Im Kino

Grusel der filmischen Verdopplung

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky
21.05.2014. Denis Villeneuves Saramago-Verfilmung "Enemy" suspendiert seine Figuren in einer oneirischen Zwischenwelt. In "X-Men: Zukunft ist Vergangenheit" gelingt es Bryan Singer wenigstens zeitweise, das narrative Hintergrundrumoren in audiovisuellen Attraktionen still zu stellen.


Ich habe nichts von José Saramago gelesen. Von "Enemy", einer Verfilmung seines Romans "O homem duplicado" ausgehend, lassen sich ­- intermediales reverse engineering - dennoch ein paar Vermutungen über Saramagos Stil und Interesse anstellen. Eine Ahnung von magischem Realismus scheint mitzuspielen, aber aller allegorischen Ansprüche entkleidet, die übers Private hinausreichen. Zwar ist der Protagonist Adam (Jake Gyllenhaal) ein Collegeprofessor für Geschichte, der Hegel und Marx bemüht, um seinen Studenten die Wiederholungsstruktur politischer Gewalt näherzubringen. In "Enemy" verkommt der Geschichtsunterricht aber rasch zum Metaphernreservoir für eine sehr persönlich gedachte Doppelgängerfantasie.
 
In ihrer ursprünglichen, literarischen Gestalt stelle ich mir Saramagos fantastische Existenzialismen eher anstrengend vor. Was der frankokanadische Regisseur Denis Villeneuve, zuletzt mit dem sehr andersartigen Entführungsdrama "Prisoners" in deutschen Kinos zu sehen, mit Saramagos Vorlage anstellt, funktioniert aber hervorragend. Einmal weil das Kino für Doppelgänger wie gemacht ist, zum anderen (und überraschenderweise) auch gerade darum, weil Villeneuves Übertragungsversuch aus dem Schriftsprachlichen eine gewisse Literarizität ins Medium von Bild und Bewegung hinüberrettet, die sich zum Beispiel darin äußert, dass die Frage, ob wir es hier noch mit einer Tragödie zu tun haben oder schon mit einer Farce, nicht so einfach zu beantworten ist. Noch im mit generischen Reizen gut ausgestatteten Finale hält Villeneuve seine Figuren (und mit ihnen sein Publikum) in einer Art Zwischenwelt suspendiert. Klassische Kinotugenden wie Identifikation und Spannung werden zwar nicht außer Kraft gesetzt, aber der direkte Zugang zu ihnen wird doch irgendwie erschwert bzw. von anderen "Lesarten" durchkreuzt. So kann man sich nie ganz und immer nur momentan der Tonart sicher sein, in der die Erzählung sich entfaltet - ein ungebundener, frei modulierender Stil, zumindest in den besten Momenten.
 


Auf Anraten eines Arbeitskollegen leiht Adam einen Film aus der Videothek aus. Darin kommt sehr am Rande (in der Statistenrolle eines Hotelpagen) der Schauspieler Anthony vor, der genauso aussieht wie Adam. Adam spürt ihn auf, ohne selbst so recht zu wissen weshalb. Die allmähliche Annäherung der beiden Doppelgänger eskaliert in einer ersten Begegnung. Auch filmisch erreicht "Enemy" hier seinen ersten Höhepunkt: Zuvor waren die beiden immer nur getrennt von einander zu sehen; ihr Zusammentreffen in ein und demselben Kader verläuft über eine verbindende Schwenkbewegung, die den Grusel der filmischen Verdopplung zugleich mobilisiert und allegorisiert. Spätestens beim Vergleich ihrer Hände, auch sie vollkommen identisch, und einer Geburtsnarbe am Bauch wird klar, was die beige-entwirklichten Bilder schon die längste Zeit insinuieren, nämlich dass der Plot beim besten Willen nicht mehr realistisch zu rationalisieren oder motivieren ist, sondern höchstens noch oneirisch. Tagträumen gleich bricht sich denn auch immer wieder eine weitere - tiefere? vorgelagerte? - Erzählebene Bahn, auf der Adam/Anthony an einem okkulten Spiel teilnimmt, dessen Mitspieler beziehungsweise Spielsteine nackte Frauen und Spinnen sind, sowie beider halluzinatorische Verschränkung zur Spinnenfrau - Hector Babenco lässt grüßen.
 
Daneben ist "Enemy" vor allem ein Architekturfilm. Gedreht in Toronto, in schwebenden Kameraflügen entlang von unbelebten Hochhäusern in einer Investorenvariante des International Style, arbeitet sich "Enemy" ab an einem Stadtbild, das selbst oft als Double herhalten musste, nämlich für New York, wo Drehgenehmigungen lange Zeit schwer zu bekommen waren. Hier, entvölkert und entfärbt, erscheint die Skyline von Toronto unter einem irgendwie ruinösen Aspekt, als hätten die Jahre der filmindustriellen Dienstbarkeit der Stadt die Seele geraubt. Die unbehausten Häuser entwickeln ein Eigenleben, lassen ihre Symbolfunktion schließlich hinter sich und erhalten, was sich folgerichtig anfühlt, das letzte Wort beziehungsweise die letzte, gespenstisch-schöne Einstellung.

Nikolaus Perneczky

Enemy - Kanada 2013 - Regie: Denis Villeneuve - Darsteller: Jake Gyllenhaal, Melanie Laurent, Sarah Gadon, Isabella Rossellini, Joshua Peace, Tim Post - Laufzeit: 90 Minuten.

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Ein "Superhero Movie Problem" gestand sich vor Kurzem der amerikanische Filmkritiker und Filmemacher Matt Zoller Seitz ein: Die Superheldenfilme, die seit einigen Jahren das Kinogeschehen zumindest in ökonomischer Hinsicht dominieren, sind, stellt Seitz klar, nur selten katastrophal schlecht, meist sogar leidlich unterhaltsam, doch sie ähneln sich spätestens dann, wenn die Actionszenen beginnen, wie ein Ei dem anderen: "Things crashing into other things". Solange nur Seitz und einige andere professionelle Mießmacher ein superhero movie problem haben, solange selbst generell lauwarm aufgenommene Filme wie jüngst "The Amazing Spider-Man 2" innerhalb weniger Wochen weltweit gut 600 Millionen Dollar einspielen, wird sich an der Diagnose wenig ändern. "Things crashing" ist eine von nur noch wenigen Formeln, die den Studios derzeit halbwegs planbare Gewinne einbringt.

Tatsächlich fühlen sich die Filme mit jeden Jahr stromlinienförmiger an; die kleineren oder größeren Widerhaken, die noch bis vor Kurzem Regisseure wie Christopher Nolan, Ang Lee oder vor allem Sam Raimi in das Genre einschmuggeln durften, gehören der Vergangenheit an (höchstens Zack Snyders Megalomanie gilt es im Auge zu behalten…). Dominiert wird das Genre von der Blockbusterfabrik der Marvel Studios ("The Avengers", "Iron Man" etc). Deren "cinematic universe" kann man als Geschäftsmodell bewundern, vielleicht noch als intermediales Erzählexperiment interessant finden - aber als fantastisches Kino? Irgendwie hat das ganze Projekt, und in der Folge das ganze Genre etwas gehemmt Buchhalterisches: Jedes Studio werkelt, nach Marvel-Vorbild, an seinem cinematic universe herum, das sich immer weiter verästeln kann, immer neue Spin-offs, prequels, reboots hervorbringt… (Ist es ein Zufall, dass Sex und Tod, die beiden Haupttriebkräfte so vieler älterer Genrefilme, in fast allen Superheldenuniversen fast komplett abgeschafft worden sind? Die Filme haben, so scheint es, Angst vor allem, was mit den Unheimlicheren unter den Gefühlen zu tun hat.)

Statt dessen: narrative Ausdifferenzierung. Besonders barock verzweigt hat sich die "X-Men"-Serie. "Zukunft der Vergangenheit" (im Original weit weniger plump: "Days of Future Past") ist der bereits siebte Film der Reihe - und ob man ihn nun als ein prequel zu "X-Men 3" (2006) oder als ein sequel zu zu "X-Men Origines: Wolverine" (2009) beziehungsweise "X-Men: First Class" (2011) begreifen soll, mögen andere entscheiden. Irgendwie passt diese Selbstverkomplizierung zu einer Filmserie, die es von Anfang an besonders ernst genommen hat mit dem Superhelden-, beziehungsweise in diesem Fall tatsächlich: Übermenschentum. Sowohl das Heldenteam um Wolverine und Professor X, als auch deren Widersacher sind nicht einfach Individuen, die mit dem Außergewöhnlichen in sich selbst konfrontiert werden, sondern Produkte einer evolutionären Selektion, bilden also eine eigenen Population aus, die sich zum Rest der Menschheit nicht in einen persönlichen, sondern in einen politischen Gegensatz setzt. Was auch heißt, dass immer gleich das große Ganze auf dem Spiel steht, dass für die intimeren Momente des Superheldentums wenig Raum bleibt.



Sein Beginn nimmt für den neuen Film nun gerade deshalb ein, weil es sich dem schwerfällig Bedeutungshubrigen, das einige ältere "X-Men"-Filme aufgrund dieser Anlage mit sich herumschleppen, entzieht: In einem hemdsärmeligen narrativen Manöver wird die gerade erst (mit durchaus Holocaust-affinen Bildern, btw) eingeführte apokalyptische Welt des Jahres 2039 schon wieder links liegen gelassen. Die Helden springen zurück in die Siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, um die in den Vorgängerfilmen mühsam aufgebaute Geschichte umschreiben, oder wenigstens geflissentlich ignorieren zu können. Hauptzweck der Übung scheint zu sein, Jennifer Lawrence zu bändigen, die, mal mit einem aufregenden blauen Ganzkörperanzug drapiert, mal als Gestaltwandlerin die Weltgeschichte manipulierend, allerlei Unfug treibt und wohl in der anfänglich schiefen, nun zu begradigenden timeline eine weltumspannende Katastrophe ausgelöst hat. Neben der Hauptattraktion der Serie Wolverine (Hugh Jackman mit wieder einmal prächtig geschwollenen Halsadern) sind auch jüngere Versionen von Magneto (Michael Fassbender) und Professor X (James McAvoy) mit dabei.

Das hört sich kompliziert an, und ist in Wahrheit, wenn man tiefer eintauchen würde in die Mythologie, vermutlich sogar noch komplizierter. Regisseur Bryan Singer, selbst ein Superheldenspezialist, versteht sich jedoch darauf, das komplexe narrative Hintergrundrumoren in audiovisuellen Attraktionen still zu stellen - und diese Attraktionen wiederum so zu orchestrieren, dass das "things crashing" selten (aber dann auch wieder nicht nie) Überhand nimmt. Tatsächlich gibt es nur zwei ausgedehnte Actionszenen, eine zu Beginn, eine im Finale. Dazwischen bleibt Platz für einige schöne, spielerische Passagen - unter anderem: ein grandioser Auftritt des Neuankömmlings Quicksilver (Evan Peters) in einer balettartig inszenierten Superzeitlupensequenz -, für liebevoll ausgestalteten Seventies-Glamour, und für einige zeithistorische Abstecher: Vietnam wird zum breeding ground für Mutanten, die Kennedyermordung wird neu kontextualisiert, und ein ziemlich grandioses Richard-Nixon-Double haben die Produzenten gleich auch noch auftreiben können.

Viel Betrieb also, der allerdings auch nicht verschleiern kann, dass am Ende nicht mehr gewonnen ist als die Bedingungen der Möglichkeit einer weiteren Fortsetzung. Alles in allem ist "X-Men: Zukunft ist Vergangenheit" vermutlich einer der besseren Superheldenfilme. Ästhetische Risiken bleiben fürs Genre allerdings weiterhin außer Reichweite. Noch einmal Matt Zoller Seitz: "The sand's all smooth now. Flat. So we keep walking in the same direction."

Lukas Foerster

X-Men: Zukunft ist Vergangenheit - USA 2014 - OT: X-Men: Days of Future Past - Regie: Bryan Singer - Darsteller: Hugh Jackman, James McAvoy, Michael Fassbender, Jennifer Lawrence, Halle Berry, Nicholas Hoult, Anna Paquin, Evan Peters - Laufzeit: 131 Minuten.