Im Kino

Permanente Unruhe

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Friederike Horstmann
07.01.2015. "To give the people an ennobling enjoyment", lautet der Auftrag der Londoner National Gallery. Der große Dokumentarist Frederic Wiseman hat ihr einen Film gewidmet. Olivier Megatons unterhaltsamer "Taken 3" beweist, dass es in Actionfilmen eigentlich gar nicht um Action geht.


Blicke auf die National Gallery in London. Ein erster, unbewegter Fernblick auf ihr Äußeres, dem tempelartigen Museumsbau mit dem imposanten Säulenportikus, dazu verrauschender Straßenlärm des Trafalgar Squares und das ferne Geläute von Big Ben. Der Sprung ins Innere beginnt mit einer Aufblende: kurze Einstellungen zeigen zunächst Totalen von weitläufigen, reich ausgestatteten Räumen, dann von prunkvollen Bildern, schließlich Gemäldeausschnitte oder zur Nahaufnahme vergrößerte Details. Die im raschen Rhythmus geschnittene Serie ist mit Originaltönen unterlegt, doch weicht die beschauliche Ruhe einem immer lauter anschwellendem Schwirren und Summen. Zu den Geräuschen fügen sich Aufnahmen von einer Reinigungskraft, die den ohnehin schon blanken Boden staubsaugt.

Frederick Wiseman vermisst nicht nur Räume und Gemälde des Museums, sondern wirft zahlreiche Blicke auf untereinander verzahnte Figurengruppen - auf Museumsbesucher, Kunstvermittler, Kuratoren, Restauratoren, Rahmenmacher und Manager. Statt einer linearen Struktur zu folgen, vermitteln einzelne Erzählsplitter kreuz und quer verstreute An- und Einsichten, über die Zusammenhänge hergestellt werden. Der Blick ist dabei das eigentliche Thema des Films: Das genaue Hinsehen, sei es auf Kunstwerke oder soziale Ordnungen. Mehrfach werden in Schuss-Gegenschuss-Sequenzen Porträts der Sammlung mit Aufnahmen von schweigenden Besuchern aufeinander abgestimmt. Im ständigen Hin und Her treffen sich ihre Blicke. In diesen rhythmisierten Montagen scheint die Kamera selbst in einem begeisterten Bilderrausch, affiziert und betört von den Exponaten.



Wiederholt wortgewandt erklären Kunstvermittler Motiv, Komposition, Handwerkliches, Geschichten werden durchkämmt, Informationen angehäuft, auf Einzelheiten hingewiesen: Für seine verblüffend lebendigen, monumentalen Pferdebilder studierte der britische Maler George Stubbs Kadaver, die er mit Seilen an seiner Atelierdecke befestigte, um die Anatomie so exakt wie möglich zu erfassen. Vereinzelt werden während der Bildinterpretationen verborgene historische Implikationen freigelegt: Der Grundstock der Sammlung verdankt sich dem bedeutendsten Museums-Stifter John Julius Angerstein, der mit Sklavenhandel ein Vermögen verdiente. Der Museumsalltag ist ständig in Bewegung, überall passiert etwas, ein TV-Team ist bei der Arbeit. Anderswo haben Handwerker Gerüste aufgestellt, packen ihre Kisten aus, Rahmenmacher leimen mit Sorgfalt Zerbrochenes. Auf der Tonspur ist eine permanente Unruhe, sind Stimmen, die referieren, diskutieren, monologisieren.

Bei vielen Beschreibungen und Belehrungen geht es weniger um einen sachlichen Bericht als um eine anschauliche Verlebendigung der alten Meister. Vor den Originalen wird ein Schwarm von begeisterten Anmerkungen freigesetzt, nicht zuletzt um das Museum und seine Kunstwerke in Bezug zur Gegenwart zu setzen. Der Umgang mit den Kunstwerken ist vom Kommen und Gehen flüchtiger Reflexionen begleitet, an der Oberfläche treiben allerlei abenteuerliche Narrative. Auf demselben Gegenstand kreuzen sich die Strahlen unzähliger Blicke: der genaue Blick des Wissenschaftlers, der ihn studiert hat, der begehrende Blick des Fürsten, der ihn erworben hat, und schließlich die Blicke der Museumsbesucher, die ihn immer wieder neu sehen. Bei aller Sensibilisierung für ein aufmerksames Schauen geht es auch um Finanzierung und Marketing, um Aufgaben des Museums. Schon als die Gallerie Anfang des 19. Jahrhunderts gegründet wurde, stand nicht etwa wie in Berlin der wissenschaftlich systematische Aspekt einer damals beginnenden Kunstwissenschaft im Vordergrund, sondern ein sozialer Gesichtspunkt: dass alle Menschen Zugang zu den einzigartigen Gemälden finden. Noch heute ist es der Auftrag der National Gallery: "to give the people an ennobling enjoyment".



Seit fast 50 Jahren rücken Wisemans dokumentarische Filme gesellschaftliche Einrichtungen und ihre Funktionsweisen in den Blick. Seine vagabundierenden Neugierden, die er über die Etappen seiner außergewöhnlichen Filmografie hinweg zu erhalten verstand, zeigen einen unabgeschlossenen enzyklopädischen Entwurf, der ihn an so unterschiedliche Orte wie Psychiatrie, Schule, Krankenhaus und Polizeirevier führte. Wie üblich arbeitete Wiseman bei "National Gallery" ohne großen logistischen Apparat, nahm selbst den Ton auf und montierte den Film. Der zu Neujahr 85 Jahre alt gewordene Filmemacher nimmt sich Zeit: Zwölf Wochen verbrachte er mit seinem Kameramann John Davey 2012/13 im Museum und zeichnete dabei über 170 Stunden auf. Viel Zeit investierte er am Schneidetisch, um die Fülle seines Materials zu einem dreistündigen Film zu verdichten. Während Wisemans Langzeitbeobachtung schwanken die Aufmerksamkeiten zwischen Enthusiasmus und Ermüdung - nicht unähnlich denen von Museumsbesuchen. Manchmal entwickelt sich eine Sogkraft, manchmal eine zermürbende Ungeduld, manchmal eine gedankliche Abschweifung.

Der Film endet mit einer Serie von Porträts. Darunter auch zwei Rembrandt-Selbstbildnisse: Das "Selbstporträt im Alter von 63" ist nicht nur das Schlussbild in Wisemans Film, sondern auch Rembrandts letztes Selbstbildnis kurz vor dessen Tod: pastose Farbfurchen und Altersspuren zeichnen die verquollenen Züge des Greisengesichts. Schäbig ist das Gewand, grob die geschwollene Knollennase, zerfahren das graue Haar, melancholisch vertrübt der prüfende Blick. Diesen beharrlich beobachtenden, ungeschönten Scharfblick auf das Gezeigte ermöglichen auch die Filme Frederick Wisemans. In seiner Wahl des Schlussbildes wird er aber auch an die Vergänglichkeit gedacht haben.

Friederike Horstmann

National Gallery - USA 2014 - Regie: Frederic Wiseman - Lauzeit: 180 Minuten.

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Ihre kalifornische Heimat hatte die Familie Mills in den ersten beiden "Taken"-Abenteuern stets schnell verlassen. Im ersten Film reiste Vater Bryan (Liam Neeson) Tochter Kim (Maggie Grace) nach Paris nach, um sie aus den Klauen dunkelhäutiger Bösewichter zu befreien (oder vielleicht auch nur, um sie davon abzuhalten, ausgerechnet U2 auf einer Europatournee zu begleiten). Im ersten Sequel galt es, neben Kim gleich noch deren von Bryan getrennt lebende Mutter Lenore (Famke Janssen) zu retten - diesmal aus Istanbul. Los Angeles, der Wohnort der mustergültig zerbrochenen Musterfamilie, war jeweils nur an den Filmanfängen und -enden präsent - der dritte Film spielt jetzt allerdings über die gesamte Laufzeit an der Westküste der USA.

Das ist super, weil dadurch einerseits die rassistische Schlagseite der Vorgänger merklich gedämpft wird beziehungsweise nur noch in Gestalt eines irgendwann lediglich mit Unterhose und Goldketten bekleideten Krawallrussen sich manifestiert; und weil man andererseits erst jetzt bemerkt, was für ein seltsames Amerika das ist, in dem Bryan und die Seinen hausen. Fast schon ein hyperamerikanisches Amerika ist das, ein Amerika, das nur aus im Fünfzigerjahrestil eingerichteten Diners zu bestehen scheint, in denen All-American girls gigantische Süßgetränke schlürfen und ihre dauergrinsenden, durchtrainierten boyfriends daten; ein Amerika, das fast schon moneyshotmäßig wieder und wieder mit herausragend amerikanischen Bildern etwa des Santa Monica Pier bewiesen werden muss. Das aber gleichzeitig stets ein wenig abstrus, wie neben der Spur wirkt, wenn man ein klein wenig genauer hinschaut: Ist da wirklich in einem x-beliebigen mom and pop store eine Weinabteilung von solch gigantischen Ausmaßen aufgebaut, wie sie selbst in französischen Supermärkten selten zu finden sein dürfte? Und woher stammt der fashion sense jenes ohnehin großartig derangierten Polizisten (durchweg tolles casting!), der auf den Hinweis, seine Einheit benötige mehr Koordination, mit bestürztem Blick auf seine Kleidung antwortet: "What do you mean? Color coordination?"



Aber was heißt, andererseits, neben der Spur? Selbstverständlich gibt es viele Amerikaner, die etwas von Wein (der eh nur dafür gut ist, von den bad guys zu Scherben geballert zu werden, klar) und auch Polizisten, die etwas von Mode verstehen. Man muss nur genau genug hinschauen... "Taken 3", vorderhand ein komplett durchstereotypisiertes Multiplexprodukt, untergräbt hinterrücks Vorurteile, entwirft dabei das vielleicht exzentrischste Amerikabild, das das Kino in den letzten Jahren hervorgebracht hat. Und erweist sich zumindest in dieser Hinsicht als eine der interessantesten Produktionen aus Luc Bessons Genrefilmschmiede EuropaCorp, die seit ihrer Gründung damit beschäftigt ist, die ehrenwerte Tradition des spekulativen amerikanischen B-Films mit europäischem Geld und Personal am Leben zu erhalten.

Einen schlechten Ruf haben viele EuropaCorpfilme - und insbesondere die, die vom "Taken 3"-Regisseur Olivier Megaton inszeniert werden - aufgrund vermeintlicher handwerklicher Mängel. Megaton sei, sagen seine Kritiker, nicht in der Lage, eine auch nur halbwegs kohärente oder gar elegante Actionsequenz zu inszenieren. Zumindest was seine beiden "Taken"-Sequels betrifft, passt die Diagnose. Auch im neuen fährt er gleich mehrere Prügel- und vor allem eine Autoverfolgungssequenz gnadenlos gegen die Wand: wenn ein Sattelschlepper auf der Autobahn seine Ladung verliert und gigantische Fässer den nachkommenden Fahrzeugen entgegenhüpfen, sollte das Publikum eigentlich vor Angstlust erzittern; leider ist die entsprechende Sequenz so hanebüchen geschnitten, dass man eher meint, ungeschickten Kindern bei einem wenig inspirierten Murmelspiel zuzuschauen.



Wer "Taken 3" aus solchen Szenen einen Strick dreht, sitzt allerdings einem Missverständnis auf: In Actionfilmen geht es gar nicht um die Action. Zumindest nicht um deren handwerklich korrekte Durchführung. Sondern es geht darum, welche Energien die Action freisetzt. Und was die Action um sich herum ermöglicht. Es geht auch um einen Modus der Wahrnehmung: Ein guter Actionfilm hilft dabei, die Welt als eine Ansammlung von Attraktionen zu begreifen. Und wenn die Autoverfolgungsjagd in diesem Fall nichts taugt, kann man sich umso mehr an jenen Szenen früh im Film erfreuen, in denen Liam Neeson nicht mit seiner Familie, beziehungsweise mit kriminellen Schießbudenfiguren interagiert, sondern mit einem gigantischen Plüschpanda, den er erst neben sich auf dem Autositz platziert und nachher mehrmals um Rat und Meinung fragt; oder an den großartig bizarren Momenten, in denen Forest Whitaker, der in einer exorbitanten Performance (in Anlehnung an seine legendäre Rolle in der Fernsehserie "The Shield") Polizei-Manierismen pflegt, an Donuts schnuppert, in denen er (zurecht!) den Schlüssel zur Auflösung des Kriminalfalls, in den Neeson verwickelt wird, vermutet. Actionfilme sind keine Frage der Technik, sondern eine der Einstellung (nicht nur der Filmemacher, auch einer Kritik, der es nicht selten an Neugier fehlt). Vielleicht sind sie außerdem eine Frage der "color coordination": "Taken 3" ist auf klassischem 35mm-Material gedreht und sieht mit seinen warmen Farben und seiner weitgehend naturalistischen Lichtsetzung einfach umwerfend aus.

Lukas Foerster

96 Hours - Taken 3 - Frankreich 2014 - Originaltitel: Taken 3 - Regie: Olivier Megaton - Darsteller: Liam Neeson, Maggie Grace, Famke Janssen, Forest Whitaker, Dougray Scott, Leland Orser - Laufzeit: 109 Minuten.

Außerdem diese Woche neu: "Ich will mich nicht künstlich aufregen" von perlentaucher-Autor Max Linz. Hier unser Text von der Berlinale 2014.