Im Kino

Schwebende Momente der Rührung

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky
08.01.2014. Erschütterungen im Stillen prägen J.C. Chandors Einmannstück "All Is Lost", der sich seinen Platz auf den Jahresbestenlisten redlich verdient hat. Nicht regulär im Kino, sondern im Rahmen des Berliner Festivals "Unknown Pleasures" zu sehen ist "People's Park", eine erstaunliche ethnologische Feldforschung von J.P. Sniadecki und Libbie Dina Cohn.

Die Dezemberausgabe der in cinephilen Kreisen maßgeblichen amerikanischen Fachzeitschrift Film Comment führt "All is Lost" unter den besten Filmen des vergangenen Jahres. Aber auch denjenigen unter uns, die der manischen Listenhuberei zum Jahresende eher abhold sind, muss man den zweiten Langspielfilm des noch jungen Regisseurs J.C. Chandor, worin ein namenloser Mann (der Abspann führt ihn als "Our Man") allein auf hoher See gegen den Untergang ankämpft, dringend ans Herz legen.
 
Was ein souveräner Actionfilm der "prozeduralen" Sorte hätte werden können (so bezeichnet der Filmwissenschaftler Steven Shaviro Filme, die sich mehr für den schieren Vorgang interessieren als für Figuren oder Diskurse), treibt bald ab in allegorische Gefilde. Nicht zufällig ist der stumme Protagonist im Kampf mit den Elementen ein Mann am Abend seines Lebens (mag er, verkörpert von Robert Redford, noch so vorteilhaft gealtert sein) - diese Pointe will der Film so unbedingt heimbringen, dass seine Schläue manches Mal mit ihm durchzugehen droht. Wer sich dennoch einzulassen vermag auf das doppelte Register von deskriptivem Krisenmanagement hier, existenzieller Vergeblichkeit da, der wird mit frei schwebenden Momenten der Rührung belohnt, die an gar kein bestimmtes Bild sich heften, sondern aus der Dauer des Films unvermittelt aufsteigen wie Tränen, von denen man nicht mit Sicherheit sagen kann, wem oder was sie eigentlich gelten.
 

Nicht weniger überraschend sind die Strukturähnlichkeiten, die sich zwischen "All is Lost" und einem anderen vielbesprochenen amerikanischen Film des vergangenen Jahres, Alfonso Cuaróns "Gravity", auftun: Beide Filme werfen uns in eine (außerweltliche) Welt ohne festen Horizont und entziehen uns konsequent den Boden unter den Füßen, beide folgen einer CGI-gestützten Eskalationsdramaturgie, und beide sind darum bemüht, die philosophischen Obertöne ihrer verwandten Sujets (See- bzw. Raumfahrt) zum Klingen zu bringen - sogar im leicht Patscherten dieser Bemühung kommen Cuarón und Chandor überein. Ein Mensch ringt mit Mächten, die seine Möglichkeiten bei weitem übersteigen, aber wo Cuarón das Moment der Vergeblichkeit nur deshalb beschwört, um danach von seiner Überwindung erzählen zu können, gibt Chandor den ungleichen Kampf schon in der ersten Einstellung - eigentlich: schon im Filmtitel - verloren: Ein Stück Altmetall (es wird sich noch weisen, worum es sich handelt) treibt von links ins Bild, darüber legt sich eine resignierte Männerstimme: "All is lost." Enden wird dieser Brief, eine aufs Wesentliche reduzierte Summe seines Lebens, mit einem reuevollen "I'm sorry." Dann versetzt uns ein Zwischentitel acht Tage zurück in die Vergangenheit. Der Mann döst unter Deck vor sich hin, bis ein lautes Geräusch ihn weckt: Ein harter Gegenstand hat sich in die Hülle des Bootes gefräst und ein Leck geschlagen, durch das nun Wasser dringt.
 
Immer neue katastrophische Wendungen brechen über unseren Mann herein, und wie Sandra Bullocks Figur in "Gravity" halten wir auch ihm die Daumen, er möge sich, dieses eine Mal noch, im allerletzten Moment aus dem Schlamassel ziehen. Aber weder werden in "All is Lost" Hinweise auf die psychologische Person gestreut und verdichtet, die der Getriebene unter anderen Umständen vielleicht wäre, noch glauben wir, dass er in letzter Instanz mit dem Leben davonkommen wird - einfach weil das, auf Dauer gesehen, niemandem gelingt. Solche Existenzialismen können schon nerven, besonders wenn Chandor meint, sie anhand bestimmter Einstellungstypen (von oben, von unten) und Akkorden einfach abrufen zu können. Im Ganzen aber ist die Daseinsmetaphorik hart erarbeitet und, vorbehaltlich kleiner Einwände, redlich verdient. Obwohl Chandor sich durchaus auf viszerale Action versteht, ereignet sich die größte Erschütterung von "All is Lost" nicht in der Magengrube, sondern unter der Hand und im Stillen. Ganz wie das Älterwerden.

Nikolaus Perneczky

All Is Lost - USA 2013 - Regie: J.C. Chandor - Darsteller: Robert Redford - Laufzeit: 106 Minuten.


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Der Park liegt in Chengdu, einer Millionenstadt im Südwesten Chinas. Einst diente er, lehrt Wikipedia, als Waffenlager für Soldaten der Qing-Dynastie. Im Jahr 2012 vollzog sich in ihm eine der außergewöhnlichsten Kamerabewegungen der jüngeren Filmgeschichte. In "People's Park", einem knapp 80-minütigen, in einer einzigen Einstellung gedrehten Dokumentarfilm der beiden Amerikaner J.P. Sniadecki und Libbie Dina Cohn, hat der Park keinen Anfang und kein Ende, auch keine Grenze eigentlich, die Hochhäuser der Stadt sind nur selten im Hintergrund zu erahnen. Der Kamera geht es nicht darum, einen Überblick zu ermöglichen, sie möchte nicht kartografieren. Statt dessen gleitet sie immer wieder neue kleine, gewundene und größere, gerade Wege entlang, fährt immer wieder an neuen Parkbänken, an Tischen und Stühlen vorbei, betritt gelegentlich bühnenartige Anordnungen, verlässt sie wieder, dreht sich, wendet sich, findet immer wieder neue Details, die sich eher zu einem Eindruck als zu einem Begriff von Öffentlichkeit zusammensetzen.

Die Bewegung ist langsam, langsamer als eine menschliche Bewegung zumindest, aber ganz zum Stillstand kommt sie nie. Auch ansonsten ist die Bewegung nicht ganz antropomorph (aber auch nicht ganz nicht-anthropomorph), sie übernimmt weder die rhythmischen Erschütterungen des Schritts, noch die fahrige Aufmerksamkeit des menschlichen visuellen Apparats. Sie gleitet sanft, fast steadicam-artig durch den Park, variiert die Geschwindigkeit nur leicht, und zwar lässt sie sich andauernd durch das, was ihr begegnet, vom geraden Weg ablenken, zu Seitenblicken und Eindrehungen verleiten, aber auch diese Seitenblicke fixieren ihre Objekte nicht mit der Insistenz des menschlichen Auges, sondern heben sie nur flüchtig, wenn auch stets sorgfältig aus dem Fluss der Abertausenden von Alltagshandlungen, die sich im Park vollziehen, heraus, lassen sie dann aber gleich wieder in ihn zurück sinken. Momenthaft treten so einzelne Passanten ins Bild, oder Familien, die beisammen sitzen, oder, immer wieder und besonders prägnant ganz am Anfang und ganz am Ende des Films, Gruppen von Tänzern, die sich, von den Umstehenden bewundert, im öffentlichen Raum exponieren.


Eine weitere Besonderheit des Blicks der Kamera - die von den beiden Filmemachern gleichzeitig geführt wird: Cohn hält sie, während sie in einer Art Rollstuhl sitzt, der von Sniadecki geführt wird - ist, dass ihm Gegenblicke antworten. Ein Großteil der vielen Passanten, denen die Kamera auf ihrem Weg begegnet, wundert sich durchaus über die sonderbare Mensch-Maschine-Kombination, die sich für ihre Welt interessiert, andauernd blicken Menschen direkt in die Kamera, mal nur einmal kurz, mal länger, mal mehrmals, sich immer wieder umdrehend. Manche bleiben stehen, andere beschleunigen ganz im Gegenteil ihren Gang, wieder andere treten einen Schritt Beiseite, machen Platz. Vielleicht ist es nicht nur aus psychologischer, sondern auch aus poetischer Sicht kein Zufall, dass besonders Kinder lange und unverblümt in die Kamera - und damit in all jene Kinosäle, vor allem auf internationalen Filmfestivals, in denen "People's Park" bisher vorgeführt wurde - starren; denn auch wenn die Kamera sich von der menschlichen Wahrnehmung insgesamt abgrenzt, macht sie sich doch mit der kindlichen Wahrnehmung noch eher gemein als mit der erwachsenen, weil sie ungefähr in Augenhöhe eines Kindergartenkindes durch den Park schwebt.

Die Gegenblicke, die den Akt des Filmens anerkennen und als Eingriff in das Beobachtete kennzeichnen, verweisen auch auf den avancierten Kontext, in dem der Film entstanden ist. Sniadecki und Cohn studieren am Sensory Ethnography Lab der Universität Harvard, wo seit einigen Jahren avantgardistisches Filmschaffen und wissenschaftliche Arbeit eine interessante Allianz eingehen. Genauer gesagt wird da, im Studiengang von Lucien Castaing-Taylor, der Avantgardefilm als ein genuines Werkzeug der Ethnologie begriffen. Wie Simon Rothöhler im August-Heft des Merkur ausgeführt hat, reagieren Castaing-Taylor und seine Studenten damit einerseits auf jahrzehntealte innerethnologische Diskussionen und geraten andererseits selbst in neue epistemologische Zwickmühlen. Was die "sensorische Wende" dem akademischen Diskurs hinzufügen kann, wird sich erst noch zeigen; auf den internationalen Filmfestivals werden die Produktionen aus dem Umfeld des Ivy-League-Instituts dagegen begeistert aufgenommen.

Besonders weit herum- und groß herausgekommen ist der Fischerei-Montage-Koloss "Leviathan", den Castaing-Taylor selbst, gemeinsam mit Verena Paravel, gedreht hat. Wie wiederum Simon Rothöhler schreibt, lässt sich der Film von Sniadecki und Cohn gleichzeitig als Ergänzung und Antipode dieses Festivalhits begreifen: Wie "Leviathan" begreift "People's Park" das ethnografische Kino nicht als ein Katalogisieren von Fakten, Ritualen, sozialen Strukturen, sondern als einen Versuch, in "sensorischer Ereignishaftigkeit", der den Wahrnehmungsakt nicht nur mitthematisiert, sondern als eine eigenständige ästhetische Form fasst (dazu gehört auch ein hier gar nicht erwähntes, aufwändiges Sounddesign). Gleichzeitig könnte sich die spezifische Form, die Sniadecki und Cohn wählen, kaum krasser von Castaing-Taylors und Paravels delirierendem, jegliche räumliche Orientierung verunmöglichenden Montagefeuerwerk unterscheiden. Die Kamera in "People's Park" macht sich nicht mit toten Fischen gemein, hat kein Interesse daran, den gesamten Wahrnehmungsapparat zu zertrümmern, fordert keine Ergebenheit, sie begnügt sich damit, an einem beliebigen Samstagnachmittag eine gute Stunde lang mit ein paar Hundert Chinesen durch den öffentlichen Raum zu tanzen.

Lukas Foerster

People's Park - USA 2012 - Regie: J.P. Sniadecki, Libbie Dina Cohn - Laufzeit: 78 Minuten.

"People's Park" läuft am 14.01. um 18:45 Uhr im Berliner Kino Babylon Mitte im Rahmen des Festivals "Unknown Pleasures".