Im Kino

Emotionaler Katalysator

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
25.02.2015. 130 Minuten unterkühlte Meinungsfilm-Standardsituationen bekommt man in Clint Eastwoods umstrittenen "American Sniper" serviert. Indiepoppig und pastellfarben geht es in Daniel Ribeiros Coming-out- / -of-Age-Film "Heute gehe ich allein nach Hause" zu.


Dort drüben läuft die Mutter mit dem Kind. Hier droben lauert der Scharfschütze. Kriegsgebiet, Irak. US-Panzer rollen an, die Mutter steckt dem Kind was zu. Der Scharfschütze lauert. War es eine Granate? Der Scharfschütze lauert. Das Kind rennt auf den Panzer zu. Atmen, Gewissensbisse, der Scharfschütze - nein, drückt nicht ab. Oder doch, aber früher: match cut in die Kindheit, Jagd im Wald, ein Schuss fällt, das erlegte Reh auch. Auf das Kind im Irak wird man erst später wieder zurückkommen.

Der spätere Scharfschütze, lernt man hier, war also immer schon ein solcher. Er heißt Chris Kyle, gespielt wird er von Bradley Cooper im (wie man seit Sonntagmorgen weiß: letztendlich erfolglosen) Oscar-Overdrivemodus der Totalverkörperung mit viel Zusatz-Fett und -Muskeln, und es gab ihn wirklich: Um die 160-mal hat er im Irak getroffen, so oft wie kein anderer, danach hat er Memoiren verfasst und fiel schließlich selber einer Kugel zum Opfer. Nicht im Irak, sondern in den Staaten. Erschossen von einem anderen Veteranen. Ein Leben für die Kugel: In der Kindheit bei der Jagd, beim Militär, beim Sterben schließlich auch. Ein schicksalhaftes Leben, seufz.

Als schicksalhaftes hat Drehbuchautor Jason Hall Chris Kyles Leben in Form gebracht, als solches hat es Clint Eastwood inszeniert. Was bedeutet, dass alles schon immer ausgebreitet, alles immer schon bekannt ist: Da ist der Vater, der am Esstisch allegorisch was von Schafen und Wölfen faselt, der seinem älteren Sohn Chris aus rustikalem Männlichkeitsgehuber einen saftigen Beschützerkomplex einflüstert, der aus jenem im Irak einen Kriegshelden macht, treudoofes Ritterlichkeitsverständnis inklusive: Beim Therapeuten wurmt ihn später nicht die Zahl der Menschen, die er ins Jenseits befördert hat, sondern dass die Zahl der eigenen Jungs, die er durch beherzteren Zugriff hätte retten können, ruhig noch größer hätte sein können. Da ist auch die entbehrungsreiche Ausbildung, da sind die Gesten der Verbrüderung, natürlich der Gewissensbiss auf dem Dach und die Traumatisierung im wildesten Kampfgetümmel: "Schatz, ich komme bald nach Hause", weint er ins Telefon, als es mal so richtig rund geht. Vier Kampfeinsätze hat Kyle absolviert und von jedem kommt er ein bisschen entfremdeter zur Familie zurück. Seitens der Gattin fallen erwartbare Sätze, zu denen der Soldat ebenso erwartbar auf Pflicht und Ehre insistiert. Wenn es ums Kämpfen gegen fremde und Beschützen eigener Männer geht, haben Frau und Kind hintanzustehen. Bitter, diese Entsagung - ein echter Held.

Mag ja alles so sein. Wenn Ehen unter etwas wenig Erfreulichem wie beispielsweise Krieg zu leiden haben, ist das oft nicht schön. Nur: Kann man sich in einer ruhigen Minute tatsächlich schon einmal gedacht haben. Da braucht es keine über 130 Minuten bräsigen Abhakens unterkühlt inszenierter Standardsituationen vom gezeichneten Veteranen, verpackt in einen Film, in dem die Sachlage immer schon sortiert ist.



Seit Wochen kommt man um eine Positionierung zu "American Sniper" nicht herum: Ist der Film nun rechts (weil die Iraker kontextlos als mordgeile, entmenschlichte Vasallen hingestellt werden) oder links (weil der Film zeigt, dass Krieg eben auch auf Siegerseite ziemlich mürbe macht)? Oder beides zugleich, vielleicht sogar keins von beidem? Ein gefundenes Fressen für die oft profillose Filmkritik: Endlich mal wieder gratis Haltung einnehmen!

Wenn der Film ein Tribut an einen Kriegshelden sein soll, muss man attestieren: Das ist schon eher schwach. Wer fühlt sich von einem Film geehrt, der stets aufs Naheliegendste versessen ist und einfach bloß die Checkliste durchgeht? Na vielen Dank auch, dafür ist Kyle viermal in den Irak gezogen und am Ende in den USA verblutet? Aber Kriegsfilm? Antikriegsfilm? Eh immer eine schwierige Sache. Mehr als nur eine Spur zu sehr hat Eastwoods Inszenierung Freude an der Kriegssause, wenn die Kugeln fliegen. Wenn "American Sniper" ein Antikriegsfilm ist, dann einer der eher dümmlichen Art: "Krieg? Voll doof. Aber hey, geil, schau mal!" Für einen gestandenen Revisionistenfilm wiederum, an dem sich abzuarbeiten, von dem sich zu distanzieren, über den entsetzt sein zu können am Ende ein gewisses Maß an Freude in Aussicht stellen würde, ist das schon zu sehr Kompromiss, lauwarm in Formvollendung. Die kernigeren Faschisten des Hollywoodkinos hätten Schmackhafteres zubereitet. Schließlich will man auch vom politischen Gegner etwas geboten bekommen.

Also nun, Gretchenfrage der Kinosaison, wie hältst Du es mit "American Sniper", sprich. Ehrlich gesagt: Mir einschneidend egal, das Ganze. Der Film ist schlicht stinklangweilig und gähnend leer. Mögen andere - dem Filmgeschäft zum einträglichen Gewinn, nichts rentabler als ein Film, den viele Leute aus nur den besten Gründen von Herzen ablehnen oder befürworten - eine eindeutige, resolute, von nichts als der reinen Wahrheit und edelster Gesinnung getragene Meinung dazu kundtun. Man muss ja nicht jeden Scheiß mitmachen, weder muss man jeck in den Krieg ziehen, noch jeder vor die Nase gehaltenen Meinungsfilm-Karotte hinterherlaufen.

Thomas Groh


American Sniper - USA 2014 - Regie: Clint Eastwood - Darsteller: Bradley Cooper, Kyle Gallner, Cole Konis, Ben Reed, Elise Robertson, Luke Sunshine - Laufzeit: 132 Minuten.

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Die erste Einstellung fügt sich zu einem geometrischen Muster: Eine Aufsicht auf einen Poolrand, unten rechts das Wasser, darüber liegt, weit ausgestreckt, der Junge Leo (Ghilherme Lobo), links ragt senkrecht der Mädchenkörper von Giovana (Tess Amorim) ins Bild. Das Bild hat etwas Entspanntes, aber auch etwas dezidiert Geordnetes: zwei distinkte Körper, jeder an seinem Platz. Die beiden Teenies reden zwar übers Küssen, aber dass zwischen ihnen erotisch etwas laufen könnte, ist von Anfang an ausgeschlossen. Wobei die platonische Freundschaft der beiden ausgesprochen zärtliche Züge trägt und eine körperliche Komponente schon deshalb hat, weil Leo blind ist und immer wieder von Giovana gestützt, angeleitet werden muss.

Ganz anders eine Szene wenig später in der Schule. Als Gabriel (Fabio Audi), ein neuer Mitschüler, das Klassenzimmer betritt und sich vorstellt, fokussiert der Film sofort Leos Ohr in Großaufnahme, evoziert damit nicht nur eine Wahrnehmungssituation, sondern gleichzeitig, zum ersten Mal im Film, intime körperliche Nähe. Mit diesem Schnitt enttarnt sich der Film als Comingoutmaschine und auch als Liebespaargenerierungsmaschine; im weiteren macht "Heute gehe ich allein nach Hause" so wenig Anstalten, diese seine beiden Bestimmungen zu verbergen, dass man gelegentlich meint, die jeweils nächsten fünf Szenen ungesehen vorhersagen zu können. (Und wo es nicht geradlinig vorwärts geht, wird es geradlinig redundant: Dreimal fragt Gabriel Leo, ob der etwas gesehen habe, gerade sehe, sehen möchte. Dreimal macht sich der allseits begehrte Lockenkopf gleich danach über sich selbst lustig, jedesmal mit exakt demselben offenen Auflachen, demselben Schulterzucken.)

An sich muss das nicht gegen "Heute gehe ich allein nach Hause" sprechen - der Reiz gerade von Teeniefilmen liegt oftmals nicht in ihrer Originalität, sondern in den Freiheiten zum Beispiel für komische Details und Alltagsbeobachtungen, die eine gut eingeführte Form wie nebenbei ermöglicht. In diesem Fall hat mich allerdings geärgert, dass die glasklare narrative Zurichtung des Films seine anfängliche Besonderheit - Leos Blindheit - nicht nur zu einem Gimmick, sondern, schlimmer noch, zu einem emotionalen Katalysator reduziert: Aufgrund seiner Sehbehinderung wird der arme Junge eh schon in der Schule gehänselt, zu Hause dagegen ängstlich verhätschelt (tolle besorgte-Mutter-Einstellungen allerdings). Man kommt kaum umhin, hinzuzufügen: und dann ist er auch noch schwul. Eine unangenehme Dynamik, und sie wird eben nicht dadurch erträglicher, dass Leo mit all dem ausgesprochen souverän umgeht. Blindheit wie Homosexualität begreift der Film zwar nicht als Probleme - gut; aber doch als ein Parcours von Aufgaben, den es zu bewältigen gilt, damit am Ende das glückliche Leben stehen kann. (Wobei die Dramaturgie kräftig nachhilft; am kräftigsten in der dann wirklich ärgerlich harmoniesüchtigen letzten Szene, in der sich die Homophobie von Leos Mitschülern von selbst erledigt.)

(Ein kleiner, unfairer Seitenblick aus aktuellem Anlass sei gestattet: "Boyhood", ein anderer, jüngst bei einer Awardvergabe völlig zu Unrecht weitgehend zugunsten eines wehleidigen Vogelmenschen übergangener Coming-of-age-Film, wurde von einigen Seiten für die begrenzte soziale Reichweite seiner Erzählung gerügt; aber um wieviel erfahrungsoffener und weltgesättigter ist doch Linklaters Erziehung des heteronormativ-weißen Jungsherzens als ein Film wie "Heute gehe ich allein nach Hause", der sich zwar einen soziologischen, aber keinen ästhetischen Begriff von Differenz zu machen versteht.)



Ein Film, der sein überdeutlich ausformuliertes Programm sauber und rückstandsfrei abarbeitet? So schlimm ist "Heute gehe ich allein nach Hause" auch wieder nicht. Schön zum Beispiel, wie Daniel Ribeiros schon auch im Guten sorgfältige Regie Orte definiert, an denen sich die Innerlichkeit der Figuren kristallisiert, zum Beispiel das Tor mit dem weißen Gitter, hinter dem das Haus von Leos Familie steht und durch das der Protagonist immer wieder, mit jeweils unterschiedlicher Entschlossenheit tritt. Und wenn die beiden Hauptfiguren einen etwas mindervitalen Eindruck machen, dann ist die Giovana-Darstellerin umso lebendiger; auch die Nebenrollen sind teils ziemlich großartig besetzt, zum Beispiel mit einem erstklassigen blonden Schulhofbully und mit einem wunderschön linkischen Zahnspangensäufer.

Manch anderes ist eine Frage des Geschmacks. Zum Beispiel wird es sicher Leute geben, die "Heute gehe ich allein nach Hause" für einen schön fotografierten Film halten. Mich haben die Beige- und Ockertöne, die die Inneneinrichtung von Leos Elternhaus dominieren, eher deprimiert, genauso wie die etwas natürlicheren, lichteren Pastellfarben der Schulszenen. Passend dazu die grauen Schuluniform-T-Shirts mit türkisem Kragen und aufgestickter Eule… Oder die Musik: Leo mag am Anfang des Films nur Klassik. Gabriel dagegen wählt, wenn er seinen neuen erst einmal nur Kumpel zum Tanzen bringen möchte, im Ipod flockigen Indiepop an. Logisch: Die Welt von "Heute gehe ich allein nach Hause" ist eine, in die Belle and Sebastians sanfte Streicheleinheiten definitiv besser passen als Beethovens aufbrausende Exzesse (die ihrerseits nur einmal per Handyklingelton in den Film eindringen). Auch das eine Frage des Geschmacks, klar. Meinen trifft der Film, leider, kein bisschen.

Lukas Foerster

Heute gehe ich allein nach Hause - Brasilien 2014 - OT: Hoje Eu Quero Voltar Sozinho - Regie: Daniel Ribeiro - Darsteller: Ghilherme Lobo, Fabio Audi, Tess Amorim, Lucia Romano, Eucir de Souza, Selma Egrei - Laufzeit: 96 Minuten.