Im Kino

Ganz Zeit ohne Ziel

Die Filmkolumne. Von Rajko Burchardt, Lukas Foerster
17.12.2014. Kristen Stewart und Juliette Binoche bleiben in Olivier Assayas' meisterlichem "Clouds of Sils Maria" in ständiger Bewegung. Tommy Lee Jones inszeniert in seinem Ganzspätwestern "The Homesman" eine historische Rückwärtsbewegung.


Valentine (Kristen Stewart) steht in einem Eisenbahnwaggon, im Gang neben den Passagierabteilen. Sie lehnt sich an die Kabinentür, stützt sich mit einer Hand am Fenster ab, mit der anderen hält sie ein Handy ans Ohr. Der Film steigt mitten im Gespräch ein, Valentine spricht über Termine in Jakarta, Lima, New York, dann klopft ein anderer Kontakt an, ein Anwalt aus Paris, es geht um einen Gerichtstermin. An drei Orten gleichzeitig zu sein, von der daraus resultierenden Bewegung durchgeschüttelt werden und dabei trotzdem (eine körperliche) Haltung bewahren: Darum geht es in "Clouds of Sils Maria", dem neuen Film von Olivier Assayas.

Assayas seinerseits navigiert in seiner Karriere zwischen den verschiedensten Genres, Tonlagen, teilweise auch Produktionszusammenhängen; seit er in den 1990ern zu einem der prägenden Autorenfilmern seiner Generation wurde, hat er unter anderem einen ziemlich wahnwitzigen Gentechnik-Cyberthriller gedreht ("Demonlover"), ein Historienfilmepos über einen verzichtlerischen Porzellanfabrikanten ("Les destines sentimentales", vermutlich sein Meisterwerk), zwischendurch Dokumentarisches über Musik ("Noise") und Tanz ("Eldorado"), zuletzt einen autobiografischen Jungmännerfilm ("Die wilden Jahre"). Zusammengehalten wird das Werk weniger von durchgängigen Themen oder auch nur von einem durchgängigen Stil, als vom Eindruck ständiger Bewegung. Bewegung, oder vielleicht eher Beweglichkeit scheint die Maxime seines Kinos zu sein: Nie irgendwo ankommen, nie erwartbar werden, mit jedem neuen Film wieder das Publikum und vielleicht auch sich selbst überraschen.

Und wenn, gerade aus dieser Perspektive, der etwas allzu vergangenheitsseelige, ausstattungsfetischistische "Die wilden Jahre" eine kleine Enttäuschung war, ist "Clouds of Sils Maria" das exakte Gegenteil und der vielleicht assayasischste Assayasfilm so far: Diesmal ist die Bewegung nicht einmal für die Dauer eines Films zum (wie auch immer fragilen, provisorischen) Stillstand gekommen. Der Zug, in dem Valentine, die sich bald als Assistentin der Schauspielerin Maria Enders (Juliette Binoche) entpuppt, Telefonate führt, kommt zwar irgendwann an. Aber der Film kommt damit nicht zur Ruhe, weder in Zürich, wo Valentine und ihre Chefin von eifrig Kulturschaffenden (u.a. Hanns Zischler) umzingelt sind, auch später nicht im Engadin, in jenem Sils Maria, von dem schon Nietzsche wusste, dass seine lieblich-idyllische Anmutung trügerisch ist:

"Hier saß ich, wartend, wartend, - doch auf Nichts,
Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts
Genießend, bald des Schattens, ganz nur Spiel,
Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel.
Da, plötzlich, Freundin! wurde Eins zu Zwei -
- Und Zarathustra ging an mir vorbei …"



Nach Sils ziehen sich Valentine und Maria für Proben zurück, oder eigentlich: für eine Wiederaufführung. Der alternde Star ist fürs Remake eines Bühnenstücks engagiert worden, das ihr selbst vor Jahrzehnten zum Durchbruch verholfen hatte: "Maloja Snake", ein offensichtlich recht spekulatives Lesben-Eifersuchtsding. Nur soll sie nicht mehr, wie einst, die junge Verführerin spielen, sondern die ältere Verführte. Ihre damalige Rolle übernimmt testweise, während ausgiebiger Bergspaziergänge, die Assistentin. Wie Valentines erste Szene im Zug ist der ganze Film ein Balanceakt (durchaus auch in einem metafiktionalen Sinne: wenn man bösen Willens ist, kracht die ganze eher hemdsärmelig als wasserdicht konstruierte, freudig Unwahrscheinlichkeiten akkumulierende Handlung sofort in sich zusammen). Binoches Figur - die Starpersonae der Darstellerinnen haben durchweg Teil an dem komplexen Spiel, das der Film aufführt - steht unter besonders heftigem Druck, balanciert zwischen ihrer autorenfilmerisch-alteuropäischen Vergangenheit und der popkulturell-amerikanischen Gegenwart. Letztere wiederum manifestiert sich später im Film in Gestalt von Chloë Grace Moretz und erweist sich dabei ihrerseits als janusköpfig: Moretz" Starlet Jo-Ann Ellis gibt zwar in Fernsehtalkshows den exhibitionistischen Trash-Promi, erweist sich im majestätsch über den Seen thronenden Silser Hotel Waldhaus jedoch als kulturbeflissener Hipster. Systematisch destabilisiert Assayas auch den Bilderfluss des Films selbst, lässt einen (historischen) Stummfilm über das "Wolkenphänomen von Maloja" ebenso in ihn eindringen wie eine Szene aus einem (fiktiven) Superheldenfilm.

Warum der ganze Aufwand? Für zwei Frauen, vor allem. Die teils performativ anmutenden Gesprächsszenen von Stewart und Binoche sind das Herzstück des Films. Sie ziehen ihren Reiz daraus, dass die einzuübenden Bühnendialoge und die alltägliche Kommunikation zwischen einer Schauspielerin und ihrer Assistentin immer wieder ineinander überzugehen scheinen; ohne freilich jemals komplett ununterscheidbar zu werden - denn eine bloße Flucht in die Ambivalenz wäre, merkt man schnell, doch wieder nur eine Stillstellung. Bei Assayas geht es jedoch gerade darum, Spannungen auszuhalten. Beziehungsweise: sie auf Körper zu projizieren, die dann gar nicht anders können, als sich zu der Spannung, unter die sie gesetzt werden, zu verhalten.

Im Körper der Schauspieler und (hier vor allem) Schauspielerinnen erfährt das Kino eine - zumindest in gewisser Hinsicht - absolute Konkretion; hier muss die Beweglichkeit zu einer körperlichen Form finden. Vielleicht ist deshalb die lustvolle Arbeit mit Schauspielerkörpern (nicht: mit Schauspiel als Technik) eine weitere Konstante in Assayas" Werk. In "Clouds of Sils Maria" scheint man direkt zu spüren, wieviel Spaß es Assayas gemacht hat, seine Darstellerinnen nicht nur immer wieder neu aufeinander zu hetzen (Stewart liegt, eine Zeitschrift in der Hand, auf dem Sofa, blickt schelmisch auf und beginnt die Ältere zu triezen; Binoche lacht beim gemeinsamen Abendessen spitz und tendenzagressiv auf, wenn die Jüngere von Moretz schwärmt), sondern auch, sie immer wieder neu anzuziehen. Binoche schneidet er sogar einmal die Haare, Stewart steckt er nicht nur in sonderbar grungy-glamouröse Retro-Klamotten, er bemalt sie auch noch mit Tattoos, die naiv improvisiert wirken, wie während einer langweiligen Schulstunde mit Kugelschreiber aufgetragen.

Lukas Foerster


Die Wolken von Sils Maria - Frankreich 2014 - Regie: Olivier Assayas - Darsteller: Juliette Binoche, Kristen Stewart, Chloë Grace Moretz, Lars Eidinger, Johnny Flynn, Angela Winkler, Hanns Zischler, Nora von Waldstätten - Laufzeit: 124 Minuten.

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Zu Beginn legt die elegische, im besten Sinne altmodische Musik falsche Fährten. Und die Bilder tun es ihr gleich. In seinen sehr breiten, sehr malerischen 35mm-Panoramen (Kamera: Rodrigo Prieto, u.a. "Brokeback Mountain") sieht der Film fast nach einem traditionellem Western aus. Ein Ablenkungsmanöver allerdings, bei dem schon der Titel lügt. "The Homesman" erzählt die Geschichte einer Homeswoman, genauer: einer Frau namens Mary Bee Cuddy (Hilary Swank), die sich der Herausforderung stellt, Siedler aus dem Westen Amerikas zurück in die östliche Heimat zu bringen. Das ist im Nebraska des mittleren 19. Jahrhunderts nicht weiter unüblich, aber eben für gewöhnlich Männern vorbehalten. Drei psychisch kranke Frauen soll Mary Bee Cuddy nun wochenlang mit einem Wagon nach Iowa kutschieren, wo sich die Methodistenkirche (mit Kurzauftritt von Meryl Streep) der verbannten Immigrantinnen annehmen wird. So zumindest lautet der Plan, dem sich nach einigen Umständen noch der kauzige Deserteur George Briggs (Tommy Lee Jones) anschließt - mehr oder weniger freiwillig, nachdem Mary Bee ihm das Leben rettete.

Die von dem ungleichen Paar geleiteten Frauen sind Gescheiterte. Den paternalistischen Ansprüchen der Ehemänner konnten sie nur durch Selbstaufgabe gerecht werden, um dann jedes individuelle Empfinden ans Wahnhafte abzutreten. Sie haben - das implizieren Rückblenden - versagt als Häuslichkeit organisierende und Leben spendende Frauen, vor allem aber haben sie sich damit augenscheinlich um eine wertvolle Position in der vermeintlichen Zivilisierung des "wilden" Westens gebracht. Der hier auch Regie führende Tommy Lee Jones entnimmt der Romanvorlage von Glendon Swarthout eine Geschichte, die bislang nicht oder wenigstens unzureichend erzählt worden ist. Sie handelt von Frauen, denen das Recht auf Mitgestaltung oder gar Existenz verweigert wird (und deren Schicksale sich mit klassischem Western-Idealismus nicht vereinbaren lassen). Sie handelt aber auch vom Werden einer modernen Gesellschaft, die keine Fragilität duldet und gerade deshalb instabil bleiben muss.



Der amerikanische Gründungsmythos scheint für Tommy Lee Jones allenfalls mit einem Verweis auf die hierarchischen Bedingungen des Siedlerlebens haltbar, erzählerisch wird er vorsichtig überlistet: Ein menschenwürdiges Leben, so die bittere Einsicht, ist in diesem Mythos kaum möglich, darauf verweisen manchmal schlicht brutale Bilder (von geschändeten Säuglingen, von geschändeten Frauen, von einer andauernden Traurigkeit). Insbesondere gilt dies für Mary Bee Cuddy, die wie ihre angeschlagenen, zum Teil schwer misshandelten Schützlinge in das überlieferte Bild der Zeit nicht recht passen mag. Verzweifelt macht sie einem potenziellen Verehrer einen Heiratsantrag und wird als zu herrisch abgewiesen. Auch der Rüpel George, dem sie sich in einem entwürdigenden Moment geradezu aufzwängt, hat für die Junggesellin erst einmal nur Spott über - es wundere ihn nicht, dass sie bislang keinen Mann abbekommen habe, lässt er Mary Bee wissen.

Ob es sich bei diesem schön fotografierten Film um einen Spätwestern, Neowestern oder gar überhaupt noch um einen Western handele - ob es also möglich ist, diesen speziellen Umgang mit dem Mythos noch mit Westernbegrifflichkeiten zu fassen -, hat die internationale Filmkritik vor ein Rätsel gestellt. Sie befand schließlich, Tommy Lee Jones sei mit dem unkonventionellen Gender-Fokus und seiner großartigen Hauptdarstellerin ein feministischer Western geglückt (mehr als starke Frauenfiguren, was immer das nun eigentlich bedeuten mag, braucht es für ein solches Diktum in der Regel nicht...). Und sie erkannte in der Wahl unüblicher Westernschauplätze wie Iowa und Nebraska, die eben zweifelsfrei Orte des Mittleren Westens sind, ein weiteres Indiz fürs begrüßenswert Abseitige. "The Homesman", so kann man mehrheitlich nachlesen, habe etwas von einem Antiwestern.

Vielleicht aber ist eine derartige film- und genregeschichtliche Annäherung auch nur deshalb interessant, weil das period piece seine sanfte Verschiedenheit für eine konkrete, gleichzeitig emotionale und geographische Verortung nutzt. Dem gewaltsamen Entfernen der Frauen aus Kontexten, die ihnen neue Heimat und also Lebensglück versprachen, folgt eine historische Rückwärtsbewegung: Ohne jeden Zweifel reiten Hilary Swank und Tommy Lee Jones jenem nordamerikanischen Grenzland davon, das sie zu ihrem eigenen erklären wollten - und das eine Wiederkehr nicht vorsieht (dafür sorgt schon die unerwartete Verlagerung des Figurenschwerpunkts nach zwei Dritteln Spielzeit). Obwohl im Verlauf des Films oft gefahren- und angstvoll beschrieben, treten die indigenen Bewohner Amerikas dabei nur ein einziges Mal in Erscheinung. Am Wegesrand beobachten sie den mühevollen Escort Richtung Ostküste, erteilen den Rücksiedlern schließlich gegen Aushändigung eines Pferdes die Erlaubnis, unbeschadet weiterziehen zu dürfen. Sie tun das so wort- und regungslos, als kommentiere sich dieses Bild verrückt gewordener Kolonisten ganz von selbst.

Rajko Burchardt

The Homesman - USA 2014 - Regie: Tommy Lee Jones - Darsteller: Tommy Lee Jones, Hilary Swank, Grace Gummer, Miranda Otto, Sonja Richter, Jo Harvey Allen, Barry Corbin, David Dencik, William Fichtner - Laufzeit: 122 Minuten.