegment befindet - im wesentlichen auf die zentralen Achsenelemente des Kinos: Zeit und Raum - in einem Film, in dem erstere sich in zuletzt im Mainstream selten gesehener Konsequenz als intakte Nahezu-Echtzeit der Realität des Zuschauers annähert, während zweiterer jeglicher Verlässlichkeit des Alltagsempfindens komplett entbunden ist: In "Gravity" steht die Welt Kopf und dreht Kreise, oben und unten zählt zur Orientierung nicht mehr viel. Die Kamera - sofern sich in so einem profund künstlich-digitalen Setting von einer solchen überhaupt noch sprechen lässt - umgleitet und fixiert das Geschehen aus immer neuen Perspektiven. Alles beginnt mit einer atemberaubenden Digital-Plansequenz, die alle Einzeleinstellungen miteinander vernäht, die ihren Weg vom überwältigenden Space-Panorama bis ins Innere eines Astronautenhelms findet - und alles in hervorragendem 3D.



Kubrick wählte für seine maximal realistische Simulation einer Outer-Space-Situation noch den geometrisch exakt gefassten, in sich ruhenden Fixpunkt. Cuarón unterdessen subjektiviert das Geschehen mittels einer entfesselten Kamera und erweitert das Bild in die dritte Dimension: Was zuletzt nur noch wie ein künstliches Manöver zur Ticketpreiserhöhung oder am Ende einfach nur wie ein Schutz vor mitfilmenden Piraten erschien, wird hier endlich einmal wieder als zwingendes ästhetisches Konzept in die Pflicht genommen. Der Titel "Gravity" bringt lakonisch das visuelle Spektakel auf den Punkt, um das es Cuarón zentral geht: In der Schwerelosigkeit des freien Falls rund um den Globus sind es die Implikationen aus Schub und Abbremsung, die immer neue Relationen der physischen Körper zueinander im Raum bedingen und die Situation mal existenziell zuspitzen oder abdämpfen. Die Leinwand wird zur unmerklichen Membran vor einem größeren, weiteren Raum, in dem es wieder um das wesentliche geht: Wie kommen wir von hier nach dort, wie lange reicht die Luft, wo Halt suchen im Rausch der Beschleunigung, wie den Schub überwinden? Schmerzhaft, ruckhaft, wuchtig geht das oft vonstatten.

[Spoilerwarnung]

Die Gravitas, die im Titel ebenso anklingt, wirkt vor solcher Raumkunst-Akrobatik nurmehr wie ein Zugeständnis, die zudem noch an der eigenen Werkgenese scheitert. Wenn Sandra Bullock sich aus dem Kokon des Raumanzugs herausschält und sich - wie eine ent-metaphysierte Entsprechung zum Starchild bei Kubrick - zum Embryo einrollt, um am Ende als neuer erster, unsicher stolpernder Mensch aus Wasser und Schlick geboren zu werden, wenn also am Ende der Ausbruch des Menschen aus der ihm zur zweiten Natur gewordenen Technik steht, dann entwickelt sich spätestens vor der Produktionsgeschichte des Films, für den, wie für kaum einen zweiten, Menschen von Technik ummantelt wurden, eine leicht bizarre Dialektik: Der Inhalt beäugt mit Skepsis, was die Form geradezu enthusiastisch zelebriert.

[/Spoilerwarnung]

Man kann und sollte das beiseite schieben: Als Erzählkino-Raumzeit-Abstraktion ist "Gravity" ein hypnotisch-faszinierendes Groß-Kunstwerk - und als solches wiederum nur voll zu genießen in der Ummantelung eines technisch hochgerüsteten Kinosaals.

Thomas Groh

Gravity - USA 2013 - Regie: Alfonso Cuaron - Darsteller: Sandra Bullock, George Clooney - Laufzeit: 90 Minuten.

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"Liberace - Zuviel des Guten ist wundervoll" ist Steven Soderberghs erster Film nach dem selbsterklärt letzten Film, entstanden nach dem offiziell verkündeten, immer wieder aufgeschobenen Ende seiner Regiekarriere; gedreht ist er fürs Fernsehen (genauer für den Bezahlsender HBO), wo für den kinomüden Vater einer bestimmten Idee von amerikanischem Independentkino nun wohl eine neue Zeitrechnung anbricht: Für die Miniserie "The Knick", die 2014 beim HBO-Tochtersender Cinemax starten soll, zeichnet Soderbergh nicht nur als Koproduzent verantwortlich, sondern er wird auch bei allen Folgen Regie führen. (Eine interessante Entwicklung, die zu einem neuen Standard werden könnte: Auch bei der kommenden HBO-Serie "True Detective" wird ein (relativ) namhafter Filmemacher, Cary Fukanaga ("Sin Nombre", "Jane Eyre"), bei sämtlichen Folgen der ersten Staffel die Regie übernehmen.)

Wenn der in den USA dem Vernehmen nach nur als Fernsehfilm realisierbare "Liberace" in Europa einen regulären Kinostart bekommt, dann deshalb, so wird kolportiert, weil die Verfilmung von Scott Thorsons gleichnamigen Memoiren über sein gemeinsames Leben mit dem Entertainer Liberace "zu schwul" sei für Hollywood. Auf den ersten Blick erstaunt diese Behauptung, später versteht man, wie sie gemeint sein könnte: Es gibt in dem Film so gut wie keinen mehrheitsgesellschaftlichen Ausgleich zur goldblattumrankten Egoshow des homosexuellen Starpianisten. An der Hand von Liberaces langjährigem Lover Scott (Matt Damon) entführt uns Soderbergh in Liberaces Privatreich, ein schwules Xanadu, ein "closet" von palastartigen Ausmaßen, und wird es im weiteren Verlauf nur selten wieder verlassen. An diesem Ort, und nicht an den nicht minder exaltierten Bühnendarbietungen, für die Liberace berühmt war, findet der Film seinen eigentlichen Gegenstand. Eine Weile vermögen die überkandidelten Interieurs und mit Diamantimitaten (aus österreichischer Fertigung) besetzten Nerzmäntel auch den Blick aufzureizen, irgendwann ist man an das Blendwerk aber gewöhnt und wird auf die Geschichte zurückgeworfen. Und die ist in ihrer fast buchhalterisch berechneten Aufstieg-und-Fall-Logik so egal, dass man es nicht lange in einem Raum - möge er noch so wahnhaft verkitscht sein - aushält mit ihr. Schade, dass Soderbergh so wenig zu Liberaces Schaustellertum einfällt, so bleibt sein Beiname, "Mr. Showmanship", eine ungenutzte Gelegenheit. Schade vor allem deswegen, weil Soderbergh zuletzt, im Stripper-Drama "Magic Mike", ehrliche und dennoch betörende Bilder für die Knochenarbeit am Spektakel fand.



Trotzdem ist "Liberace" ein interessanter, und stellenweise brillianter Trip durch die schwule Kulturgeschichte der späten 1970er Jahre. "It's funny that the crowd would like something this gay", sagt Scott als er Liberace zum ersten Mal in Aktion sieht. Sein Freund weiß es besser: "They have no idea he's gay". Der Film setzt 1977 ein und endet mit Liberaces Tod infolge seiner Ansteckung mit dem AIDS-Virus. Kurz bevor wir ihn ein letztes Mal, stark abgemagert und bettlägrig zu Gesicht bekommen, verweilt die Kamera auf einer Zeitungsschlagzeile die den Tod Rock Hudsons beklagt. Wie Hudson gehörte Liberace zu einer Generation schwuler Kulturindustriearbeiter, die gezwungen waren, aus ihrem Begehren ein Geheimnis zu machen, während seinem wesentlich jüngeren Partner Scott (in Wirklichkeit war der zu Beginn ihrer Beziehung noch minderjährig) bereits die Option offensteht, etwas unbefangener mit seiner Sexualität umzugehen (Scotts Ziehfamilie zum Beispiel ist allem Anschein nach über seine Bisexualität im Bilde). Aus diesem feinen Unterschied in der schwulen Sozialisation, den Soderbergh aufmerksam aus kleinen Gesten ableitet, ergibt sich eine wirre Psychodynamik - Liberace will für Scott "father, lover, best friend" sein.

Rob Lowe legt einen durchgeknallten Auftritt als Schönheitschirurg hin, der wegen zu vieler Facelifts die Augen nicht mehr zubekommt. Und auch Soderbergh selbst zeigt die Operationen, denen sich Liberace und Scott zum Zweck einer phänotypischen Angleichung (der eine soll jünger, der andere mehr wie Liberace aussehen) unterziehen, ohne mit der Wimper zu zucken: Das Skalpell schneidet ins Fleisch, eine Hand klappt ein Stück Gesichtshaut um als wäre es das Verdeck eines Cabriolets. Ein bisschen zu einseitig interessiert sich "Liberace", wie der Originaltitel "Behind the Candelabra" schon suggeriert, für die Wahrheit hinter (oder im Fall der OP: unter) dem Anschein, ein bisschen zu simpel bleibt der Begriff, den sich Soderbergh vom schönen Schein macht. Das Kino und Soderberghs eigene Kinofilme wissen mehr darüber.

Nikolaus Perneczky

Liberace - Zuviel des Guten ist wundervoll - USA 2013 - Originaltitel: Behind the Candelabra - Regie: Steven Soderbergh - Darsteller: Matt Damon, Michael Douglas, Scott Bakula, Erik Zuckerman, Rob Lowe - Laufzeit: 118 Minuten.