Im Kino

Früher erotisch, heute neurotisch

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Friederike Horstmann
15.10.2014. Udo Kier weiß sich in Hermann Vaskes "Arteholic" in Szene zu setzen - als der Extremsportler unter den Kunstenthusiasten. Fatih Akin lässt in "The Cut" den Völkermord an den Armeniern zu einer bloßen Gemeinheit verkommen.


In den ersten Einstellungen wird zunächst eine aufblasbare Sexpuppe mit Riesenbrüsten, dann das Schließen eines Reißverschlusses und schließlich ein Mann gezeigt. In einem braun-beigen Interieur sitzt Letzterer neben der Puppe auf einer Couch und deriliert mit monotoner Stimme: "Sucht, Gier, Besitzen, Abhängigkeit, Kunst, Arteholic." Kunst sei wie Kokain. Ein Suchtmittel. Teurer zwar, aber auch gesünder. Diese Sätze bilden den Einstieg in den Dokumentarfilm "Arteholic", in dem Hermann Vaske den in Köln geborenen Schauspieler Udo Kier auf einem Kunsttrip begleitet. Schon die ersten Einstellungen zeigen einen exzentrischen Darsteller und verweisen auf seine zwischen Arthouse, Trash und Hollywood flirrende Filmografie. Als Kunstsüchtiger triff Kier bekannte oder befreundete Künstler, Kuratoren und Galeristen in Frankfurt, Bonn, Berlin, Köln, Kopenhagen und Paris. Staunend streunt er durch europäische Museen, Galerien, Ateliers und Cafés und betrachtet mit seinem unwahrscheinlich stechenden Blick moderne Kunst.

In der Bonner Bundeskunsthalle lässt er sich von Marcel Odenbach durch dessen Ausstellung führen, im Centre Pompidou plaudert er über eine von Guy Maddin inszenierte Performance, im Grill Royal teilt er sich mit Marc Brandenburg und Nicolette Krebitz einen Teller Pommes. Zwischendurch klaut Kier eine Campbells-Soup-Box, stellt sich in einer Christo-Verhüllung vor Reichstag und kitschig orangepinken Sonnenuntergang oder zerschneidet mit einem Messer ein Selbstbildnis und wirft es mit großer Geste in die Ostsee. Da Lars von Trier während seines Besuchs in Kopenhagen schweigt, sitzen die beiden stumm am Tisch und lesen Zeitung. In einer Pariser Galerie zeigt man ihm die Kopie einer Fotografie, die Robert Mapplethorpe von ihm gemacht hat. "Früher erotisch, heute neurotisch", kommentiert Kier die Aufnahme. Im Atelier präsentiert ihm das Kunstspielkind Jonathan Meese seine Selbstportraits als Teufel, Alien, Hase, Meerjungfrau und Unke. Meese reitet auf einem Plüschpferd und wird von seiner Mutter gemaßregelt, als er sein Plastikspielzeug auf den Boden kippt. Kiers unsättlicher Genuss richtet sich nicht nur auf Kunst, sondern auch auf Kulinarisches - auf Austern und Tatar. Während seines Treffen mit einem rückenansichtig gezeigten Pamela-Anderson-Double in der Kölner Traditionsbrauerei "Früh" verzehrt er monologisierend "Suhrbrode" mit Knödeln, und erzählt, dass er den Künstler schon immer beneidet habe: Im Gegensatz zum Schauspieler, der Licht und Sound und allerlei Technik bräuchte, könnte er immer und überall malen. Spontan malt Kier mit Sauerbraten auf einer Serviette.

Udo Kier weiß sehr genau, wie man sich in Szene setzt. Mit leicht rheinischem Akzent und konsequent anekdotisch kommentiert er moderne Kunstwerke, rezitiert Schillers "Die Glocke" oder "Es war eine Ratt" im Kellernest" aus Goethes "Faust" - vor Yves Kleins blauen Monochrombildern. Von Auftritt zu Auftritt muss man sich entscheiden, ob man amüsiert oder konsterniert ist, von Kiers egozentrischen Kunstbetrachtungen, seinem apokryphen Anekdotenwissen, seiner Schwatzhaftigkeit. Seine exzessive Zurschaustellungen ist eine Kombination aus Inszenierung und Improvisation, aus Kunst und Trash; lauter schöne Albernheiten, die er sich ausgedacht hat und die wie ironische Zitate aussehen. In der prätentiösen Personalityshow wirkt das allermeiste konstruiert und aufgeplustert.



Selten zeigen sich zarte Abgedrehtheiten. Sie gleichen verspielten Kindergesten, weil sie bekannte Dinge auf unübliche Weise in Verbindung bringen: Rührend mit einem Kniefall begrüßt Kier eine Bronzeskulptur von Rosemarie Trockel im Hamburger Bahnhof, einen auf dem Boden liegenden Dackel aus Trockels Serie der Gewohnheitstiere. Im Kölner Ludwig Museum läuft er auf Socken durch die Museumsräume, denn die von Hugo Boss geschenkten Schuhe drücken. Hier spricht er mit Rosemarie Trockel über ihre gemeinsame Liebe zu Hunden, über seinen erkrankten Doggen-Mischling "Greta Garbo", mit dem er regelmäßig telefoniert. Zusammen hatten Kier und Trockel gegen den Abriss des 1967 gebauten Kölner Kunstforums protestiert. In grobkörnigen Schwarzweißbildern zeigt ein kurzer Videoausschnitt ihre Protestlesung. Bei ihrem Wiedersehen rufen sie sich im Gemäldedepot des Ludwig Museums wechselseitig Zahlen zu. Zum Schluss öffnet Kier sein schwarzes Hemd; auch er trägt eine Inventarnummern, ist ein Kunstwerk im knapp eineinhalbstündigen Film von Hermann Vaske.

Neben der visuellen Gestaltung ist auch die Tonspur sprunghaft: In der von Bilxa Bargeld und dem italienischen Filmmusiker Teho Teardo komponierten Musik treffen harte, unterschwellig dröhnende Klänge auf sphärische Kammermusik mit Streichern und Gitarren. Immer wieder werden im Film Orientierungshilfen eingeblendet: Bahnhofsanzeigen, Ortsschilder, Museumstafeln - die Orte auch in Dialogen benannt. Immer wieder ist Hermann Vaske bemüht, die Bilder mit erklärenden Schriftzügen zuzudecken, um die collageartig arrangierten Miniaturen zu verordnen. Die einzelnen geografischen Stationen verbindet er zu einer losen, keineswegs gradlinigen Narration eines Kunstbesessener, der seine Obsession immer wieder durch neuen Kunstkonsum zu befriedigen sucht. An seiner letzten Station, im Hamburger Bahnhof, kollabiert Kier an der Überdosis. Auf einer Barre liegend fließt durch einen Tropf knallrotes Kunstblut in seine Adern. Im Wahn flimmern und flackern Kunstwerke, mit verzerrter Stimme werden auf der Tonspur Künstlernamen aufgelistet. Die Kunstfigur Kier muss mit dem Krankenwagen abtransportiert werden. In der hysterischen Hommage zu Udo Kiers 70. Geburtstag wird die Hingabe an die eigene Darstellung zugleich groß gezeichnet und unernst genommen. Schrill und schräg wechseln Schwarzweiß und Farbe, Dokument und Fiktion, Performance und Plauderei. Kunst dient hier kaum zur Distinguierung und elitärem Genuss. Vielmehr wird das Erhabenen permanent durch Ironie korrigiert.

Friederike Horstmann

Arteholic - Deutschland 2014 - Regie: Hermann Vaske - Mitwirkende: Udo Kier, Lars von Trier, Rosemarie Trockel, Udo Kittelmann - Laufzeit: 82 Minuten.

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Kaum ermessbares Leid ist den Frauen während des Genozids an den Armeniern widerfahren: Vergewaltigt, aus ihren Familien gezerrt, vielleicht in letzter Sekunde ins Ausland, ansonsten ausgezehrt in Lagern gelandet, wo sie hungernd ihrem eigenen Tod entgegensehen. Das zumindest erfährt man in Fatih Akins "The Cut", in dem der deutsch-türkische Regisseur als Abschluss seiner "Liebe, Tod und Teufel"-Trilogie vom Völkermord der Türken an den Armeniern erzählen will. Ein Film über die Frauenschicksale ist "The Cut" allerdings nicht geworden, ganz im Gegenteil unterhält er dazu ein reichlich instrumentales Verhältnis: Wenn Frauen leiden, dann dient dies zur Illustration des Leids, das Männer durchzustehen hatten - oder genauer gesagt, ein Mann, nämlich der per Schnitt durch die Kehle zum Verstummen gebrachte Nazaret (Tahar Rahim). Werden Frauen am Wegesrand vergewaltigt, senkt er den Blick in Gram - auch, weil er Frau und Töchter verloren hat -, wenn er seine abgemagerte Frau unter tausenden von Gefangen findet, die siech von ihm den Gnadentod verlangt, dann steht sein Seelenleid bei der Entscheidungsfindung und der Tat im Vordergrund. Und wenn seine Töchter in der Diaspora der USA landen - unzweifelhaft eine interessante Geschichte - , erzählt Fatih Akin die - ebenso unzweifelhaft deutlich uninteressantere - Geschichte, wie Nazaret ihnen nachreist.

Diese Perspektivierung des historischen Genozids ist symptomatisch für einen Film voller falscher Entscheidungen, einen Film, der stets den naheliegendsten, vorgeformtesten, aber eben auch uninteressantesten Weg wählt. Ist die Information, dass unter Völkermordbedingungen Familien auseinander gerissen werden und darunter gelitten haben, erhellend oder gar neu? Ist die Geschichte dieses Mannes, der sicher auch sein Leid zu tragen hat, sich aber doch relativ ereignisarm von Episode zu Episode seiner Suche hangelt, tatsächlich so interessant, wie der Film tut? Und was hat sie über diesen Völkermord zu sagen, der zu einer Sache bloßer Gemeinheit verkommt?

Der ausgestellte Professionalismus des Films tut sein übriges: Die Landschaften sind herrlich und breit, das Setdesign überzeugend, viel Mühe wurde darauf verwendet, das Elend per Make-Up gut in Szene zu setzen; ein Bewerbungsschreiben Richtung Hollywood, ein Versuch, ganz großes Kino - vom Bibelfilm über den Western bis hin zu den Epen David Leans - auf die Leinwand zu zaubern, was sich mit fortlaufender Spielzeit unangenehm als eigentliche Message über das wohl auch deshalb sonderbar vernachlässigte Sujet legt: "Schaut mal her, was wir können."



Was Akin leider nicht kann, ist ein Verhältnis zum historischen Gegenstand zu finden. Elend und Gewalt sind eine Sache des filmischen Affekts: Bazoooong, jaulen die runtergestimmten Gitarren auf, wenn es besonders zur Sache geht - boh, krass, soll man da denken. Erzählt wird das in einem Modus beständiger wechselseitiger Illustration und Versicherung, gerade so, als vertraue Akin seinem Publikum nicht und seinen Bildern noch viel weniger: Fliegende Vögel markieren Sehnsucht, natürlich heißt die Hauptfigur wenig subtil Nazaret (und sieht auch aus wie einem Bibelfilm entsprungen) und ein Telegramm mit schicksalshaften Informationen, das lange genug ins Bild gehalten wurde, um gelesen zu werden, muss im Anschluss nochmal rezitiert und das daraus folgende Vorgehen schwerfällig ausgeplaudert werden. So ungelenk, bieder und langweilig wird in einer Tour erzählt. Der Film befindet sich im ständigen Zirkelschluss: Krasser Völkermord ist krass, entbehrungsreiche Flucht ist entbehrungsreich, trauriger Mann ist traurig, schlimme Verlusterfahrung ist schlimm, sehnsüchtige Sehnsucht ist sehnsüchtig.

Dafür sampelt sich Akin quer durch die Bildwelten dessen, was als großes amerikanisches Kino gilt. Wenn Nazaret in den Staaten landet und vor jecken Rednecks durch den Dschungel flieht, fühlt sich das für einen Moment lang sogar nach Vietnamfilm an, sein Ende findet der Film vor südstaatendrama-artiger Kulisse. Man wird den Verdacht nicht los, dass die Story genau deshalb so sehr von der Ästhetik überformt wird, weil Akin eigentlich auch mal einen Western drehen wollte. Warum hat er es dann nicht einfach gemacht?

Thomas Groh

The Cut - Deutschland 2014 - Regie: Fatih Akin - Darsteller: Tahar Rahim, Simon Abkarian, Makram Khoury, Hindi Zahra, Kevork Malikyan, Bartu Küçükçaglayan, Zein Fakhoury, Dina Fakhoury - Laufzeit: 138 Minuten.