Im Kino

So sähe Freiheit aus

Die Filmkolumne. Von Lutz Meier
24.05.2014. Ein Film aus Russland öffnet alle Türen und Wände in Cannes - auf einem Festival, in das sich die Wirklichkeit mehr und mehr eingeschlichen hat.
Man kann es kaum mit ansehen, wie sich Andrei Petrowitsch Swjaginzew auf dem Podium der Filmfestspiele windet. Wieder und wieder knetet der russische Regisseur den roten Deckel einer Vittel-Flasche in seinen Händen, die Finger halten sich aneinander fest, auf der Stirn bildet sich ein Schweißfilm. "Ich weiß, dass ich nicht auf Ihre Frage geantwortet habe, aber dazu habe ich nichts zu sagen", sagt er. Journalisten hatten den Regisseur gefragt, wie sich seine jüngste Begegnung mit dem russischen Kulturminister auf seine künftige Arbeit auswirken würde. Nachdem der Filmemacher dem Minister seinen Film gezeigt hat, hat jener ihn laut Regisseur folgendermaßen kommentiert: "Es ist ein talentierter Film, aber er gefällt mir nicht." Der Staat ist der wichtigste Filmfinanzierer in Russland und Swjaginzew macht eine Bewegung, als wolle er sich hinter das Podium ducken.

Was für ein Gegensatz liegt zwischen der Vorstellung hier im Pressesaal des Filmfestivals von Cannes und der, die Swjaginzew kurz zuvor auf die Leinwand gebracht hat! Hier sieht er aus wie ein Künstler aus einem unfreien Land. Dort hat er einen Film gezeigt, der nur im Zustand der Freiheit entstehen kann.

Der russische Wettbewerbsfilm "Leviathan" wurde am letzten Tag des offiziellen Programms von Cannes gezeigt und hat den Blick eines Festivals auf einen Schlag geweitet, eines Festivals in das sich zum Schluss mehr und mehr die Wirklichkeit eingeschlichen hat. "Leviathan" ist ein großes poetisches Panorama, die tragische Geschichte von einem Mann mit seinem Freiheitsdrang, dem die Willkür seines Staates keinen Raum mehr lässt. Eine Geschichte über Korruption und die vergebliche Suche nach Gerechtigkeit vor einer großartigen Kulisse der Küstenlandschaft im Norden Russlands, und damit aus der schroffen Wirklichkeit des Landes, die der Film überhöht und zu einer Geschichte von biblischem Format fügt. Erzählt, wie in einem großen russischen Roman aus dem 19. Jahrhundert, in dem Landschaft, Individuum und die unverrückbaren Grenzen der Staatsmacht nie zur Harmonie finden und immer zur Gewalt.




Wir sehen dann, wie Kolia, der Held des Films, Rettung beim Wodka sucht, der dem Film viele lustige Momente beschert, aber natürlich keine Rettung geben kann. Und darum ist natürlich auch eine andere Bemerkung des Kulturministers hochpolitisch, von der Swjaginzew berichtet: "So wird in Russland nicht getrunken!" Tatsächlich wird in Russland wohl genau so getrunken, Hauptdarsteller Alexei Serebriakow und seine Kollegen können da einiges sehr Anschauliche berichten.

Jedenfalls hat die Wettbewerbsjury unter der neuseeländischen Regisseurin Jane Campion ganz zum Schluss eine Gelegenheit erhalten, gleichzeitig ein politisches und poetisches Signal in die Welt zu schicken, wenn sie am Samstag Abend die goldenen und silbernen Palmen verteilen. Wann gibt es schon mal einen Film, der so sehr universelle Tragödie und konkretes Bild der Zeit gleichzeitig ist? Der, allein weil es ihn gibt (und weil der nämliche Kulturminister zusammen mit dem russischen Filmfonds die aufwändige Produktion zu großen Anteilen finanziert haben), Hoffnung lässt für sein Land.
Seine weiten Bilder, die zeigen, wie Freiheit aussehen könnte, bleiben nämlich länger im Kopf als die Erinnerung an Swjagintsews Windungen auf dem Podium.

Zehn Tage lang mussten Jane Campion und ihre Jurykollegen (darunter der Schauspieler Willem Dafoe und die Regisseure Sofia Coppola und Nicolas Winding Refn) sich durch ein Filmprogramm arbeiten, das das Beste aus einem Kino zu konzentrieren versprach, das weder aus seiner Finanz- noch aus seiner Sinnkrise herausfindet. Dafür, dass Cannes auch dieses Mal wieder einige der lebendigeren Ecken der Filmwelt geflissentlich ignoriert hat und sich weitgehend auf Europa und Nordamerika konzentriert hat, ist die Konzentration einigermaßen gelungen. Das konventionelle Erzählkino ist überraschend munter - was durch Filme wie den US-Ringerkrimi "Foxcatcher" von Bennett Miller oder "Deux Jours, une Nuit" belegt wurde, das neue Sozialdrama der Gebrüder Dardenne aus Belgien, die schon zweimal hier gewonnen haben.



Der Comedian Steve Carell hätte einen Darstellerpreis dafür verdient, wie er dem gefährlich gestörten US-Milliardär John Du Pont mit seiner Ringerleidenschaft in "Foxcatcher" trotz allem seine Würde lässt. Und Oskarpreisträgerin Marion Cotillard den Darstellerinnenpreis dafür, wie sie der von Depressionen geplagten und von Arbeitslosigkeit bedrohten Sandra sich in einer Welt behaupten lässt, die so wirklich wie menschenfeindlich ist. Vielleicht ein Zufall, aber ein bemerkenswerter, mit welcher Sehnsucht sich das Kino neuerdings wahren Geschichten der letzten vier Jahrzehnte des letzten Jahrhunderts zuwendet, also einer Zeit, von der wir glauben, dass in ihr die Welt und das Kino noch in Ordnung war. Ins offizielle Programm des Festivals schafften es das Biopic über Grace Kelly in Monaco, der Aufstieg von Yves Saint-Laurent, der Ringermord in "Foxcatcher" oder der neue Film von André Techiné, der in L"Homme qu"on Aimait Trop" einen Kriminallfall aus dem Nizza der 1980er mit Catherine Deneuve und einem Röntgenblick für menschliche Beziehungen aufarbeitet. Bedeutet die Hinwendung zu wahren Geschichten der Vergangenheit eine Krise des Geschichtenerfindens für die Gegenwart?

So konventionell sich das (beste) Erzählkino zeigte, so rar blieben jedenfalls Bilder und Geschichten, die das schon Dagesehene sprengten. Beinahe hätte man fürchten müssen, dass sich das Kino in das Gewohnte flüchtet, wäre nicht an Tag acht im grasgrünen Anzug der Kanadier Xavier Dolan an die Croisette gekommen und hätte das Festival mit einer Mutter-Sohn-Beziehung aufgemischt, die die Welt im Kino so garantiert noch nicht gesehen hat. In einem Filmformat, das etwa die Seitenverhältnisse eines Iphone-Bildschirms hat (und dennoch auf traditionellem Zelluloid gedreht wurde), gehen Diane und ihr aufmerksamkeitsdefizitsyndrom-auffälliger 15-jähriger Steve derart laut, fluchend und heftig aufeinander los, dass es schwer erklärbar ist, dass sich der Film bei aller Krassheit, Lautstärke und Gewalt als Studie in Mutterliebe versteht.


In einer der poetischsten Szenen des Films hängt Steve der stets komplett jenseits von Gut und Böse gekleideten Mutter ein kitschiges Goldkettchen in der Form des Worts "Mommy" um ("Mommy" ist auch der Titel des Films), das er irgendwo besorgt hat. Diane vermutet (wohl zu recht): geklaut hat, was zu einem Riesengeschrei führt und dazu dass Steve die Mutter fast erwürgt, die ihn, als die Aufregung vorbei ist, mit einer unnachahmlichen Mischung aus Zuneigung und Verzweiflung anschaut. Ein großer Spaß, ein Film, in dem nichts funktioniert, wie in allem anderen und dessen Traurigkeit darum umso größer ist.

Vielleicht fing die Annäherung an die Wirklichkeit schon damit an. Den Weg in die harte Realität versuchte auf ganz andere Art der Franzose Michel Hazanavicious, der all das Geld, dass er mit seiner Oskar- und Palmen-gekrönten 2011-L"art-pour-l"art-Fingerübung "The Artist" verdient hat, in ein Kriegsdrama über den russischen Militäreinsatz in Tschetschenien steckte. "The Search", macht es sich zwar zeitweise etwas leicht, indem Hazanavicious die Geschichte großteils aus den Augen einer EU-Menschenrechtsbeauftragten zeichnet. Der Film brachte aber angesichts der jüngsten Vorgänge in der Ukraine schon einmal ein Gefühl von den wahren Konflikten auf die Leinwand. Wie die tatsächlich aussehen, machte dann kurz darauf der Ukrainer Sergei Losnitza erfahrbar, der von November bis Ende Februar die Auseinandersetzungen auf dem Maidan gefilmt hat. In so starken wie starren Einstellungen zeigt sein Film, ganz ohne Protagonisten, Interviews, ganz ohne die großen Akteure der Geschichte überhaupt ins Bild zu nehmen, wie sich Protest formiert, wie Gewalt, Sieg, Enttäuschung entstehen und wie weit der Weg zur Freiheit ist.
 Insofern war es eine passende Dramaturgie, dass der Russe Swjaginzew erst am letzten Tag des offiziellen Programms angesetzt wurde und sich der Kreis schloss. Freiheit im Film ist möglich, verspricht sein Werk. Die Freiheit des Films aber ist in Gefahr, das zeigt sein Auftritt.