Im Kino

Die Sturheit der Körper

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster
18.06.2014. Katell Quillévéré ist in seinem berückenden Zweitwerk "Die unerschütterliche Liebe der Suzanne" dem Diskontinuierlichen am Leben auf der Spur. "Cuban Fury" von James Griffiths lädt dagegen zu einer eher anstrengenden Tanzstunde.


Die Mutter ist tot, und doch wichtig für den Film, als strukturierende Abwesenheit; tatsächlich ist ihr Grab, um den sich immer wieder versammelt, was jeweils noch von der Familie bleibt, der einzige räumliche Fixpunkt des Films. Oder vielleicht noch als zweite Konstante: der LKW-Parkplatz, auf dem der Vater, ein Fernfahrer, seine Maschine parkt. Auch das eher ein negativ bestimmter Ort, weil er die langen Abwesenheiten des allein erziehenden Nicolas Merevsky (François Damiens) bezeichnet, jene vielen Tage, in denen dessen beiden Töchter Suzanne (Sara Forestier; zuletzt in Jacques Doillons "Love Battles" kratzend, beißend, fauchend, durchweg auf 180, hier ruhiger, passiver, teils fast wie sediert wirkend) und Maria (für mich die Entdeckung des Films: Adèle Haenel) auf sich allein angewiesen sind.

Ein Familienleben, das fast nur aus einer Folge von Abschieden (Abschiedsschmerz) und Ankünften (Wiedersehensfreude) zu bestehen, das kaum einen Normalmodus zu kennen scheint. Nur einmal, und dann wie nebenbei, ist in den von unmarkierten Zeitsprüngen, von brutalen Ellipsen bestimmten Anfang des Films eine Situation eingefügt, in der die Familie, im gemeinsamen Spiel, ganz bei sich selbst ist. Ansonsten geht es dem Film eher darum, glaube ich, einen Eindruck davon zu geben, wie das Leben einem unter den Fingern zerrinnt, wie der Alltag sich nicht auf eine Substanz, etwas Greifbares, einen positiven Wert festlegen lässt, wie man ihn immer nur momenthaft, flüchtig fixieren kann.

Die beiden Schwestern werden älter, bringen die Pubertät in wenigen Ellipsen hinter sich, die Haarfarbe ändert sich fast bei jedem Zeitsprung, der jeweilige Selbstentwurf, die jeweilige Zukunftsplanung auch. Die Beziehung der beiden Schwestern zueinander - die vielleicht das schönste ist an diesem schönen Film - verändert sich zwar ebenfalls von Szene zu Szene, aber nicht in jeder Hinsicht. Es gibt eine gewisse Sturheit der Körper, die eben doch bleiben, wie sie sind: Maria ist die größere der beiden, stellt sich immer wieder schützend vor Suzanne, die mit ihrer zerbrechlichen Statur und dem schlanken Gesicht etwas Alienartiges hat. Abgeschirmt werden muss sie von dem Vater, der zwar nicht gewalttätig ist, aber aufbrausend, der mit der Überforderung, die die Situation für ihn zweifellos darstellt, nicht umzugehen weiß.

Wahrscheinlich erzählen Schauspielerkörper im Film eben qua Körperlichkeit immer eine eigene, zweite Geschichte, die mit der ersten, der manifesten Spielfilmhandlung höchtens partiell in Deckung zu bringen ist. In "Die unerschütterliche Liebe der Suzanne" wird diese Diskrepanz besonders augenfällig (was ganz und gar nicht gegen den Film spricht...), weil Katell Quillévérés zweite Regiearbeit einerseits eine episch zeitgreifende, tatsächlich mehrere Jahrzehnte umfassende Spielhandlung entwirft; und sich andererseits fast ausschließlich für intime Momente, für den ungeschützten, von keinem sozialen Spiel überformten Körper interessiert. Während sich die Figuren in der Diegese verändern und ständig neu erfinden können, sind die Körper (hinter der leicht durchschaubaren Maske) schwerer form- und veränderbar. Höchstens werden sie im Lauf des Films - und vom Film - demaskiert, wie zum Beispiel in dem Moment, in dem man Damiens, den Darsteller des Vaters, plötzlich in ganzer Größe von hinten sieht: als ein alternder Mann mit Halbglatze entpuppt er sich da plötzlich, als ein Mann, der allein und verloren seinem Leben hinterher schlurft. Man erkennt sofort: Das war von Anfang an in ihm angelegt, hinter der zunächst noch virilen Fassade.



Diese Rückenansicht ist ein Akt der Abstandnahme: Jetzt gehen wir für einen Moment aus der Geschichte heraus, und schauen einfach nur auf diesen Menschen, der sich da an einer Häuserfront entlang bewegt. Das ist eine der großen Stärken des Films: dass er nicht nur für Figuren in einer Handlung, sondern auch für Menschen im Raum ein Auge hat. Weit verbreitet ist sonst gerade im europäischen Arthauskino jene überemphatische, vitalistische Kamera, die sich atemlos und eng an die Figuren schmiegt. Selbst gute Filme wie "Blau ist eine warme Farbe" leiden darunter, dass sie ein weitergehendes, vielleicht als "dokumentarisch" zu bezeichnendes Interesse an ihren Darstellern und Schauplätzen nicht haben. Quillévéré geht zwar ebenfalls vom intimen Blick aus, doch er zieht zwischendurch immer wieder Distanzen ein. Einmal filmt er zum Beispiel den erwähnten LKW-Parklatz in der Totalen: die beiden Schwestern alleine, klein und verloren, zwischen den riesenhaften Lastern um sie herum. Das ist der ganze Film in einem Bild.

Die Schwestern werden älter, nur eine findet einen selbstbestimmten Weg in die Welt hinaus, die andere wird aus der Bahn geworfen von der Liebe, die über sie und den Film regelrecht hereinbricht (und zwar gleich mehrmals), die nicht vermittelbar, nicht in Kommunikation auflösbar ist - nicht einmal in eine Kommunikation der Liebenden untereinander; da wird der sonst stets aufs Höchstpersönliche zielende Film erstaunlich diskret. Suzanne lernt Julien (Paul Hamy) kennen, von dem sie bald ein Kind bekommt, das ihr wenige Szenen später von den Behörden weggenommen wird, das sie dann noch einmal wenige Szenen später bei einer Pflegefamilie besucht, dem sie bei diesem Besuch wieder nahe zu kommen versucht, was kaum möglich scheint angesichts der Rahmungen, in der diese neue Beziehung von Anfang an eingelassen ist, angesichts der Tatsache, dass jeder Blickwechsel Gegenstand von Verhandlung ist - in solchen Passagen, in denen das Diskontinuierliche am Leben direkt Form zu werden scheint, ist der Film ganz bei sich.

Der deutsche Verleihtitel nimmt den Film dagegen wieder einmal von dessen schwächster Seite. Denn das Hochromantische mit der "unerschütterlichen Liebe", die auch vor dem Gefängnis und vor Nordafrika nicht zurückschreckt, ist in Quillévérés Film zwar durchaus enthalten, aber so ganz rund fühlen sich die entsprechenden Passagen nicht an. Als Störmoment, als Gewaltakt, der einen aus der Bahn wirft, passt die Liebe in diesen auf berückende Weise sprunghaften Film. Das Leben ist eben gerade, wie der Film in seinen Bildern, im Spiel der beiden Hauptdarstellerinnen eindrucksvoll nachvollzieht, hochgradig erschütterlich. Dass dann hinterrücks ausgerechnet mit der Liebe, die für einige besonders grundsätzliche Unsicherheiten verantwortlich ist, doch wieder eine ihrerseits unerschütterliche Konstante eingeführt werden soll, leuchtet schon prinzipiell nicht ein; und die erst einmal klug unterbestimmt bleibende Beziehung von Julien und Suzanne gibt einen solchen Pathos erst recht nicht her.

Lukas Foerster

Die unerschütterliche Liebe der Suzanne - Frankreich 2013 - Originaltitel: Suzanne - Regie: Katell Quillévéré - Darsteller: Sara Forestier, Adèle Haenel, François Damiens, Paul Hamy, Lola Dueñas - Laufzeit: 94 Minuten.

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Beginnen wir mit einer hochtrabenden These: Es gehört zu den größten Katastrophen in der Geschichte des Kinos, dass das Genre des Musicals, zumindest in den USA und in Europa, seit nun schon einigen Jahrzehnten fast nicht mehr existiert; und dass es ersetzt wurde durch eine seiner ärgerlichsten Schwundstufen: den Tanzfilm. Der Tanzfilm nimmt vom Musical nur die oberflächlichsten Aspekte des Spektakels, er streicht alle utopischen Überschüsse weg und ersetzt sie durch neoliberalen Selbstoptimierungsquark - ideologisch ist fast alles, was seit "Saturday Night Fever" im Genre entstanden ist, so trist und langweilig, dass man es gar nicht mehr ausbuchstabieren möchte (ich lasse es hier auch einfach mal wirklich bleiben); jedenfalls geht es, wenn die Musik einsetzt, nicht mehr um ein poetisches Verhältnis zur Welt, sondern um einen Pokal. Gut, manchmal außerdem um eine Frau. Aber doch fast stets in erster Linie um den Pokal, erst in zweiter Linie um die Frau.

Es gibt natürlich Ausnahmen, zur Zeit vor allem die "Step Up"-Filme, in denen durchgeknallte bis außerweltliche Underground-Tanztruppen durch grotesk ausgestaltete bonbonbunte Fantasiewelten toben, die vielleicht wirklich als post-MTV-Pendant zum Schottischen Märchendorf aus Vincente Minnellis "Brigadoon" durchgehen können. Die britische Produktion "Cuban Fury" ist dagegen mitten im alltagsergebenen Mainstream des Genres: Das emotional und sexuell gedämpfte Leben, das Bruce Garrett (Nick Frost) zwischen fluffig-gestreamlineten Großraumbüro, Golfexkursionen mit seinen deprimierenden Kumpels und traurigem Tagesausklang bei der mütterlichen Schwester führt, ist zweifellos trist; aber die andere Welt, die ihn von all dem erlösen soll, die Welt des Salsa, ist mindestens genauso trist. Gegen Routine bietet "Cuban Fury" nur auf: Drill. Das "echte Leben", das er nicht hat, soll Bruce eingeprügelt werden.



Verbinden könnte man das mit einer weiteren hochtrabenden These: Nirgendwo im Kino der Gegenwart sieht Tanzen so scheiße aus wie in Tanzfilmen. (Auch hier eine Ausnahme: die "Step Up"-Filme; in denen sieht der Tanz aber eben auch nicht einmal mehr entfernt nach Tanz aus, sondern eher nach einer besonders bizarren bodymorph-Technik aus einem Science-Fiction-Film). Grundsätzlichere soziale Unsicherheiten wie vor allem das Wechselspiel aus Sich-Beobachtet-Fühlen und momenthaftem Selbstverlust, was ja sonst fast stets zum Tanzen gehören dürfte, sind in den Wettbewerbs-Settings der Tanzfilme ohnehin nicht vorgesehen: Blick und Bewegung, Tanz und Gegen-Tanz sind in Hierarchien eingespannt, festen Regeln unterworfen. Selbst mit der visuellen Eleganz, beziehungsweise der Erotik ist es meist nicht weit her, wenn Tanz auf Konkurrenz reduziert wird. "Cuban Fury" könnte man in dieser Hinsicht fast reflexive Qualitäten unterstellen: derart konsequent unsinnlich und (oft nicht nur) latent aggressiv wie in den Salsa-Schulen und -Wettbewerben, um die sich James Griffiths" Erstlingswerk dreht, wirkt Tanz selbst im Tanzfilmgerne selten: Der Paartanz wird zum Waffengang, attackiert wird mit allem, was zur Verfügung steht, gerne auch mal mit sekundären Geschlechtsmerkmalen. Im Verbund mit der allgemeineren Unmusikalität der Regie ist das vor allem: anstrengend.

Was bleibt (1): Die Erkenntnis, dass aus all dem trotzdem ein ziemlich guter Film hätte werden können, wenn Griffiths nur den Tanz Tanz hätte sein lassen. Überhaupt ist "Cuban Fury" deutlich erträglicher, als sich das bislang vermutlich anhört, weil es zwischendurch längere Passagen gibt, die sich anfühlen wie eine gut gemachte lowbrow-Sitcom; genauer gesagt wie eine workplace comedy in der Tradition von "The Office". Tatsächlich kennt man Rachida Jones, die mit routiniert austarierter Ungeschicklichkeit gleichzeitig Frosts Boss und love interest gibt, aus der amerikanischen Version der Büro-Serie; Bruces andauernd Peniswitze reißender, angemessen unerträglicher Kollege Drew dagegen ist eher eine entschärfte Version von "Finchy" aus dem britischen Original (Darsteller Chris O"Dowd wiederum ist vor allem aus "The IT Crowd" bekannt, einer weiteren, um ein vielfaches plumperen workplace Sitcom; Comedy-Nerds, man merkt es wohl schon, werden so oder so ihren Spaß haben mit dem Film...).

Was bleibt (2): Verwunderung darüber, dass ein Film, der von Anfang an Homophobie beziehungsweise deren Überwindung als Thema und Bewegungsmotor der Spielhandlung setzt (die Schulkameraden, die den jungen Bruce ob seines flamboyanten Tanzkostüms hänseln); der durchaus auch eine Ahnung davon gibt, dass in dieser Hinsicht Bruces Gang ins Tanzstudio eben doch eine Befreiung darstellen könnte - vor allem, weil er dort auf den flamboyant schwulen Iraner Bejan trifft, die einzige wirklich originell und liebevoll gezeichnete Figur des Films; dass ein solcher Film dann selbst im fast schon verzweifelt Sinnlichkeit zu evozieren versuchenden Finale über halbgare Gesten der Toleranz nicht hinaus kommt. Andererseits passt das doch wieder: Dem Tanz bleibt in "Cuban Fury" alles Begehren äußerlich.

Lukas Foerster

Cuban Fury - GB 2014 - Regie: James Griffiths - Darsteller: Nick Frost, Rachida Jones, Chris O"Dowd, Ian McShane, Kayvan Novak, Olivia Colman - Laufzeit: 98 Minuten.