Im Kino

Im Off der Fantasie

Die Filmkolumne. Von Rajko Burchardt, Lukas Foerster
16.07.2014. Das gibt es nicht alle Tage: Gleich zwei asiatische Animationsfilme starten in den Kinos. Altmeister Hayao Miyazaki gelingt mit seinem Biopic "Wenn der Wind sich hebt" ein ambivalentes Meisterwerk. Und Yeon Sang-hos "The King of Pigs" lotet Abgründe der koreanischen Gesellschaft aus.


"Wie der Wind sich hebt", der aller Wahrscheinlichkeit nach letzte Film des großen Animationskünstlers Hayao Miyazaki, hatte mich schon in der ersten seiner vielen Szenen, die einen kontinuierlichen Übergang von der objektiven Erzählwelt in das subjektive Reich der Imagination darstellen, gefangen genommen: Der junge Jiro Horikoshi ist erst einmal nur eines von vielen Kindern, die vom Fliegen träumen. Er stellt sich vor, wie es wäre, aufs Dach des eigenen Hauses steigen, und von dort aus in den Himmel schweben zu können. Später im Film wird Jiro zum genialen Ingenieur heranwachsen, wird als solcher bei den Mitsubishi-Werken maßgeblich verantwortlich sein für die Entwicklung der legendären "A6M Zero"-Kampfflieger (jene Bomber, die 1941 Pearl Harbor in Schutt und Asche legten), wird seinen Obsessionen alles, vor allem auch seine große Liebe Naoko opfern… Im ersten dieser wunderschönen Träume ist von all dem noch nichts zu spüren, da vertreibt er lediglich mit einem vogelartigen Fluggerät die Nacht. Der Tag bricht an.

Endgültig begeistert war ich ein paar Szenen später: Jiro ist inzwischen Student in Tokyo. Während einer Zugfahrt begegnet er zunächst Naoko, gleich darauf werden die beiden vom Kanto-Erdbeben überrascht, jenem Unglück, das die japanische Hauptstadt 1923 fast komplett zerstörte. Die zahllosen Katastrophenpornografen Hollywoods sollten vor Neid erblassen angesichts dieser Sequenz. Auf die erste Eruption, die sich als direkter Riss durchs Bild manifestiert, folgt nicht einfach undifferenziertes Chaos und Hektik, die sich dann doch nur wieder zu einer Heldengeschichte umformt, sondern erst einmal eine gespenstische Ruhe, fast schon eine Lähmung des Imaginationsflusses: Die Natur übernimmt die Dramaturgie, gibt den Rhythmus vor, der Mensch ist, für ein kurzes Intervall, grundlegend entmächtigt. Dass die schon immer ein wenig zum Pittoresken neigende handwerkliche Souveränität der Ghibli-Animation in der Lage ist, sich selbst derart eindringlich zu erschüttern, hätte ich nicht für möglich gehalten.

Nun ist "Wie der Wind sich hebt" allerdings kein Film, der es einem leicht macht mit der eigenen Begeisterung. Denn es drängen sich, zumindest wenn man das Kino nicht für einen von Gesellschaft und Geschichte isolierten Raum hält, eine Reihe von Fragen auf. Die nächstliegende: Kann man einen Mann, dessen Erfindungen Teil einer faschistoiden Kriegsmaschinerie wurden, als idealistischen, weltfremden, romantischen Helden zeichnen? Zum Beispiel aber auch: Was passiert, wenn sich ein humanistisch-pazifistischer (dabei aber normalerweise gerade nicht: naiver) Regisseur wie Miyazaki, der von sich selbst sagt, dass er nur sehr ungern wirklich finstere Bösewichter zeichne, und deshalb den bad guys in seinen Filmen stets Verständnis entgegenzubringen versuche, mit dem historischen Faschismus beschäftigt?



Wie Ekkehard Knörer in der aktuellen Ausgabe der Cargo schreibt, gerät ob solcher Ambivalenzen nicht nur der Film, sondern auch das Nachdenken über ihn in Turbulenzen. In meinem Fall heißt das: Wie kann ich damit umgehen, dass mich dieser hochproblematische Film begeistert hat wie noch kein anderer dieses Jahr? Am Ende wahrscheinlich doch nur, indem ich mich ganz auf seine Seite schlage.

Aber zunächst noch einmal etwas konkreter zu den Turbulenzen: "Wie der Wind sich hebt" portraitiert Jiro als einen introvertierten Romantiker, der keine nationalen imperialen Ambitionen, sondern seinen höchstpersönlichen Traum vom Fliegen zu verwirklichen suchte. Das mag auf einer individualbiografischen Ebene nicht einmal ganz falsch sein. Das politische Problem, das der Film nicht los wird, ist, dass er diese Innenansicht eines höchstpersönlichen Traums als eigene Perspektive übernimmt - ohne einen einzigen Moment des Bruchs, ohne einen einzigen Abgleich des Traums mit seinem historischen Außen.

Es ist, so gesehen, kein Zufall, dass die allerschönste Passage des Films an einem Fantasieort spielt, in einer Art Schutzraum, den die Imagination gegen die Geschichte errichtet: Jiro und Naoko begegnen sich in einem eigenartigen, schon rein geografisch kaum verortbaren Berghotel wieder, in dem die historische Wirklichkeit endgültig suspendiert scheint. Diese Suspension ist einerseits Voraussetzung für Intimität: ein Waldspaziergang, bei dem Jiro und Naoko vom Regen überrascht werden und sich eng nebeneinander unter den Schirm schmiegen, ein unberechenbares Papierflugzeug, das die beiden wie ein eigensinniger Liebesbote gleichzeitig aus- und zueinander treibt; Spielereien, die sich ihre eigenen Regeln setzen, die sich nicht immer gleich schon wieder zum wechselseitigen Beobachtungs- und Zwangssystem Familie verhärten - wie das dann später im Film geschieht, wenn Naoko bei Jiro einzieht und sie sich im Folgenden anschickt, ihr Leben für seine Ambitionen zu opfern.

Andererseits öffnet sich im Berghotel ein, wenn nicht explizit politischer, so doch kulturhistorischer Referenzraum: Als literarisches Vorbild unverkennbar ist Thomas Manns "Zauberberg", vor allem, wenn Jiro die Bekanntschaft Castorps macht, eines deutschen Oppositionellen / Intellektuellen, dessen strahlend (nicht: stählern) graue Augen gelegentlich den gesamten Bildraum füllen und bei dem man nicht so recht weiß, ob er eine bloße Verbeugung in Richtung "Zauberberg", ein double des antifaschistischen, exilierten Ästheten Mann, oder gar ein imaginäres alter ego Miyazakis darstellen soll. Jedenfalls kristallisiert sich in Castorp auf besonders beziehungsreiche Weise jene Faszination für europäische Kultur und Geschichte, die Miyazakis gesamte Karriere durchzieht, und die in "Wie der Wind sich hebt" präsenter ist denn je: Der Film setzt mit einem Paul-Valéry-Zitat ein, Jiros Träume führen ihn immer wieder nach Italien, wo ihn der Flugzeugbauer Giovanni Battista Caproni unter seine imaginären Fittiche nimmt -sein Job wiederum führt ihn in ein bizarr entsubstanzialisiertes Nazideutschland.



Insgesamt kann man das, was Miyazakis Film mit der Geschichte anstellt, nicht anders beschreiben denn als eine gewaltige Verdrängungsleistung. Wüsste man nicht schon vorher über den Zweiten Weltkrieg, den japanischen Militarismus und Faschismus der 1930er und 1940er wenigstens ungefähr Bescheid, vom Film würde man nicht erfahren, warum Tokyo am Ende ein zweites Mal in Trümmern liegt. Ein weiteres Erdbeben, könnte man fast vermuten, wie dieses erste, so grandios orchestrierte vom Anfang des Films. Besonders eindrücklich manifestiert sich diese Verdrängungsleistung in einer Figur: Jiros Chef Kurokawa wird als ein tölpeliger, fast absurd klein gewachsener Hysteriker mit starrem Scheitel und verknautschtem Gesicht gezeichnet; beileibe kein Sympathieträger natürlich, aber eine zutiefst lächerliche Figur, vielleicht die lächerlichste, die jemals in einem Miyazaki-Film aufgetaucht ist; eine Figur, von der man beim besten Willen nicht annehmen kann, dass sie, beziehungsweise ihr realgeschichtliches Pendant, gleichzeitig ein hohes Tier beim Top-Waffenproduzenten Mitsubishi, und also ein Kriegstreiber an vorderster Front ist.

Andererseits hat es eben auch seinen Reiz, einen Kriegstreiber als zutiefst lächerliche Figur zu zeigen. Das wäre eine Perspektive, aus der man den Film verteidigen könnte: Miyazakis Version der Geschichte setzt sich von der realen nicht durch Lügen, sondern durch Auslassungen, durch fast schon explizites Durchstreichen (das Problem wäre dann eher das "fast schon", als das "Durchstreichen") ab. Dass Militarismus und Faschismus verdrängt werden, heißt eben auch: Sie erfahren keine visuelle Repräsentanz. Und: Der Film partipiziert auch nicht an ihrer Selbstrepräsentanz. Gerade in Deutschland, wo Vergangenheitsbewältigung allzu oft Immersion im Führerbunker heißt und wo jeder Schauspieler, der ernst genommen werden möchte, mindestens einmal den Hitler oder wenigstens Goebbels gegeben haben muss, kann man so etwas fast als eine radikale ästhetische Strategie auffassen.

Tatsächlich gibt es in "The Wind Rises" an keiner Stelle ein positives Gegenbild des "richtig Nationalen", das an die Stelle des abwesenden, im Off der Bildkader (bei einem Animationsfilm kann man eigentlich sagen: im Off der Fantasie) tobenden "falschen Nationalen" treten könnte. Besonders deutlich wird das am Ende des Films, der eben nicht den Blick freigibt auf ein demokratisches Nachkriegs-Japan, in dem all die vorher fehlgeleitete Energie nun produktiv, zum zivilen nation building, eingesetzt werden könnte. Statt dessen löst sich die Energie, löst sich der gesamte Film buchstäblich in Nichts auf: Die letzten Flugzeuge verwandeln sich am Himmel in Zugvögel, die große Liebe Naoko verschwindet aus Jiros und vielleicht ihrem eigenen Leben (ihr Regenschirm von Miyazaki regelrecht ausradiert), und Jiro entscheidet sich, im letzten Bild des Films, einmal mehr und endgültig für die Imagination, folgt, nach kurzem Zögern, seinem imaginären Mentor Caproni aus dem Film, aus der Geschichte heraus.

Lukas Foerster

The Wind Rises - Japan 2013 - Originaltitel: Kaze tachinu - Regie: Hayao Miyazaki - Laufzeit: 127 Minuten.

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Unter den vergleichsweise zahlreichen asiatischen Filmen, denen dieses Jahr der Sprung auf deutsche Kinoleinwände gelingt (allen ambitionierten Verleihern und Betreibern gilt es dafür zu danken), nimmt "The King of Pigs" eine Ausnahmestellung ein. Asiatisches Zeichentrickkino, sofern es sich hierzulande überhaupt gegen die mit dem Stigma der Kinderunterhaltung behaftete und entsprechend tradierte Animations- und Erzählkontinuität Hollywoods behaupten darf, wird in Deutschland noch am ehesten durch die klugen Animes des japanischen Studios Ghibli repräsentiert. "The King of Pigs", das unabhängig produzierte Langfilmdebüt des Südkoreaners Yeon Sang-ho, leistet mit seiner limitierten, auf scharfe Konturen ausgerichteten Animation auch dagegen erst einmal ästhetisch wohltuenden Widerstand: Formal nicht kostenintensiv um state of the art bemüht, erzählt das brutal-sinistre Schuldrama eine Geschichte vom Erwachsenwerden, die die Dringlichkeit ihres minimalistischen Zeichenstils schon dadurch bestätigt, dass sie in jeder anderen Form vielleicht gar nicht erst zumutbar wäre.

Von einer unerhörten Abgründigkeit ist schon die Eingangsszene des Films. Zu Tode betrübt steht der bankrotte Kyung-min unter seiner Apartmentdusche, in der von Blut verschmierten Küche nebenan liegt seine von ihm ermordete Ehefrau. Menschen, die ein gutes Leben führten, ohne etwas dafür tun zu müssen, spricht eine monströse Gestalt im Dunkel der Wohnzimmerecke, seien nichts als Hunde - und sie würden uns, die Schweine, verschlingen.

Kyung-min kontaktiert anschließend seinen ehemaligen Mitschüler Jong-suk, der erfolglos als Ghostwriter arbeitet und dem überraschenden Vorschlag eines Treffens zustimmt. In einem Lokal tauschen sich die früheren Freunde über ihre Schulzeit aus, der Film entfaltet das verheerend angeknackste Befinden der beiden Männer über ausgedehnte Rückblenden und martervolle Einzelheiten. Das, wie sich bald herausstellt, vom Geist eines weiteren ehemaligen Klassenkameraden eingangs entworfene Sinnbild beschreibt dabei die einstige Mobbing-Hierarchie der Mittelschule: Hunde, Schüler aus privilegierten Familien, machten sich über arme Schweine her, zu denen Kyung-min und Jong-suk als ständig drangsalierte Duckmäuser schon ihrer Herkunft wegen zählten.



Einzig Neuankömmling Chul, zum zornerfüllten Schweinekönig gekrönt, stellt sich, erfahren wir in den Erinnerungsrückblenden, den Schikanen der autonomen Schultyrannen fauststark entgegen. Seine Bemühungen, das feste System, das nicht nur in adoleszenter Delinquenz, sondern auch in viehisch bekräftigten Klassenunterschieden fußt, zu überwinden, treiben den hageren Jungen zum (vermeintlichen) Selbstmord, der als unverarbeitetes Jugendtrauma der tatsächliche Anlass für das gegenwärtige Wiedersehen von Kyung-min und Jong-suk ist.

Über die Verschränkung der beiden Zeitebenen erarbeitet Regisseur und Drehbuchautor Yeon Sang-ho einen Zusammenhang der Fatalitäten, mindestens aber der verhängnisvoll-negativen Effekte schulischer Prägung. Ziemlich rigoros, vor allem auch: unter Ausschluss pädagogischer oder familiärer Kräfte kann das Unterdrückungssystem ungestört gedeihen. Lehrer und Eltern sind entweder signifikant abwesend oder positionieren sich selbst gegen die Kinder: Kyung-mins Vater betrieb ein Bordell, das die Lehrer (ihrerseits Repräsentanten einer gehobenen Mittelschicht) stets willkommen hieß, und schändete gleichzeitig eine bei ihm angestellte Sexarbeiterin, die sich als Mutter von Chul herausstellt.

Die Vergangenheit des Missbrauchs begreift "The King of Pigs" als etwas, das tief in die Gegenwart einwirkt: Sie wird lesbar als unmenschliches Einstimmen auf eine Leistungsgesellschaft, die das Versagen ihrer Schwächeren schon in der Ausbildung systematisch festlegt (oder, schlimmer noch, erst gewaltsam determinieren muss), und die ihre funktionsuntüchtigen Mitglieder auch gleich nach deren Herkunft aussiebt. Damit Kyung-min und Jong-suk einmal zu "guten Menschen" reifen, müssten sie ihnen eine Lektion erteilen, begründen die Schulrowdys ihre Angriffe - und was aus ihnen tatsächlich geworden ist, zeigt der niederschmetternde Erzählrahmen. Die "unschönen Erinnerungen", wie Chul sie den barbarischen Rüpeln durch seinen Märtyrertod wünschte, werden jedoch den verbliebenen "Schweinen" vorbehalten sein: Der geisterhafte Chul selbst erinnert seine ehemaligen Freunde vermittels entstellter Fratzen ans unausweichliche Scheitern. Im schmerzlichen Jetzt, das von den glücklichen Hunden dieser Welt regiert wird.

Rajko Burchardt

The King of Pigs - Südkorea 2011 - Originaltitel: Dwae-ji-ui wang - Regie: Yeon Sang-ho - Laufzeit: 92 Minuten.