Im Kino

Emotionale Spitzen

Die Filmkolumne.
27.12.2013. Am Jahresende wieder ein Rückblick auf Filme, die dem Kino - zumindest in Deutschland und zumindest bisher - vorenthalten geblieben sind. Diesmal haben wir einige Freunde aus benachbarten Regionen des Internets hinzu gebeten. Über Filme von Rithy Panh, Jess Franco, Lav Diaz, Alejandro Jodorowsky, Philippe Garrel, Stephen Chow, Erik Matti, Mamoru Hosoda, Dan Sallitt, Wang Bing und Jan Soldat.


Ein politischer Film solle offen legen, was er erfunden hat, heißt es im Schlussmonolog von Rithy Panhs "L'image manquante". Darum habe er das fehlende Bild, von dem der Titel spricht, angefertigt: Entworfen aus Erinnerungen seiner Kindheit im Gefangenenlager, als Pol Pot und die Roten Khmer die kambodschanische Bevölkerung gewaltsam zum Agrarkommunismus umerzogen. Und als sich das Regime mit eigenen propagandistischen Bildern (land-)wirtschaftlicher Produktivität und Guerillaformierung rühmte, aber Deportation, Zwangsarbeit und Massenmord in die Unsichtbarkeit zwang. Dieses Bild habe er gesucht und nicht gefunden, sagt Rithy Panh.

Und trotzdem ist es nun da. Als ein Bild, das nicht nur sich selbst gehört. Ein Bild, das freigelegt ist. Ein Bild, das bleibt. Die Rekonstruktion der Verbrechen mittels in Dioramen modellierter Tonfiguren erlaubt dabei einen beinahe spielerischen Zugang, der neu ist im Werk des Dokumentar- und Essayfilmemachers. Seit jeher setzen sich dessen Arbeiten, die trotz ihrer Verbundenheit mit den persönlichen Erfahrungen Panhs von erstaunlicher Konzilianz bestimmt sind, mit den Verbrechen der Roten Khmer auseinander, sowohl im Sinne einer mittelbaren Bestandsaufnahme ihrer Auswirkungen als auch in der Abbildung konkret geprägter Erfahrungswirklichkeit, aus der sich zwingende Fragen nach möglichen Zukunftsperspektiven ergeben.

"L'image manquante" aber ist nicht nur Bewältigung, sondern überhaupt erst figurative Erarbeitung jener Gräuel, die ein Stück weit auch als notdürftig abstrakte Bilder aus dem kollektiven Gedächtnis der Opfer gelöst werden müssen - "und nicht aufhören dürfen, uns zu suchen". Ein zaghafter Work in progress, das scheint Panh genau zu wissen: Der nicht von ihm, sondern vom Schriftsteller Christophe Bataille geschriebene, hochsensible Off-Text erlaubt sich perpetuelle Unsicherheiten, auch über den fragilen Versuch, das fehlende Bild doch noch sichtbar werden zu lassen. In einem filmisch genuinen Erinnerungsmosaik, das die jahrzehntelange Nicht-Abwesenheit der Agitationsbilder nicht nur ästhetisch ausgleicht, sondern diese jetzt lediglich sanft zu berühren braucht, um sie zerfallen zu sehen.

Rajko Burchardt

L'image manquante - Kambodscha 2013 - Regie: Rithy Panh - Sprecher: Randal Douc (Originalfassung), Philipp Moog (deutsche Fassung) - Laufzeit: 92 Minuten.

---



"Er dachte, er selbst sei die Kamera, wie früher immer. Deshalb ließ er keinen Einwand gelten und bestand darauf, die Einstellung so abzudrehen, wie sie gerade war. Erst, als er die Aufnahmen und darin nicht die Schauspieler, sondern sich selbst sah, musste er einsehen, dass die Kamera nicht vor ihm, sondern neben ihm gestanden hatte."
 
Einem, der in über 200 Filmen sein eigener Kameramann war, muss das wohl passieren, wenn er die Herrschaft über seinen Blick verliert. Kein Kameramann, sondern ein nicht einfach nur durch, sondern mit der Kamera Sehender. Der Akt des Sehens und der Akt des Filmens, für Jess Franco (der im April verstarb) gab es da nie einen Unterschied. Sein letzter Film nun: kein verlängertes, sondern nunmehr ferngesteuertes Sehen.
 
"Al Pereira vs. The Alligator Ladies" ist immer dann besonders beseelt, wenn die Knöpfe dieser Fernbedienung genießerisch achtlos Chaos erzeugen und das Umschalten von der einen auf die andere Einstellung sich zu verzögern scheint: Da laufen dann die Darsteller, größtenteils Laien, dem Film scheinbar kurz davon und geben sich dem Moment hin, der ja eigentlich erst dort beginnt. Bis die brüchig nuschelnde Franco-Stimme sich aus dem Off einmischt, weil sie das Davonlaufen dann doch anders haben wollte. Sie hat nicht gezögert, sondern gewartet. Sie wusste, dass im Warten auf diesen bestimmten Moment ein Schatten jener Freiheit lag, die sie einst rastlos durch den Raum trieb, als sie noch einen Körper hatte. Die Ungebundenheit dieses Körpers wird in Zeit übersetzt. Das ist kein schlechter Endpunkt für ein Kino, das dem Metronom der Film-Zeit hundertfach den Krieg erklärte. Die intervenierende Stimme hingegen sitzt im Rollstuhl, und erst aus diesem Rollstuhl heraus gewinnt sie den jahrelangen Ringkampf mit den ihr lange so fremden digitalen Texturen (und dem, was diese Texturen mit dem menschlichen Körper anstellen) durch aktive Kapitulation: Eine Kamera ist eine Kamera.
 
Die Alligator-Ladies - die vielleicht ersten Franco-Frauen, die ganz über den Film, in dem sie existieren, triumphieren - kichern und lachen sehr viel über Al Pereira. Al Pereira, der Größte, wie er einmal in die Kamera rufen darf, in einer awkwarden Verballhornung des entspannt Kruden, das in sich selbst schon so verballhornend ist. "Al Pereira, Privatdetektiv" - das ist über nur eine Handvoll Filme, über die Jahrzehnte hinweg, nicht so sehr ein Charakter gewesen, als ein pulp-trächtiges Signal. Sobald es aufleuchtet - und mit ihm die schäbigen Halbwelten, aus denen es entsteigt - wird gespielt, nur gespielt. Eine Figur nicht als Konstante, sondern als Anpfiff. Franco lacht durch sie (weil er nicht anders kann) über jenes Lachen aus dem nicht-anders-können heraus, das seine Filme über Al Pereira (die Figur, über die man nicht-anders-könnend lachen muss) immer wieder gelacht haben. Meta-Andacht? Auf keinen Fall. Aber: anything goes. Kino hat, just der Transparenz seiner Mittel wegen, viel mehr mit Glauben als mit Wissen zu tun. In Francos Filmen lernt man, zu glauben. Selbst dann, wenn er nur einen Frauenarsch filmt. Auch das ist wichtig. Wichtig ist da, wo eine Kamera ist.
 
Natürlich spürt man, dass der Film aus dem Rollstuhl raus will. Das setzt ihn allerdings erst unter Spannung. Sein, unser Blick ist so durchdringend, als wollte sich der Film daran aus seiner Hocke empor ziehen. Was für einen Film hätte Franco wohl mit einem iPhone gedreht, wenn es ihm seine Beine vergönnt hätten?

Christoph Draxtra

Al Pereira vs. the Alligator Ladies - Spanien 2012 - Regie: Jess Franco - Darsteller: Antonio Mayans, Irene Verdu, Carmen Montes, Paula Davis, Luisje Moyano, Naxo Fiol, Marivi Carrillo - Laufzeit: 81 Minuten.
Deutsch untertitelt auf DVD und BluRay erhältlich, zum Beispiel via amazon.de.


---



Gleich in mehreren Szenen hängen vor den Fenstern der meist - aber nicht immer - ärmlichen Anwesen, in denen die Figuren in "Norte, the End of History", dem neuen Film des philippinischen Regisseurs Lav Diaz, wohnen, bunt leuchtende Lichterketten: kitschiger Elektroschrott, der so oder so ähnlich fast überall auf der Welt rumhängen könnte und der auch fast überall auf der Welt gleich ausschaut. Und der dann doch bei Lav Diaz wieder ganz anders und eigen ausschaut, der, sanft im Bildhintergrund insistierend, in den Film jene atemberaubende Kino-Künstlichkeit einträgt, die man sonst höchstens aus Musicals kennt, aus Filmen von Minnelli oder Demy zum Beispiel: Aus Filmen, in denen Farben zwar keinerlei mimetische Funktion mehr haben, aber die Welt dennoch nicht derealisieren, sondern erst eigentlich expressiv machen.

Mit "Norte" wirft Diaz einen weiteren, wie stets gleichzeitig verzweifelten und unbedingt empathiebeseelten Blick auf (brutalisierte) Vergangenheit und (unversöhnte) Gegenwart seines Heimatlandes. Der Film ist in Windeseile von einem Geheimtipp zu einem der Kritikerfavoriten des Jahres geworden - und zwar völlig zurecht. Die genuin epische Parallelmontage, in die sich dieser Blick narrativ auffaltet, über mehrere Jahre und ein großes Figurenensemble hinweg, auch die in jeder einzelnen Einstellung spürbare formale Kontrolle, die doch nie etwas erstickt, weil sie Raum nicht beschränkt, sondern erst hervor bringt, die ohne falsche Scham ausgespielten emotionalen Spitzen: Man könnte, müsste über so viel schreiben, aber am allerbesten haben mir doch die Lichterketten gefallen, in denen besonders unmittelbar anschaulich wird, wie Diaz Provisorien in Kunst verwandelt (und zwar wirklich: verwandelt - um den Charme des Provisorischen geht es gerade überhaupt nicht). Diaz hatte vorher jahrelang die schwarzweißesten aller Schwarzweißfilme gedreht hatte, Filme aus einer Welt weniger ohne als vor der Farbe. Vielleicht ist es nur folgerichtig, dass er jetzt den farbigsten Farbfilm in jüngerer Erinnerung gedreht hat.

Lukas Foerster

Norte, the End of History - Philippinen 2013 - Originaltitel: Norte, hangganan ng kasaysayan - Regie: Lav Diaz - Darsteller: Archie Alemania, Angeli Bayani, Soliman Cruz, Miles Canapi, Sid Lucero, Hazel Orencio - Laufzeit: 250 Minuten.

---



Und plötzlich wird dieser Traum ganz einfach so wahr: 23 Jahre nach seinem bis dahin letzten Film hat Alejandro Jodorowsky, zwischenzeitig als Comicautor, Literat, Tarot-Kartenleger, Familienaufsteller und Eso-Magier tätig, einen neuen Film gedreht. In den 70ern zeichnete er für die größten Meisterwerke des bizarren Films verantwortlich, die zwischen Buñuel und Italowestern, großer Kunst und derber Posse, Science-Fiction-Groschenheft und Heldenepos locker changierten - seitdem ist er Schutzheiliger all jener, die statt Drogen zu nehmen ins Kino gehen (oder die mit Vorliebe im Kino Drogen nehmen).

Und jetzt lässt er aufs Neue die Realität tanzen: "La Danza de la Realidad", die Verfilmung seiner mytho-poetisch überhöhten Autobiografie, schildert unter anderem auch, wie der ungeheure, synkretistische Schatz an Bildern, aus denen dieser kecke Hexenmeister des subversiven Films bis heute schöpft, in diesen gefahren ist: Kindheit einer russisch-jüdischen Exilantenfamilie an der Küste Chiles, der Vater (gespielt von Jodorowskys Sohn) strenger Stalinist und Vorstand der lokalen Feuerwehr, die Mutter (mit großem Busem und heilbringendem Urin in der Blase) stets singende Operndiva eines Krämerladens, der junge Alejandro selbst ein verträumter, blondgelockter Samson auf Kinderbeinen, dem unter Tränen die prächtige Mähne geraubt wird und der beim Wettwichsen mit den anderen Jungs wegen seines pilzförmigen, beschnittenen Penis - eine Legende, die Jodorowsky immer wieder gern bedient - verlacht wird. Bildungsroman als wuchernde Fantasie: Bevölkert ist diese Welt von skurrilen Amputierten und tätowierten Schamanen am Strand. Magie lauert hinter allem, was sich regt oder auch nur ist. Der Zorn, das grimmige Pathos aus Jodorowskys früheren Klassikern weicht einer altersmilden, aber auch wehmütigem Freude an allem, was Körper und Sinn entzückt.

Thomas Groh

The Dance of Reality - Chile 2013 - Originaltitel: La danza de la realidad - Regie: Alejandro Jodorowsky - Darsteller: Brontis Jodorowsky, Pamela Flores, Jeremias Herskovits, Axel Jodorowsky, Adan Jodorowsky - Laufzeit: 130 Minuten.


---


Der Getroffene bin ich

Be kind, rewind. War es anders, das Kino vor einem Jahr? Ist es für immer verändert? Ich bin es. Nach Übermannung sehnte ich mich. Kino als Herausforderung war gestern, Überforderung heute. Und dann kam 2013. In meinen Ohren hallt die resignierte Behauptung einer Kollegin nach, das Kino sei früher vielfältiger und ohnehin besser gewesen. Statt ihr mit dem Verweis auf die vergangenen zwölf Monate zu widersprechen, müsste sie jemand auf eine Reise mitnehmen, und sei es nur ins Internet. Besser freilich auf Festivals. Dort hat sich der lineare Kinofilm ins Zentrum meiner Zuneigung zurückgekämpft, und das obwohl oder gerade weil er in meinem Alltag dem Bewegtbild alle Freiräume zur Ausbreitung überlassen hat. Und ich dachte, ich bräuchte das Kino nur noch für die körperliche Erfahrung, die mir die anderen Vehikel verweigerten ... Action, Terror und Horror als letzte Hoffnung für das Kinodispositiv?

Elektrisiert wurde ich 2013 dann auch gleich mehrfach, nur viel sanfter als ich es mir ausmalen konnte. Entführt wurde ich, so zärtlich, als wären die Filmemacher von Zürcher über Kechiche und Hong bis zu den Coens mehr als alles andere Verführungskünstler. Philippe Garrel hat sie für einen kurzen, an Verzückung nicht zu überbietenden Augenblick alle in den Schatten gestellt. "La Jalousie" ist in seinem Werk eine Art Randnotiz, klein und bescheiden im Vergleich zu seiner großen Mai-68-Meditation "Les Amants réguliers" (2005) aber auch zu seinen vielen existenziellen Dramen. Das Licht ist heller in "La Jalousie", als wäre das Leben ein einziger Tanz, entspinnt sich die autobiographische Geschichte wie von selbst. Das Schwarz-Weiß ist selten satter als bei Bildgestalter Willy Kurant, die Liebe kaum je so kompromisslos wie auf den Lippen von Hauptdarsteller Louis Garrel. War die Leidenschaft schon einmal gleichzeitig so frei und geborgen wie in der Stimme von Anna Mouglaglis? Transzendental ist die Verzauberung, die Philippe Garrel in mir auslöst, weil er gleichzeitig alle Synapsen in Bewegung setzt, weil er Sinne, Erfahrung und Affekte anspricht. Er glaubt an die Liebe, völlig frei von Ironie. Aber er sieht im Menschen dessen Unzulänglichkeit und zeigt sie offen, schonungslos, liebevoll, als sei das Geheimnis des Lebens gar keins - außer für den Betroffenen, der wir je selbst sind. Nein, ich brauche keine Übermannung, keine Überforderung. Nicht, wenn ich in mir selbst ruhend in höchste Aufruhr versetzt werden kann. Wenn ich schwerelos der Wahrhaftigkeit ins Antlitz blicken darf, dann war das Kino nie besser. 2013, ich sehe dich wieder.

Frédéric Jaeger

La Jalousie - Frankreich 2013 - Regie: Philippe Garrel - Darsteller: Louis Garrel, Anna Mouglalis, Rebecca Convenant, Olga Milshtein, Esther Garrel, Arthur Igual - Laufzeit: 77 Minuten.


---



Stephen Chow schöpft in "Journey to the West: Conquering the Demons" zum dritten Mal aus den Vollen von Wu Cheng'ens literarischem Epos "Die Reise nach Westen", doch statt einer Fortsetzung des Zweiteilers "A Chinese Odyssey" tischt er ein Prequel auf. Selbst den raffinierten Monkey King spielt er diesmal nicht selbst und verzieht sich für die Dämonenbändigung hinter die Kamera. Wie wenig ein Chow-Film von Chows darstellerischer Präsenz abhängig ist, belegen nicht nur die 200 Millionen in der Volksrepublik China eingenommenen US-Dollar.

Die neue Reise kreuzt zur Einführung die Jagd auf einen gewaltigen Fischgeist mit "Der Weiße Hai", Buster Keaton und viel anarchischem Chow-Humor und erarbeitet sich in den Schlussminuten den ersehnten Erleuchtungsmoment mit dem Pathos eines 16-stündigen Rollenspiel-Marathons. Durch eine Handvoll Levels wandert der Mönch Xuanzhang auf der Suche nach einem, man möchte sagen "riesigen", aber in diesem Film ist alles riesig, selbst ein viel zu klein geratener Fuß; einen Eber jagt er und der einzige, der ihm helfen kann, ist der vom Buddha eingesperrte Monkey King. Viel teuflischer spielt Huang Bo diesen Affen, als es ein Stephen Chow kann oder will. Der mischt auch in der festlandchinesischen Produktion farbenfroh Spaß und Blut, lässt Slapstick in Massaker übergehen, Massaker in Slapstick und fast ist man gewillt, ein Hohelied zu singen auf die rudimentäre chinesische Altersfreigabe, die so etwas (noch) möglich macht. Harmonie bleibt eben das Ziel, nicht der Weg dieser von Dämonen gesäumten Reise zur Reise in den Westen. Ein Film wie der Monkey King selbst kommt dabei heraus, liebenswert verschmitzt in einem Moment, nagt er im nächsten schon an einer Kehle.

Jenny Jecke

Journey to the West: Conquering the Demons - China 2013 - Originaltitel: Xi you xiang mo piang - Regie: Stephen Chow - Darsteller: Shu Qi, Wen Zhang, Huang Bo, Luo Show, Lee Shing-Cheung - Laufzeit: 110 Minuten.

---



In den letzten fünfzehn Jahren hat sich der philippinische Regisseur Erik Matti gekonnt durch verschiedene Spielarten des populären Kinos gearbeitet: Eine Superheldenparodie hat er schon gedreht, einen Horrorfilm, ein Fantasyabenteuer und auch einen Sexstreifen. Dabei lassen sich seine Filme nicht auf ihre handwerklichen Qualitäten reduzieren, sondern bieten kluges Genrekino mit einer nicht zu unterschätzenden sozialen Dimension. Während es Mainstreamfilme aus Hongkong, Südkorea und Japan hin und wieder zumindest auf den deutschen DVD-Markt schaffen, ist das philippinische Kino hierzulande nach wie vor ein Festivalphänomen, das vor allem sozialrealistische Dramen und experimentellere Erzählformen einschließt. Es lohnt sich aber, den Blick zu erweitern. Um sich davon zu überzeugen, muss man sich nur Mattis neueste Regiearbeit anschauen.

Mit seinen Verfolgungsjagden durch dunkle Gassen, der Faszination für den urbanen Neondschungel, der gleichberechtigten Gegenüberstellung von Gangstern und Polizisten sowie seinen melodramatischen Untertönen ist "On the Job" ein mitreißender Actionfilm, wie man ihn eigentlich aus Hongkong kennt. Aber auch nur eigentlich, denn an einer Mimikry ist Matti nicht interessiert. Vielmehr ist sein Film fest in der philippinischen Hauptstadt verwurzelt. Ein tatsächlicher Korruptionsfall, bei dem hochrangige Politiker Inhaftierte aus dem Gefängnis schleusten, um unliebsame Gegner aus dem Weg zu räumen, lieferte dafür die Vorlage. Gemeinsam mit Michiko Yamamoto - die schon das Drehbuch für den wunderbaren "The Blossoming of Maximo Oliveros" verfasste - entwickelt Matti ein erst mit der Zeit vollständig durchschaubares Geflecht an kleineren und größeren Erzählsträngen. Statt nur ein spezifisches Milieu zu beleuchten, umfasst der Film die Heterogenität einer ganzen Stadt, von den Slums bis in den Elfenbeinturm der Oberschicht. Dabei kommt man regelrecht ins Staunen, wie organisch Matti gesellschaftliche Mikrokosmen in Szene zu setzen weiß. Ein wahres Meisterstück sind vor allem die Plansequenzem in einem Gefängnis, das selbst wie eine eigene Stadt wirkt. Die Kamera kämpft sich dabei wie durch einen wuselnden Ameisenhaufen, stellt Verbindungen her und arbeitet Hierarchien heraus.

Zusammen gehalten wird der ausschweifend erzählte Film von einer symmetrischen Figurenkonstellation - einem generationenüberspannenden Paar auf beiden Seiten des Gesetzes. Während die jungen Hitzköpfe noch übermutig rumgockeln dürfen, müssen sich ihre älteren Partner damit abfinden, bald nicht mehr gebraucht zu werden. Verlassen kann man sich in diesem dreckigen und finsteren Actionfilm sowieso auf niemanden. Auf die diversen Institutionen nicht und auf Freunde, Familie und Partner noch viel weniger. Längst haben sich Korruption und Gier durch die ganze Stadt gefressen.

Michael Kienzl

On the Job - Philippinen 2013 - Regie: Erik Matti - Darsteller: Piolo Pascual, Gerald Anderson, Joel Torre, Joey Marquez, Angel Aquino, Michael de Mesa - Laufzeit: 121 Minuten.

---



In "Summer Wars" hatte Mamoru Hosoda in Kontrasten gearbeitet: ländlicher Großmutterfilm hier, epische Science-Fiction-Verwicklung da. Auch in den Zeichenstilen klaffte das weit auseinander zwischen schrill virtuell und urst traditionell. "Ame & Yuki - Die Wolfskinder" dagegen, Hosodas jüngster Film, ist ein Meisterstück aus Subtilitäten. Taniguchi meets Ozu, Ruhe, Ellipse, wunderbar unaufdringliche handgezeichnete Bildkompositionen, aber als halbe Märchengeschichte. Eine junge Frau hat zwei Kinder mit einem Wolfsmann. Fantasy-Stoff, als Shomingeki erzählt. Die Mutter zieht aufs Land, die Tochter ist wild, man tollt im Schnee, die Animation in rasender Fahrt und als explodierendes Weiß vor blauem Himmel, im eiskalten Wasser erlebt der Sohn seine Taufe zum Mann (als Wolf). Es geht um schlichte Dinge: Entscheidungen, die man treffen muss, die Liebe zwischen Mutter und Kind, um Nähe und Abschied. Und Freundschaft, Nachbarschaft, Entbehrung, Offenheit für das Fremde. Von all dem erzählt "Ame & Yuki" so virtuos schlicht wie klug und schön. Lief in Japan (und Frankreich) schon 2012 in den Kinos. Bei uns gar nicht. Ist jetzt aber auf DVD zu haben.

Ekkehard Knörer

Ame & Yuki: Die Wolfskinder - Japan 2012 - Originaltitel: Okami kodomo no ame to yuki - Regie: Mamoru Hosoda - Laufzeit: 117 Minuten.

---



Spätsommer in Brooklyn:
eine stille Straße mit hohen Platanenbäumen, quecksilbrige Lichtflecken tanzen in den Blättern und auf dem Asphalt. In dieser Straße ein großes altes Haus, die hölzerne Fassade ist lindgrün gestrichen, die Fensterrahmen hellgelb. Drinnen knarzende Dielen und blumige Tapeten, ein Wohnzimmer in schwummrigem Aquarium-Grün. Die letzte Renovierung muss in den 70ern gewesen sein. Hier, an diesem Ort, in diesem Haus wohnt die 17-jährige Jackie (Tallie Medel) mit ihrer Familie, der lethargisch-entrückten Mutter, der älteren Schwester Jeanne und dem Bruder Matthew (Sky Hirschkron).

Jackie ist in Matthew verliebt, und Dan Sallitts Film erzählt diese Geschichte gänzlich aus Jackies Perspektive, in Form eines altklugen und hyperartikulierten Voice-Overs - ein new-york-mäßig schnelles und präzises Sprechen ist das, ein intensives Sprechen voll trockener Ironie und doppelbödiger Nuancen. Der unaussprechliche Akt, um den in diesem Voice-Over, aber auch in schnellen Schlagabtäuschen und fein ziselierten Dialogen andauernd herumgesprochen wird, ist eben das, was zwischen Bruder und Schwester nicht passieren sollte. Im Zentrum von "The Unspeakable Act" steht eine Transgression, die nicht vollzogen, die auch nicht aus-, aber eben viel besprochen wird - umso mehr, als Jackie in der zweiten Filmhälfte auch noch zur Gesprächstherapie geschickt wird (die schönsten Therapiesitzungen, die ich je im Kino gesehen habe). Das ganze erinnert ein bisschen an J.D. Salinger, ein bisschen an Eric Rohmer (dem der Film auch gewidmet ist).

Dabei strahlt "The Unspeakable Act", unter und jenseits des ganzen schönen Geredes und im Kontrast zu seiner komplizierten Protagonistin, eine große Harmonie und Klarheit aus. Etwas geradezu Friedvolles geht von diesem Film aus. Jede Sequenz, jede Einstellung ist mit einer Sorgfalt komponiert, die irgendwie tröstlich ist. Es gibt keine Musik, und die Kamera ist meist unbewegt. Stattdessen Interieur-Stillleben, aneinander montiert: ein altes Tischchen auf dem Treppenabsatz, ein Türrahmen, der schützend eine Figur umfasst, ein zerbrochenes Fenster im Esszimmer, das die gemeinsamen Abendessen begleitet wie der Abendstern.

Am Ende steht das bittersüße Abschiednehmen von dem, was vertraut war und was man geliebt hat. Coming-of-Age, Ende der Kindheit, no more Geschwisterliebe. Gleichzeitig das stille Wissen, dass da was da ist und bleibt - und wenn es nur ein altes Haus ist.

Elena Meilicke

The Unspeakable Act - USA 2012 - Regie: Dan Sallitt - Darsteller: Tallie Medel, Sky Hirschkron, Aundrea Fares, Kati Schwartz, Caroline Luft - Laufzeit: 91 Minuten.

---



"Feng Ai" (englischer Verleihtitel: "'Til Madness Do Us Part") heißt der neue Film des chinesischen Digitalvideo-Chronisten Wang Bing, dessen Werk von den Umbrüchen in der rasant sich modernisierenden Volksrepublik erzählt - von der Abwicklung eines ausgedienten Industriegebiets ("West of the Tracks"), vom Handel mit Kohle ("Coal Money") oder von der Arbeit auf einem Ölfeld in der Wüste Gobi ("Crude Oil"). Immer geht es auch um die von der Modernisierung Ausgeschlossenen und Marginalisierten, zuletzt um drei kleine Schwestern, die in einem Dorf in der südwestchinesischen Provinz Yunnan wie Waisen leben, weil ihr Vater sich als Wanderarbeiter verdingt ("Three Sisters").

Es sind die aus seinen früheren Arbeiten vertrauten Verfahrensweisen, die Wang für seinen neuen Film in Anschlag bringt: stoisch gehaltene Einstellungen in Halbnähe zu den Figuren; ein geduldiges und mitunter fast absichtslos anmutendes Beobachten; Mitsein, Mitgehen, Abhängen. Aber weil der Gegenstand von "Feng Ai" ein chinesisches Irrenhaus ist, zeitigt das bekannte Formeninventar ganz neue und auf neue Art erschütternde Effekte. Die Kamera scheint mit und unter den Insassen zu leben, wie diese ist sie in den kreisrunden, zum Innenhof geöffneten Trakt eingesperrt.

Die Grundform dieses Einschließungsmilieus ist der Loop, die Grunderfahrung eine von schlechter Unendlichkeit: Alles wiederholt sich, alles dreht sich im Kreis. Bis in die Mikrogesten des Alltags reicht der Zwang, der (das wird rasch deutlich) nicht nur von den Individualpathologien der Patienten ausgeht, sondern auch und vor allem von der Anstalt selbst. Wer warum hier gelandet ist, erschließt sich erst allmählich und bleibt in vielen Fällen bis zuletzt unklar, erst ganz am Ende des mehr als dreistündigen Wahnsinnsfilms steht eine erklärende - unsere schlimmsten Vermutungen bestätigende - Schrifttafel. Wo die ereignisoffene Geduld, die Wang Bing seinen Figuren und Situationen entgegenbringt, in früheren Filmen noch Widerstände und Überraschungen zutage förderte, verstrickt sie sich hier ständig in ausweglosen Kreisläufen, etwa wenn wir einem Mann dabei zusehen, wie er seine Hose ad infinitum an- und wieder auszieht.

"Feng Ai" will kein Institutionenporträt sein - jedenfalls keines der Wiseman-Schule. Viele Perspektiven fügen sich nicht zu einem kaleidoskopischen Ganzen, sondern Wang macht sich die Eingeschränktheit der Insassen im Sehen und Handeln zu eigen, weshalb auch vom Klinik-Personal nur sehr wenig zu sehen ist (überhaupt gewinnt man den Eindruck, dass die Patienten sich in hohem Maße selbst überlassen sind). Kein reißerisches Exposé über einen infernalischen Ort am Rand der chinesischen Gesellschaft, sondern ein mehrstündiger Aufenthalt in der Hölle, eine konzentrierte Erfahrung von Dauer, wie sie heute vielleicht nur noch im Kino möglich ist.

Nikolaus Perneczky

Til Madness Do Us Part - China 2013 - Originaltitel: Feng ai - Regie: Wang Bing - Laufzeit: 227 Minuten.


---



Jan Soldat zählt zweifelsohne zu den interessantesten und vielversprechendsten jungen Filmemachern, die das deutsche Gegenwartskino momentan zu bieten hat. Und das noch vor seinem Langfilmdebüt, das hoffentlich nicht mehr allzu lang auf sich warten lassen wird. Für seinen neuen, mit 48 Minuten Spielzeit halblangen Dokumentarfilm wurde Soldat mit dem Kurzfilmpreis des Filmfestivals Rom, seinem ersten bedeutenden Filmpreis, ausgezeichnet - und erhielt diesen, sehr passend, aus den Händen von Larry Clark, gibt es doch durchaus Verbindungslinien zum Werk des großen Fotografen und Filmemachers. Clark wie Soldat streben Filme an, die sich in der fiktionalen wie in der dokumentarischen Form ihren Protagonisten wesentlich über ihre Sexualitäten annähern. Und beide verbindet ein Blick der zwar schonungslosen, aber auch bedingungslosen Zärtlichkeit.

"Der Unfertige" ist ein Film über Klaus Johannes Wolf: "60 Jahre alt, schwul, Sklave." Ein Mann, der seine Sexualität, seine Identität in der Unterwerfung findet. Wolf sitzt über weite Strecken des Films nackt vor der Kamera, ein fragil wirkender Körper, in Ketten gelegt - und ein Mensch, der im wahrsten Sinne des Wortes entblößt vor die Kamera tritt. Ein Mensch, der sich öffnet, sein Leben erzählt, sein Selbst freilegt. Schonungslos. Es ist aber nie der Akt des Ausstellens, der Soldat interessiert. Nichts wirkt voyeuristisch an diesem Film, in der Nacktheit und in den sexuellen Akten, die er zeigt, betont er nicht das Außernormative, sondern ordnet sie vielmehr in eine frappierende Alltäglichkeit ein. "Ein Wochenende in Deutschland", so der Titel eines anderen Films von Jan Soldat, und der könnte die Richtung für die Verortung eines ganzen Werkzyklus vorgeben. Leben in Deutschland. "Der Unfertige" reiht sich ein in einen Zyklus sexueller Porträtfilme, in dem Soldat zoophile junge Männer ("Geliebt"), einen hingebungsvollen Masturbateur ("Endlich Urlaub") oder ein schwules Sadomasochistenpaar ("ZUCHT und ORDNUNG") filmte. Immer mit einem nur auf den ersten Blick ungerührten Kamerablick. Immer voll Zärtlichkeit und ehrlichem Interesse, immer ohne zu urteilen. Sein Blick ist einzigartir im deutschen Kino, und wir dürfen auf seinen weiteren Weg gespannt sein.

Jochen Werner

Der Unfertige - Deutschland 2013 - Regie: Jan Soldat - Darsteller: Jan Soldat, Klaus Johannes Wolf - Laufzeit: 48 Minuten.