Im Kino

Ein Morgen voller Sonnenschein

Die Filmkolumne. Von Rajko Burchardt, Lukas Foerster
13.01.2015. Zwei unterschiedlich erfolgreiche Remakes: Will Gluck gelingt in "Annie" die spielerische Reform eines einst allzu gefallsüchtigen Musicals. Rupert Wyatt dagegen verwandelt in "The Gambler" eine existentialistische Charakterstudie in ein stylishes Nichts.


Meine erste und für lange Zeit einzige Begegnung mit "Annie" war eine angemessen verstörende. In "Serial Mom", einer Mediensatire von John Waters, gibt es eine Szene, die sich das bekannte Musical (beziehungsweise dessen Verfilmung aus dem Jahre 1982) sehr sonderbar zueigen macht. Eine ältere Dame begeht eine Art heimisches "Annie"-Ritual: Sie startet die Videokassette des Films, macht es sich im Fernsehsessel bequem, isst beinahe erregt ein Sandwich. Dazu trällert sie die (ziemlich penetrante) "Tomorrow"-Ouvertüre des Musicals, während ein Hund ihr die Füße ableckt. Und als wäre dieses Bild noch nicht bizarr genug, wird die Dame hinterrücks von einer Serienmörderin erschlagen - mit einer gewaltigen Lammkeule. Die bezaubernde Annie auf dem Fernsehschirm ist nun ganz von Blut- und Bratenspritzern übersäht. Der Gesang des kleinen Mädchens, das eben noch einen Morgen voller Sonnenschein verkündete, tönt ins Nichts. Besser als dieser Moment, dachte ich seinerzeit, könne der eigentliche und mir völlig unbekannte "Annie"-Film kaum sein.
 
Als ich die erste Kinoadaption des 1977 am Broadway uraufgeführten und vom US-Comic "Little Orphan Annie" inspirierten Musicals schließlich sah, schien mir klar, was es mit deren Verwendung in "Serial Mom" auf sich hatte. Gefallsüchtig und überzuckert erzählt der erste "Annie"-Film von den unwahrscheinlichen Abenteuern eines neunmalklugen Waisenkindes, das selbst zynische Milliardäre dazu bringt, es adoptieren und schrecklich lieb haben zu wollen. Produziert ist der Film dabei so, als habe er es auf ein zumindest ideologisch greises Publikum abgesehen. Inhaltlich im New York der mittleren 30er Jahre angesiedelt und formal wie aus der Zeit gefallen, möchte er an klassische Musicals der Studioära Hollywoods erinnern und greift dazu gar rassistische Stereotypen auf. Er schwelgt in üppigen Kulissen und derer betonter Künstlichkeit, er bebildert und besingt familiäre Nächstenliebe, konservierte Geschlechterrollen, debile Sozialromantik. Den zwanghaft gutgelaunten Menschen in diesem Film kann man wirklich nur die Lammkeule an den Hals wünschen.
 
Nun kommt eine Neuauflage des Musicals ins Kino, die sehr anders, vor allem aber sehr viel besser ist. Sie überträgt die Geschichte in ein New York der Gegenwart und entledigt sich ihrer antiquarisch anmutenden Elemente. Die im Original rot gelockte Titelfigur wird nicht länger von einer weißen Newcomerin gespielt, wie es noch die erste Kinofassung oder das TV-Remake von 1999 mit einem stolzen "Introducing"-Hinweis im Vorspann betonten, sondern von der zwölfjährigen schwarzen Nachwuchsschauspielerin Quvenzhané Wallis. Oscar- und Grammy-Preisträger Jamie Foxx tritt als jener verbitterte Milliardär auf, der das Waisenmädchen Annie zunächst aus PR-Gründen zu sich holt, seine Karrierepläne aber schließlich gegen aufrichtige Vatergefühle eintauschen wird. Einen kubanischen Butler, der zu "orientalischen" Klängen infantile Zauberstücke aufführt, gibt es in der neuen Version ebenso wenig zu sehen wie einen asiatischen Chauffeur, der Attentatsversuche auf seinen Chef mit Kung-Fu-Klamauk vereiteln muss.
 


Ebenfalls lässt sich die Neuverfilmung nicht jener Tradition postmoderner Kino-Musicals zuordnen, an der sich Autorenfilmer älterer Generationen regelmäßig abgearbeitet hatten. Der im klassischen Studiosystem geschulte Regisseur John Huston ließ den 1982er-"Annie" immerhin reichlich idiosynkratisch wirken: Als popmusikalische, aber zugleich im alten Hollywoodstil gehaltene Prestigeproduktion schien der Film von sehr unterschiedlichen Ambitionen bestimmt. Und gilt, wie auch "The Wiz" von Sidney Lumet oder "Popeye" von Robert Altman, als Paradebeispiel eines verunglückten Musicals, das im Schaffenswerk seines Regisseurs eine kuriose Sonderstellung einnimmt.
 
Solch derangierte Eleganz liegt dem ehemaligen Sitcom-Autor und neuen "Annie"-Regisseur Will Gluck fern. Er ist allenfalls bekannt als solider Komödienhandwerker und Erfüllungsgehilfe der Sony-Filmstudios, für die er bislang exklusiv tätig war. Umso spielerischer nähert er sich der ihm unvertrauten Musicalform. Seine Gesangs- und Tanzta­b­leaus erscheinen weder opulent noch kompliziert, den Choreographien fehlt jedes überwältigende Element. Stattdessen verkleinert Glucks Re-Inszenierung des von den Pflegekindern gesungenen Motivationsliedes "It"s a Hard Knock Life" das großflächige Waisenhaus der Vorlage zum beengten Raum eines New Yorker Apartments. Diese Verdichtung der vielleicht bekanntesten Musicalnummer aus "Annie" hat etwas Intimes - und auch viele andere optischen Einfälle zielen auf die unmittelbare Nähe zum Publikum. So nutzt der Film in die Kamera geschüttetes Wasser oder frontal ins Bild ragende Gegenstände als Popup-Effekte, die den Musicaltext gesanglich und visuell abbilden. Es hätte sich eigentlich angeboten, "Annie" in 3D zu produzieren. Gab es überhaupt schon ein 3D-Hollywoodmusical?
 
Ziemlich geschickt bemüht sich Will Gluck, den Erbauungskitsch des Stoffes in seine Version hinüberzuretten. Die zwar neu arrangierten, aber nicht ostentativ modernisierten Songs verpassen der Vorlage einen zeitgemäßen Anstrich, lassen deren kalenderspruchartige Weisheiten und Ansprachen beinahe ein wenig ironisch wirken. Eskapistisch statt moralinsauer, versteht sich "Annie" 2014 als unbeschwertes, geradewegs vergnügungssüchtiges Update einer altbackenen Geschichte über Bekehrung und Reue. Es gibt eine tolle Szene, in der die von Cameron Diaz gespielte (und weniger boshaft als in vorherigen Fassungen auftretende) Pflegemutter die Faszination von Musicals erklärt. Wenn Menschen ohne ersichtlichen Grund zu singen beginnen sei das eben schlicht magisch. Die Schönheit eines ganzen Filmgenres, salopp auf den Punkt gebracht.

Rajko Burchardt


Annie - USA 2014 - Regie: Will Fluck - Darsteller: Quvenzhané Wallis, Jamie Foxx, Adewale Akinnuoye-Agbaje, Cameron Diaz, Zoe Margaret Colletti - Laufzeit: 118 Minuten.

---



Es gibt, das muss man dem Film lassen, in "The Gambler" einige herausragend seltsame Szenen. Hervorzuheben ist insbesondere eine der absurdesten fiktionalen Vorlesungen der Filmgeschichte: Mark Wahlberg gibt den Literaturprofessor und schwadroniert darüber, dass es in so ziemlich allen Lebensbereichen fast ausschließlich auf natürliche Begabung ankomme, dass deshalb seine eigene Profession komplett überflüssig sei. Bald beginnt er, auf der Suche nach Beweisen für seine These, die Sitzreihen zu durchstreifen. Da stößt er zum Beispiel auf einen notorischen Kiffer, der innerhalb weniger Jahre zu einem der besten Tennisspieler des Landes aufgestiegen ist (und trotzdem nichts besseres zu tun hat, als sich Wahlbergs gaga-talk anzuhören); und auf ein schüchternes Mädchen, das sich hinter ihrem Laptop versteckt und das er zielsicher als ein literarisches Talent ersten Ranges identifiziert.

Gut, mit der kommenden Literaturnobelpreisträgerin steigt er wenig später ins Bett - was der Film zwar durchaus aufdringlich als den ultimativen Beweis nonkonformistischer Verkommenheit präsentiert, was aber immerhin diese eine Handlung nachträglich mit einem nachvollziehbaren Motiv erdet. Wenn Wahlbergs Professor Jim Bennett dagegen hyperventilierend, in dämonisierender Untersicht gefilmt, vor einem auf eine Leinwand projizierten Camus-Cover Reden schwingt, muss man gar nicht erst anfangen mit Plausibilisierungsversuchen. Man könnte es statt dessen mit Lachen probieren. Wenn das Ganze nur nicht so… ernst gemeint wäre, möchte man zuerst sagen, weil dem Film jegliches Bewusstsein für die eigene Abstrusität fehlt. Aber dass ein Film, der von Tarantino bis (ganz besonders penetrant) Winding Refn alles sampelt, was in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten unter filmischer Coolness lief, sonderlich ernst gemeint wäre, steht nun auch wieder nicht zu vermuten.

Es muss natürlich auch nicht jeder Film sich selbst bitter ernst nehmen. Der erste "The Gambler"-Film aus dem Jahr 1974, dessen recht freies Remake der aktuelle ist, nahm sich zum Beispiel fast ein wenig zu ernst: Eine manchmal etwas allzu angestrengt anmutende, von Gustav-Mahler-Klängen manchmal etwas zu humorfrei existentialistisch eingefärbte Charakterstudie war das; aber doch immerhin ein Film, der halbwegs nachvollziehbar machen konnte, warum seine damals von James Caan verkörperte Hauptfigur ohne äußeren Anlass die Kontrolle über das eigene Leben verlor. Oder zumindest, wie sich dieser Kontrollverlust anfühlt, wie man mit der Welt und den lehmig-warmen Farben des New Yorks der siebziger Jahre klar kommt, wenn man sich groß und stark und männlich, also jamescaanmäßig fühlt, aber plötzlich so gar nichts mehr auf die Reihe bekommt.



Nicht jeder Film muss sich selbst reflektieren, nicht jeder muss sich ernst nehmen, es muss sich noch nicht einmal jeder zwischen beidem entscheiden. Aber wie soll man sich zu diesem Mark Wahlberg verhalten, der gleichzeitig antriebslos und doch wie aufgezogen durch Los Angeles driftet, vom Hochglanzcasino zum schrill überzeichneten Geldeintreiber, vom Tennisplatz der High-Society-Mutter zum modernistisch konstruierten Eigenheim, vom Vorlesungssaal zum Motelsex mit der eh auch bald genervten Studentin; der links und rechts Geldbündel verzockt, ohne mit der Wimper zu zucken, dabei aber nicht in eine existentialistische Krise (die müsste sich schließlich von einem nicht krisenhaften Normalzustand abheben) gerät, sondern nur in eine eher mittelmäßig gut konstruierte Gangstergeschichte; der neben seiner Sonnenbrille auch stets ein miesepetriges Knautschgesicht aufsetzt, das sich von seiner Umwelt schon mimisch abschließt, ohne freilich auf nur irgendeine (zum Beispiel, wie bei Caan, auf eine narzisstische) Innerlichkeit zu verweisen?

Man könnte sich, denkt man erst, statt dessen an all das halten, was neben diesem leeren Zentrum sichtbar wird. Die Besetzung zum Beispiel ist interessant. Zwischendurch tauchen jede Menge tolle Nebendarsteller auf; zwei davon kennt man aus "The Wire", ein dritter ist ein inzwischen wirklich grotesk aufgeschwemmter John Goodman. Es gibt viel Casino- und ein bisschen High-Society-Glamour (die eigentlichen Gambler-Szenen sind schrecklich doof - das war allerdings auch schon im alten Film so), es gibt einige rabiate Gewaltszenen, zwischendurch einige halbwegs atmosphärische LA-Panoramen. Doch bleibt alles Accessoire. Was ist, ist nicht aus innerer Notwendigkeit, sondern weil jemand, vermutlich der Regisseur Rupert Wyatt, von dem man nach dem schönen "Planet of the Apes"-Relaunch Besseres erwarten durfte, sich gedacht hat: Wäre cool, das auch noch zu haben. Und jetzt steht es halt im Film rum wie in einer eh viel zu kleinen Wohnung eine zusätzliche Stehlampe, die zwar halbwegs stylish, aber doch vor allem im Weg ist.

Lukas Foerster

The Gambler - USA 2014 - Regie: Rupert Wyatt - Darsteller: Mark Wahlberg, Jessica Lange, Brie Larson, Anthony Kelley, John Goodman, Michale Kenneth Williams, Griffin Cleveland - Laufzeit: 111 Minuten