Im Kino

Das Flüstern der Toten

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Jochen Werner
10.07.2014. In "Wara no tate" inszeniert der japanische Vielfilmer Takashi Miike mit kalter Eleganz eine ferngesteuerte Menschenjagd. Dem DIY-Künstler Zachary Oberzan genügt derweil für sein Rambo-Remake "Flooding With Love for the Kid" ein Budget von 95 Dollar.

Dass Polizisten Kriminelle nicht fangen, sondern beschützen müssen, ist im Kino nichts Neues. Diese invertierte Situation entsteht sonst vor allem, wenn ein Kronzeuge vor einem Prozess vor den Killern zum Beispiel eines Mafiaclans in Sicherheit gebracht werden muss. "Wara no tate - Die Gejagten", der neue Film des japanischen Vielfilmers Takashi Miike (schon an die 100 Regiearbeiten haben sich seit den frühen 1990ern angesammelt - in Deutschland ist selbst auf DVD nur ein Bruchteil erschienen) variiert diese Konstellation in zwei Punkten: Zum einen ist Kunihide Kiyomaru, der Kriminelle, kein "kleiner Fisch", sondern ein im ganzen Land verhasster psychopathischer Serienkiller, der außerdem der Gesellschaft keinen Dienst erweisen, sondern lediglich seiner eigenen Verurteilung zugeführt werden soll; und zum anderen macht nicht nur ein Gangstersyndikat Jagd auf ihn, sondern ein ganzes Land: Der Vater eines seiner Opfer hat eine derart hohe Belohnung auf den Tod des Verdächtigen ausgesetzt, dass zahllose Japaner bereit sind, für die nebeneinander aufgestapelten Yen-Notenbündel, die auf einer eigens zu diesem Zweck eingerichteten Website locken, sogar eine lebenslange Inhaftierung in Kauf zu nehmen.

Schwer zu sagen, ob diese Veränderungen das Polizeifilmgenre nur radikalisieren oder komplett paradoxisieren. Da setzen ein paar Cops unter der Führung des traumageschädigten Mekari ihre (offensichtlich wenig freudvolle) Leben aufs Spiel, für einen Mann, der einerseits sowieso bald hingerichtet werden wird, der andererseits jederzeit, ohne mit der Wimper zu zucken, weitere Morde begehen würde. Es geht in "Wara no tate" offensichtlich nicht mehr um die Ambivalenz, die daraus resultiert, dass in einem Rechtsstaat die kleine, aber persönlich nachfühlbare Ungerechtigkeit gegenüber der großen, aber abstrakt bleibenden Rechtsordnung das Nachsehen haben muss. Das liegt einerseits daran, dass die Rechtsordnung bei Miike auf die reine Prozessualität (auf den Weg von A nach B, der unbeschadet überstanden werden muss) reduziert wird; andererseits liegt es daran, dass es nirgendwo im Film nachfühlbare Gerechtigkeit gibt. Dafür: jede Menge Selbstgerechtigkeit.

"Wara no tate" inszeniert den kompletten Zusammenbruch sozialer Ordnung (und ist, trotz der generischeren Oberfläche, auf dieser allegorischen Ebene kaum weniger radikal als "Snowpiercer", ein anderer jüngst in den deutschen Kinos angelaufener asiatischer Thriller). Die Alltagsgewissheit, dass ein Mensch seinen Mitmenschen, denen er auf der Straße begegnet, eher nicht an die Gurgel geht, gilt nicht mehr. Das Chaos, das unter der zivilisatorischen Kruste hervorbricht, ist nur auf den ersten Blick eingehegt, durch die Spielregeln des Genrekinos begrenzt: Innerhalb dieser Grenzen ist das Chaos, merkt man schnell, für alle Beteiligten der neue Alltag. Und ein Außen des Spiels gibt es höchstens theoretisch - eine Repräsentanz im Film hat es nicht. Die Polizisten, die Kiyomaru bewachen sollen, sind kaum besser als dieser in die Gesellschaft integriert. Eine der zum Schutz des Häftlings abkommandierte Beamtin formuliert schon früh im Film dessen subversiven Einsatz: Die größte Gefahr droht Kiyomaru nicht durch Außenstehende, die sich amateurmäßig an der Menschenjagd beteiligen, sondern von Seiten ausgebildeter, bewaffneter Killer, die fast uneingeschränkt Zugang zu ihm haben - mit anderen Worten: von Seiten der Polizei.


Den Film selbst kann dabei nichts aus der Ruhe bringen. Längst ist der einstige junge Wilde Miike zum Klassizisten gereift, "Wara no tate" sieht, mit seinen sorgfältig und kohärent ausgearbeiteten Aktionsbildern, auch mit den zwischendrin eingelassenen Ruheinseln, in denen die unbelebte Umwelt im Verbund mit dem starren framing die ohnehin kaum weniger toten Figuren zu erdrücken scheint (Mekari allein in seinem sterilen Appartment, die Vorhänge dimmen das Tageslicht, neutralisieren die Welt), eher nach John Frankenheimer als nach Tarantino aus. Selbst die Schüsse zu Beginn direkt in die Kamera können solcher Grundsouveränität nichts anhaben, der Film interessiert sich eh eher für den Rauch des Mündungsfeuers, der noch ein paar Sekunden in der Luft hängen bleibt. Die Form ist neutral, unbestechlich, bleibt in ihrer kalten, fast-schon-Blockbuster-Eleganz dem Chaos äußerlich. Die Zersetzung des sozialen Zusammenhalts, das zentrale Thema fast aller Miike-Filme, produziert diesmal keinerlei euphorischen Überschuss.

Was auch, vielleicht sogar in erster Linie, an der - mindestens - eigenwilligen Besetzung liegt. Der Hauptdarsteller Takao Ohsawa wirkt erst ziemlich hölzern, er bleibt dann aber so lange stur bei seinen zwei bis drei verbissenen Gesichtszügen, bis man sie doch lieb gewinnt. Genau wie den weinerlichen Schmollmund von Nanako Matsushima, die seine Partnerin gibt und insgesamt etwas unterbeschäftigt wirkt. Bei Tatsuya Fujiwara, der Kiyomaru spielt, hilft alles nichts: der sieht einfach von Anfang bis Ende aus wie gerade erst einer Boygroup entsprungen - den Psychokiller nimmt man seinem geheimnislos weichen Gesicht, in dem ganz und gar nichts lodert, so wenig ab, dass diese spezielle Besetzung schon fast als Brecht"scher Verfremdungseffekt durchgeht. Im Kern ist "Wara no tate" vermutlich ohnehin ein Geisterfilm. Fast ohne inneren Antrieb scheint sich das Personal gegenseitig durch Japan zu jagen. Beide Seiten sind ferngesteuert: die eine von einer in Kolumbien gehostete Menschenjagdwebsite, die andere, wie Mekari einmal bemerkt, vom "Flüstern der Toten".

Lukas Foerster

Wara no tate - Die Gejagten - Japan 2013 - Originaltite: Wara no tate - Regie: Takashi Miike - Darsteller: Takao Ohsawa, Tatsuya Fujiwara, Nanako Matsushima, Goro Kishitani, Masato Ibu - Laufzeit: 124 Minuten.

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Der multimedial aktive New Yorker Künstler Zachary Oberzan stellt am 14. und 15.07. gemeinsam mit Perlentaucher-Autor Jochen Werner zwei seiner Filme im Berliner Kino Moviemento vor.



Ein Mann. Ein Apartment. 26 Rollen. 95 Dollar Budget. Eine große Liebe. Und am Ende: ein ziemlich einzigartiger Film. Zachary Oberzan ist ein Träumer, und er ist glücklicherweise einer von jenen Träumern, die aus ihren Träumen manchmal, gegen alle Pragmatismen und Widerstände, Kunst schöpfen. Oberzans Traum war es, seit er das Buch in jungen Jahren zum ersten Mal las, eine werkgetreue Verfilmung von David Morrells Roman "First Blood" zu inszenieren - jener Vorlage, die auch Ted Kotcheff 1982 zu seinem Post-Vietnam-Meisterwerk "Rambo" inspirierte. Zu einem Klassiker, der Sylvester Stallone als - wie sich in der Fortsetzung "Rambo 2: Der Auftrag" erwies, ideologisch ziemlich flexible - Ikone des 80er-Jahre-Männerkinos zementierte, der aber auch sehr frei mit Morrells Stoff umging.

Ein junger Mann vagabundierte damals wie heute in den Film und in die Kinogeschichte hinein, ein wenig abgerissen, sehr melancholisch und sehr schweigsam. Sein Name ist John Rambo, und sein destruktives Potenzial setzt sich in der Begegnung mit Wilfred Teasle, dem Sheriff des Bergkaffs Madison, Kentucky frei. Anfangs vom Hardliner Teasle als störendes Element, als Außenseiter und potenzieller Gefahrenfaktor für die verschlafene und ziemlich xenophobe Gemeinschaft der ruralen USA identifiziert, reagiert Rambo auf die Aggression mit harscher Gegengewalt: Während deren Versuch, ihm den Kopf zu rasieren, entwindet er sich den Polizisten und tötet einen von ihnen mit besagtem Rasiermesser. Rambo flüchtet in die Wälder, und bald beginnt, wie schon in Kotcheffs Film, ein gnadenloses Duell auf Leben und Tod.

Im Unterschied zu "Rambo" legen die Romanvorlage und Oberzans Adaption deutlich mehr Wert auf die psychologischen Dynamiken zwischen Rambo und seiner Nemesis, seinem ebenso besessenen wie unerbittlichen Antagonisten Teasle, dessen Geschichte mindestens ebenso wichtig ist. Folgerichtigerweise setzt Zachary Oberzan im Titel einen Akzent in dessen Richtung - die Formulierung "Flooding with Love for The Kid", zunächst enigmatisch, dann spät im Film eingelöst, verankert die Perspektive des Stoffes tief in der von obsessiver Hassliebe strukturierten Innenwelt des immer manischer dem eigenen Untergang entgegen strebenden Sheriffs.


Der Mangel, monetär wie technisch, ist dem Film in jeder Sekunde offensiv eingeschrieben, nie versucht Oberzan aus dem DIY-Homevideocharakter seines Debütfilms einen Hehl zu machen, nie versucht "Flooding with Love for The Kid" teurer auszusehen, als er war. Und schafft etwas Wundersames und Wunderbares damit: Das oberflächlich Defizitäre tritt, nicht nach einer Weile, sondern verblüffend schnell, zurück hinter den Sog des Erzählten und der darin spürbaren Sorgfalt und Leidenschaft. Denn, und das ist das Allerschönste daran, "Flooding with Love for The Kid" ist nicht einen Moment lang ironisch. Es geht Oberzan nicht um den destruktiven Gestus der Persiflage oder das postmoderne Spiel mit filmischen Mitteln, schon gar nicht darum, mit bewusst "schlechter" Inszenierung Amüsement zu erregen. Sein Film entspringt keinem Geist der Ironie, sondern einem der Liebe.

Der Vollblutschauspieler Zachary Oberzan stürzt sich in jede einzelne der 26 Rollen (inklusive denen der Spürhunde) mit vollem, ungebrochenem darstellerischem Esprit und nimmt noch die unbedeutendste Nebenfigur ernst, verleiht ihr Würde. Durch dieses Brennen, diese Unbedingtheit gegen widrigste Umstände, diese sich direkt auf den Zuschauer übertragende Leidenschaft in Inszenierung und Spiel wird "Flooding with Love for The Kid" zu einem Fanal für die poetische Kraft des Kinos, zu einem Glaubensbekenntnis an die bleibende Faszinationskraft des filmischen Geschichtenerzählens, und zu einem faszinierenden Experiment um die Frage, wieviel man dem Kino von seinen Illusionsmechanismen wegnehmen und trotzdem noch ein packendes, mitreißendes Stück Erzählkino inszenieren kann. Das Ergebnis lautet: fast alles, solange nur Liebe und Leidenschaft auf eine manische Entschlossenheit treffen. Flooding with Love for The Cinema.

Jochen Werner

"Flooding with Love for The Kid" läuft am 14. Juli 2014 um 21:30 Uhr. Oberzans "Your brother. Remember?" folgt am 15. Juli um 21:30 Uhr.