Im Kino

Etwas zu weiter Wollmantel

Die Filmkolumne. Von Lutz Meier
26.05.2014. Nuri Bilge Ceylan hat die Goldene Palme für "Winter Sleep" verient, Andrei Swiaginzew hätte sie für "Leviathan" auch verdient: Beide finden mit der gleichen Sicherheit die Bilder und Worte, die die Dramen ihrer Figuren spüren lassen.
Es ist ein grimmiger Winter in Anatolien, in dem sich die Menschen in ihre Höhlen zurückziehen. In dem Film von Nuri Bilge Ceylan, der am Samstag Abend das Festival von Cannes gewonnen hat, stimmt das buchstäblich, in der Landschaft von Kappadokien, in der "Winter Sleep" spielt, scheint jede Behausung in eine Höhle hereingebaut und alle Figuren suchen Rettung in der Vereinzelung. Draußen heult der Wind, fällt erst Regen, dann Schnee, die letzten Besucher von außen verlassen das Tal und irgendwann führt auch kein Weg mehr hinaus. Es ist die Welt des Intellektuellen Aydin, der in Istanbul Theaterschauspieler war und irgendwann hierhin zurückgekehrt ist, wo er eine Jugend in Entbehrungen verbracht hat und dann von seinem Vater das halbe Tal geerbt hat, inklusive von Wohnungen der armen Landbevölkerung und einem liebevoll dekorierten kleinen Hotelkomplex, über den Aydin herrscht.



"Winter Sleep" ist die Geschichte dieses Aydin, eines gleichzeitig liebens- wie verachtenswerten Gebieters. Die Geschichte eines Mannes, der nicht aus seiner Haut findet, der sich schon in seinem etwas zu weiten Wollmantel versteckt wie in einer Höhle. Wir schauen einem Winter alles Zwischenmenschlichen zu, in dem alles verdorrt, was die Figuren verbindet.

Es ist auf den ersten Blick also vor allem das genau gezeichnete Drama der menschlichen Beziehungen, was die Festivaljury um die neuseeländische Regisseurin Jane Campion ("Das Piano") ausgezeichnet hat. Die grandios verdichteten Dialoge, die teilweise über 20 Minuten dauern und doch kurz wirken wie überhaupt der ganze 3 Stunden und 14 Minuten lange Film über dessen Länge Campion sagt, zuerst hätte sie vor den drei Stunden Angst gehabt, am Ende hätte sie sich zwei mehr gewünscht. Es sind die Figuren, die jede für sich den Zuschauer so sehr zur Identifikation anbieten, dass es ihn gleichzeitig frösteln lässt, wie sie allein in ihren Höhlen hocken, wo der Wind durch die Ritzen zieht. "Es ist schonungslos", sagte Jane Campion nach der Preisvergabe. "Wenn ich die Eier hätte, in einem Film so ehrlich zu sein, wäre ich sehr stolz auf mich".

So haben die Juroren der anderen großen weitgespannten Geschichte über Individuum und Gesellschaft in diesem Festival, dem russischen Wettbewerbsbeitrag "Leviathan" von Andrei Swiaginzew am Ende "nur" den Drehbuchpreis zugedacht, aber einen Film mit der goldenen Palme bedacht, der mit ebenso grandiosen Aufnahmen von Landschaften arbeitet und mit der gleichen Sicherheit und Festigkeit die Bilder und die Worte findet, die die existenziellen Dramen seiner Figuren spüren lassen. Die Figuren dieser beiden Filme bleiben noch lange da, wenn ihre Abspänne längst beendet sind.

Tatsächlich ist auch der türkische Film in gewisser Hinsicht eine russische Erzählung, Regisseur Ceylan erweist am Ende Anton Tschechow seine Reverenz und tatsächlich hat sie das Format von dessen Dramen und man könnte sich die Geschichte von Aydin auch leicht ins 19 Jahrhundert in der russischen Provinz versetzt vorstellen. Gleichzeitig ist auch "Winter Sleep" aktuelle Anklage und Zeitkommentar, wenn auch weniger offensichtlich als "Leviathan". Ceylan bezieht sich nach der Preisverleihung selbst darauf, wenn er seinen Film den toten Jugendlichen vom Taksim-Platz widmet. Und sicherlich kann man den Film auch als Allegorie auf eine Gesellschaft sehen, in der Herrscher zynisch, Werte nur noch Behauptungen, Intellektuelle zynisch geworden und die Benachteiligten vergessen sind. Wenn jedenfalls Recep Tayyip Erdogan die Provinz als Modell der Wiedergeburt der türkischen Gesellschaft predigt, dann führt Ceylan vor, was das bedeutet.



So passt es auf fasst alle ausgezeichneten Filme, was die französische Schauspielerin und Jurymitglied Carole Bouquet über Campion und ihre Kriterien sagt: "Das Wort, was sie am häufigsten gebraucht hat, war Freiheit". Die künstlerische Freiheit, die sich der Kanadier Xavier Dolan in seiner Mutter-Sohn-Groteske "Mommy" nimmt, wurde ausgezeichnet, allerdings muss oder darf sich Dolan den Preis mit Jean-Luc Godard teilen, für sein so hingeworfenes wie hermetisches Werk "Adieu au langage". Der Regiepreis geht verdientermaßen an Benett Millers mit Hingabe erzählten Ringerkrimi "Foxcatcher" aus den USA. Julianne More als herrlich verzweifelte alternde Hollywood-Diva in David Cronenbergs "Maps tot he Stars" nimmt den Darstellerinnenpreis mit, Timothy Spall erhält den männlichen Darstellerpreis für seine Darstellung des Malers William Turner in Mike Leighs Biopic über den Künstler. Allein eine Entscheidung konnte die Jury nicht einmal selbst so recht erklären, warum der zweitwichtigste Preis des Festivals, der Große Preis der Jury an den unkonzentriert esoterischen Coming-of-Age-Film "Le Meraviglie" der Italienerin Alice Rohrbacher gehen musste.

Am Ende trommelte Jane Campion ihre Jurykollegen zusammen wie eine Lehrerin nach einer langen Klassenfahrt und blickt mit einer Mischung aus Unverständnis und Milde auf den dänischen Regisseur Nicolas Winding Refn, der hier vor ein paar Jahren mit "Drive" begeisterte und in der Jury wohl den Part des jugendlichen Stürmers und Drängers übernahm. Lange schon nicht habe es so viel Möglichkeiten für gute Filme gegeben. "Jetzt ist Filmemachen nicht länger ein Klub der Ausgewählten", sagt er "Jeder, der ein Iphone und ein paar Schauspieler hat, kann einen Film machen". Das hätte wohl Xavier Dolan gefallen. Es sei wieder Zeit für große, neue Ideen, hatte der zuvor gepredigt. Wie damals zu Godards Zeiten.

Lutz Meier