Im Kino

Traum vom Anderswosein

Die Filmkolumne. Von Elena Meilicke, Jochen Werner
28.05.2014. Yeşim Ustaoğlu lässt in "Araf" eine Träumerin hart auf dem Boden der Realität aufschlagen. Das Aufregendste an Robert Strombergs Märchenfilm "Maleficent" sind derweil Angelina Jolies Wangenknochen.


Feuer und Wasser. Hochofenschlacke wie glühende Lava, perlendes Wasser auf der Windschutzscheibe eines fahrenden Autos, Schneegestöber im anatolischen Winter. Mit Elementarbildern beginnt Yeşim Ustaoğlus Film "Araf". Der Titel bezeichnet einen Raum zwischen den Orten - eine Vorhölle, ein Fegefeuer, wenn man so will. Der Zwischenort aus Ustaoğlus Film ist freilich bloß eine Raststätte, irgendwo im Nirgendwo, einer der Orte, wo alle nur so kurz anhalten wie unbedingt nötig. Alle, außer den Menschen, die dort leben. Die selbst merkwürdig unfertig bleiben, in ihren verzweifelten Versuchen, sich ein anderes Leben zumindest zu erträumen. Denn viele dieser Träume ersticken schon im Keim, müssen ersticken, weil auch ein Traum die Idee von einem Anderen benötigt, das nicht mehr dem schmalen Horizont des Istzustands verhaftet bleibt.

Olgun hat einen Traum, doch sind die Sterne, nach denen er zu greifen versucht, beängstigend nah. Teilnehmer der TV-Quizshow "Deal or No Deal" will er werden, wie überhaupt das laute, bunte, dumpfe Fernsehgequäke stetiger Teil des Hintergrundrauschens von "Araf" ist. Man schnappt ein paar dieser hysterischen, leeren Bilder auf beim Ansehen des in sich selbst sehr ruhig rhythmisierten und visuell ausgefeilten Films und erschrickt vor den Menschen, die - in der Türkei, hierzulande oder sonstwo - ihr Leben und Erleben von diesem lauten Nichts strukturieren lassen. Zehra träumt - ein klein wenig - größer, die Avancen des verliebten Olgun weist sie zurück, als sie bei einem Rendezvous erkennt, dass der Verehrer ihr nichts anderes von der Welt zu sagen weiß als die Zusammenfassung der Gameshow vom Vorabend.

Auch Zehras Blick auf die Weite dort draußen ist aber einer der, die Bilderwelten von "Araf" machen das immer wieder deutlich, durch eine regennasse, verschwommene Scheibe geworfen wird. Bestenfalls kann sie Schemen erahnen von dem Leben, das sie eigentlich führen möchte. Dass es irgendetwas damit zu tun haben muss, diesen furchtbaren Ort zu verlassen, das weiß sie. Aber wie das gehen könnte, welches Leben einen erwartet, wenn man das, was man kennt, zurücklässt, das vermag sie bestenfalls in wässrigen, verfließenden Formen zu erhaschen, im Zerrinnen schon im Moment des Entstehens.



Yeşim Ustaoğlu findet in der ersten Hälfte von "Araf" poetische, fast zu sanfte, oft ästhetizistisch anmutende Bilder für dieses Herauswollen und nicht (aus sich) Herauskönnen, nur um ihren Film und ihre Protagonistin anschließend umso härter auf dem konkreten Boden der Wirklichkeit aufschlagen zu lassen. Die Ferne, das Woanderssein, das alles kristallisiert für Zehra in dem übermächtigen Bild der Lastwagen, die immer wieder aus einem Irgendwo kommend hier, im Nirgendwo, Rast machen, nur um anschließend weiterzufahren an einen Ort, der ein eigener, ein eigentlicher ist - und kein bloßer Zwischenstopp zwischen zwei anderen, wirklicheren Orten. Ein Ort, vielleicht, an dem man eine Identität entwickeln, ein Individuum werden kann. Ein Irgendwo, kein Nirgendwo. Ein Jemand, nicht bloß: Irgendwer.

Zehras Traum vom Anderswosein drückt sich schließlich nicht, wie noch zuletzt in Pelin Esmers "Watchtower", der mit "Araf" topografisch wie motivisch viel gemein hat, in einem jedenfalls ansatzweise souveränen Handlungsimpuls aus, sondern bleibt bloßer Traum des Gerettet-, des Fortgebrachtwerdens. Weil die Lastwagen ihr zu Ikonen eines erträumten Lebens werden, beginnt sie eine Affäre mit dem Fernfahrer Mahur, auf den sie eine große Liebe projiziert - wie im Fernsehen, vielleicht? Und auch wenn die Erfüllung ihres romantischen Traums ausbleibt, zeitigt ihr Verhältnis zu Mahur mit Zehras bald sehr konkrete Folgen, für Protagonistin und Film gleichermaßen.

Denn ebenso wie Zehra durch die körperliche Realität einer Schwangerschaft abrupt aus ihren schwärmerischen, aber ungerichteten Träumen gerissen wird, stellt sich im Tonfall des Films ein krasser Bruch ein, und vor dem leicht absurden und erneut ziemlich abrupten Happy End, das ziemlich wahrscheinlich alles andere als ein solches ist, steht eine quälende, brutale, schockartige Sequenz, die dem eher zurückgenommenen, glatten und durchaus arthousigen Gestus der vorherigen Inszenierung mit entschiedenem Tatvorsatz eine tiefe Schramme zufügt. Wie und ob das alles zusammenpasst, muss man später selbst beurteilen, aber immerhin: "Araf" ist ein Film, der mehr wagt, als er zunächst andeutet.

Jochen Werner

Araf - Türkei 2012 - Regie: Yeşim Ustaoğlu - Darsteller: Neslihan Atagül, Barış Hacıhan, Özcan Deniz, Nihal Yalcin - Lauzeit: 124 Minuten.

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Das Aufregendste an diesem Film sind die Wangenknochen - hoch und eckig und scharf, spitz zulaufend, ein Wunderwerk an Make-up und Prosthetik, das Angelina Jolies ohnehin schon fast grotesk ideale Gesichtszüge endgültig in den Bereich des absolut Artifiziellen und Stilisierten treibt: Das ist Camp. Vier Stunden dauerte die Applikation der gel-gefüllten Silikonprothesen jeden Tag, verraten die Produktionsnotizen, Angelina aber habe die Prozedur, die sie der bösen Fee Maleficent aus Disneys "Sleeping Beauty"-Zeichentrickfilm von 1959 anverwandeln sollte, geduldig über sich ergehen lassen. Jolie, deren Karriere in den frühen Nuller Jahren als Lara Croft begann, verkörpert also wieder eine Zeichentrick- und Kunstfigur; neben den Wangenknochen trägt sie als Maleficent wild geschwungene Widderhörner - die diese Disney-Realverfilmung in die Nähe von Matthew Barneys Cremaster-Zyklus rücken. Vor diesem Hintergrund und auch vor dem der präventiven Mastektomie, mit der Jolie letztes Jahr offensiv in die Öffentlichkeit ging, kann man vielleicht sagen, dass sich in der prosthetisch überformten Maleficent/Jolie ein Körperbild niederschlägt, das den Körper weniger als etwas Natürliches und Naturgegebenes begreift denn als etwas Gemachtes, als etwas Gestaltetes und zu Gestaltendes, als etwas, dem man nicht ausgeliefert ist - eine interessante, auch zwiespältige Vorstellung zwischen Utopie und Machbarkeit.

Maleficents Wangenknochen mögen einen ganzen Diskurs über zeitgenössische Körper- und Selbstverhältnisse in sich tragen, darüber hinaus aber ist der Film eine hohle Angelegenheit. Abgesehen von Maleficent ist alles schrecklich niedlich in dieser ersten Regiearbeit von Robert Stromberg, der eigentlich Production Designer ist und als solcher für "Avatar" einen Oscar gewonnen hatte. Gemütliche Holzhütten, trollige Waldviecher und flattrige Feen, die ein hochgestochenes und altertümelndes British English sprechen - das ist alles nicht meine Tasse Tee. Wie ein Fremdkörper wirkt Maleficents düstere Schönheit in dieser blöden Hobbit-Welt: ein Herr-der-Ringe-Verschnitt mit monumentalen Schlachtengemälden und kämpfenden Riesenbäumen, das Farbspektrum eine blau-grün-graue 3-D-Fantasysoße. Ein ästhetisches Vergnügen stellt "Maleficent - Die dunkle Fee" nicht dar - ganz anders etwa als Tarsem Singhs exaltierter Schneewittchen-Realfilm "Spieglein, Spieglein" von 2012, für dessen irre Kostüm- und Farbexzesse die Designerin Eiko Ishioka für einen Oscar nominiert wurde.



Bleibt die Frage nach der Geschlechterpolitik des Films: "Iss'n Mädchenfilm, iss'n Mädchenfilm", versicherten sich nach der Pressevorführung drei Zuschauer gegenseitig der Zielgruppe des Films, und in den Zeitungen wurde die Neu-Erzählung der Dornröschen-Geschichte aus Sicht der bösen Fee als an sich schon feministischer Akt gefeiert: Ent-Teufelung der bösen Frau, Umschreibung zur verratenen Liebenden. Fragt sich nur, was für eine Art von Post-Post-Post-Feminismus am Werk ist, wenn einstmals mächtige Frauen nun zu armen Opfern voller Mutterliebe stilisiert werden. Was daran eine wertvolle Botschaft für kleine Mädchen von heute sein könnte, weiß ich nicht.

Halten wir uns lieber an die Paratexte, die waren für mich, neben den Wangenknochen, der einzige Lichtblick an "Maleficent - Die dunkle Fee": etwa Lana Del Reys schön verschlafene Coverversion von "Once upon a Dream", die während der Abschlusscredits läuft. Und vor dem Film: ein ebenso genialer wie grotesker Teaser für den neuen Cinderella-Film von Disney, der 2015 in die Kinos kommen soll - ein endloses Strahlen, Funkeln und Glitzern, sphärische Chöre, die sich zu orgiastischen Höhen aufschwingen. Selten habe ich einen Schuh mit mehr fetischistischem Eifer in Szene gesetzt gesehen. Vielleicht wird das was, Cinderella, 2015.

Elena Meilicke


Maleficent - USA 2014 - Regie: Robert Stromberg - Darsteller: Angelina Jolie, Elle Fanning, Sharlto Copley, Lesley Manville, Imelda Staunton - Laufzeit: 97 Minuten.

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Außerdem diese Woche neu: "Kathedralen der Kultur" von Wim Wenders and friends. Hier unsere Kritik von der Berlinale 2014.