Im Kino

Durch und durch korrupt

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky
18.02.2015. Paul Thomas Anderson "Inherent Vice - Natürliche Mängel" übersetzt Thomas Pynchons Prosa in komplexe filmische Melancholie. In "Whiplash" entfaltet Damien Chazelle einen dialektischen Begriff vom Virtuosentum.


Vielleicht vor allem Anderen ist das ein Film über Stimmen. Zunächst einer über die Stimmmodulation des Hauptdarstellers Joaquin Phoenix, der den Privatdetektiv Doc Sportello als einen derangierten Sprachkünstler (mit wuchernden Koteletten) anlegt. Meist formen sich die Worte, die Phoenix von sich gibt, zu einem langsamen, drogenverhangenen Lallen, das ins artikulationslose Nichts auszufransen droht, wenn er sich doch einmal zu einem kurzen Strohfeuer manischer Aktivität hochpeitscht, verhaspelt er sich, will zehn Dinge gleichzeitig loswerden. Kaum ein Wort, das nicht fast bis zur Unverständlichkeit verschliffen wird, kaum ein Satz, der nicht in der Luft hängen bleibt. Eine brüchige Stimme, die auf einen prekären Weltbezug verweist. Docs präferierter Existenzmodus ist das zugedröhnt Herumlümmeln, gegen das sich jede Form aktiven Handelns mühsam behaupten muss.

Daneben gibt es in "Inherent Vice - Natürliche Mängel" (die deutsche Übersetzung ist mindestens ungenau…) andere Stimmen, vor allem eine bestimmte andere, eine weibliche Stimme, die als Voice-Over-Kommentar Docs Handlungen - zunächst die Suche nach seiner vermissten Ex-Freundin Sloane, die kurz vor ihrem Verschwinden mit einem halbseidenen Auftrag an ihn herangetreten war, später sein immer zielloseres Stochern in einem Nebel aus Intrigen und Verrat - begleitet. Diese andere Stimme markiert im Film zwar keine objektive Außenperspektive - tatsächlich ist sie schon deshalb in Docs Welt verstrickt, weil sie von der Schauspielerin Joanna Newsom gesprochen wird, die auch in einer kleinen Rolle auftaucht; aber sie hebt sich konsequent von Phoenix" Gestammel ab: Newsom spricht in ganzen, fein gefertigten Sätzen, gleichmäßig, entspannt und sauber artikuliert, nur gelegentlich lässt sie sich zu einer maliziösen, lustvoll unheilverheißenden Flektion hinreißen.

Gleichzeitig verweist der Voice Over auf den literarischen Ursprung des Films. "Inherent Vice" ist eine Adaption von Thomas Pynchons gleichnamigem vorletzten Roman. Der Film ist damit zwar allerdings nicht, wie es gelegentlich heißt, die erste Pynchon-Verfilmung überhaupt - mit Robert Bramkamps "Prüfstand VII" und Alex Ross Perrys "Impolex" existieren mindestens zwei filmische Annäherungen an das magnum opus "Gravity"s Rainbow"; aber doch die bisher aufwändigste, die erste, die den Versuch unternimmt, die Prosa des großen Unbekannten des amerikanischen Literaturbetriebs in eine mit dem Alltagsbetrieb des Kinos kompatible Form zu übersetzen.

Pynchons Bücher galten bislang nicht nur aufgrund ihrer komplizierten bis offen schwachsinnigen Narrative als unverfilmbar; sondern, und vielleicht noch mehr, aufgrund ihres einzigartigen Sprachflusses, aufgrund der Art und Weise, wie der Autor seine Sätze mutwillig entgleisen lässt: Oft ist bei Pynchon ein einziges Wort in der Lage, eine semantische Konstruktion so weit aus dem Gleichgewicht zu bringen, dass sich die Sprache selbst abzulenken scheint, ganz ohne auktorialen Eingriff. Die spezifische Faszination des Werks dürfte zumindest auch in der Spannung zwischen diesem bereits auf der basalen Ebene der Aneinanderreihung von Worten evidenten Hang zur Sinnzersetzung und der komplexen semantischen Verweisstruktur liegen, zu der sich Pynchons Bücher - jedes für sich, aber auch alle gemeinsam - auf einer anderen Ebene trotzdem fügen. (Und die man zum Beispiel in den zahlreichen Pynchon-Wikis nachvollziehen kann; hier das zu "Inherent Vice").



Vielleicht findet diese Spannung einen leisen Wiederhall in der eingangs erwähnten anderen Spannung zwischen dem sich selbst entgleitenden Stammeln der Hauptfigur und Newsoms souveränem Voice-Over-Kommentar (der zu weiten Teilen wortwörtlich dem Roman entnommen sein dürfte). Aber das ist vermutlich zu spitzfindig gedacht. Denn Anderson Formsprache versucht gerade nicht, sich der Pynchons avantgardistischer Prosa gleich zu machen. Ganz im Gegenteil löst der Regisseur seinen Film auffällig, fast schon (passend zum verwendeten analogen Filmmaterial) obsessiv klassisch auf. "Inherent Vice" besteht fast komplett aus einer Aneinanderreihung von Gesprächen, die Einstellungen bleiben oft ausgesprochen lange stehen, die Kamera dynamisiert die Unterhaltungen nur minimal, durch langsame Zooms oder tracking shots. Selten sind in einer Szene mehr als drei Figuren zugegen, gelegentlich schneidet das Framing einer davon den Kopf ab.

Wahrscheinlich tut Anderson gut daran, gar nicht erst zu versuchen, eine filmische Entsprechung des Pynchon"schen Sprachflusses zu finden. Aber was macht er statt dessen? Tatsächlich ist es mir, obwohl ich mich in seinem Film zumeist wohlgefühlt habe, lange schwer gefallen, das spezifische Interesse des Regisseurs an seinem Stoff zu identifizieren. An wahlweise fluffigem oder abgründigem Gegenkulturpastiche - Jahr der Handlung ist 1970, das Personal besteht fast ausschließlich aus "dopern" unterschiedlicher Coleur - hat sein Film zum Beispiel kaum Interesse; am Anfang tauchen einige Oberflächenreize in diese Richtung auf, zum Beispiel ein Sexclub, der ein "pussy eater"s special" anbietet ("it"s dark and lonely work, but someone"s got to do it", heißt es später einmal zum selben Thema); aber bis auf eine Handvoll modische Details und gelegentlich die Gesprächsszenen miteinander verbindenden Popsongs - selbst die verschwinden tendenziell aus dem Film, je länger er dauert, werden durch monoton-hypnotische Soundteppiche ersetzt, die sich anfühlen wie Thriller-Musik im Leerlauf - verzichtet der Film auf alles aufwändige world building.

Man könnte das auch so beschreiben: Jede einzelne Einstellung nimmt die Schauspieler wichtiger, als die Welt, durch die sie sich bewegen. Aber klassisches Schauspielerkino ist "Inherent Vice" auch wieder nicht. Anders als in den früheren, nicht nur darin oft etwas bemüht wirkenden Arbeiten des Regisseurs, halten sich die Akteure zurück, machen selten mehr, als notwendig ist, um den eigenartig ziellosen Fluss der Handlung weiter fließen zu lassen. Selbst Phoenix" Spiel besteht, bei Licht betrachtet, aus kaum mehr als zwei, drei immer neu variierten Spleens. Ich hatte dann irgendwann den Eindruck, dass diese teils fast zombieartig eine gleichzeitig überkomplizierte und sich nicht vom Fleck bewegende Handlung durcharbeitenden Schauspielerkörper vor allem dafür da sind, eine bestimmte Form von Melancholie auszuagieren, aus der eben nicht einfach nur die Sehnsucht nach alten, wilderen, enthemmteren Zeiten spricht.



Tatsächlich geht es schon in der Vorlage um eine komplexere Form von Melancholie. Von den anderen Romanen Pynchons unterscheidet sich "Inherent Vice" nicht nur durch seine - vergleichsweise - simple Handlung (und deshalb: durch seine Verfilmbarkeit); sondern auch durch die Perspektive, die das Buch auf seine fiktionale Welt entwirft. Wo die meisten anderen Pynchon-Romane, und ganz besonders die beiden unmittelbaren Vorgänger "Mason & Dixon" und "Against the Day", historische Panoramen entwerfen, die auf kontrafaktische Utopien und damit auf ungenutzte Potentiale der Weltgeschichte zielen ("like a work of science fiction written in the year 1900" schrieb ein Kritiker über "Against the Day"), geht es in "Inherent Vice" um eine desillusionierte Wiederaufnahme: Die Welt der kalifornischen Drogen- und Gegenkultur hatte Pynchon schon einmal aufgefaltet, in seinem zweiten, geradezu frenetisch paranoiden Werk "The Crying of Lot 49". Wenn "Inherent Vice" in dieselbe, oder zumindest in eine sehr ähnliche Szenerie zurückkehrt, dann schwingt ein schrecklicher Verdacht mit, den ein zentraler Satz des Buches (der im Film komplett zitiert wird) ausformuliert: "Was it possible that at every gathering - concert, peace rally, love-in, be-in, and freak-in, here, up north, back east, wherever - those dark crews had been busy all along, reclaiming the music, the resistance to power, the sexual desire from epic to everyday, all they could sweep up, for the ancient forces of greed and fear?"

Those dark crews: das sind die Kapitalisten, Polizisten, Bürokraten, aber auch wir selbst, wenn wir deren Setzungen verinnerlichen. Pynchons Satz ist als spekulative Frage, nicht als selbstsichere Feststellung formuliert; und doch enthält er die Ahnung, dass alle Hoffnungen, die Pynchons Bücher einst in die Mächte des Falschen, in die produktive Macht der Paranoia (also: aufs Spekulative) gesetzt haben, ihrerseits schon immer durch und durch korrupt waren. Und diese Ahnung scheint mit auch der Grund zu sein für die allen amüsanten Skurrilitäten zum Trotz depressive Grundstimmung des Films. Was nützen, scheint Andersons "Inherent Vice" zu fragen, Docs Slacker-Eskapaden, wenn sie doch immer wieder von der mal spielerisch ironischen, mal offen zynischen Voice Over eingefangen. Oder: Welchen Wert hat die paranoide kinematografische Form des film noir noch, wenn die gesuchte Frau irgendwann, ohne dass der Detektiv auch nur irgendetwas dafür getan hätte, einfach wieder auftaucht (und sich auf schnellen, folgenlosen Sex einlässt)? Und was kann man noch von der befreienden Wirkung von Drogen erwarten, wenn am Ende sogar der (von Josh Brolin großartig tumb angelegte) Faschobulle an einem Joint zieht?

Lukas Foerster

Inherent Vice - Natürliche Mängel - USA 2014 - OT: Inherent Vice - Regie: Paul Thomas Anderson - Darsteller: Joaquin Phoenix, Joanna Newsom, Katherine Waterstin, Josh Brolin, Benicio del Toro, Owen Wilson, Hena Malone, Michael Kenneth Williams - Laufzeit: 148 Minuten.

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Damien Chazelles Debütfilm war "Guy and Madeline on a Park Bench", ein beschwingtes Jazzmusical in Schwarzweiß aus dem Jahr 2009, das damals so einsam wie einzigartig im amerikanischen Independentsegment herumstand. Den darauf folgenden Kurzfilm hat Chazelle nun zu Spielfilmlänge aufgeblasen. Der Titel ist derselbe: "Whiplash", nach einer Jazzkomposition von Hank Levy, der (das habe ich mir rasch bei Wikipedia zusammengeklaubt) berüchtigt war für seine unkonventionellen und schwer zu spielenden Metren.

Der bernsteinfarbene Realismus von "Whiplash" ist auf den ersten Blick sehr weit von der grauskalierten Kinofantasie entfernt, die "Guy and Madeline" war. Ein wenig nach Oscar bait sieht der Film im ersten Akt sogar aus - als kritisches Exposé des quasimilitärischen Drills am fiktionalen Shaffer Conservatory ("the best music school of the country") kann man "Whiplash" indes nur vorübergehend missverstehen. Unter dem New Yorker Lokalkolorit und dem zunächst naturalistischen Spiel der beiden Leads - J.K. Simmons als sadistischer Orchesterleiter Fletcher und Miles Teller als sein getriebener Schüler Adam - versteckt sich wieder ein Musical (ein dunkles und delirantes diesmal anstatt eines hellen und luftigen), das mit allem, was zum Genre dazugehört, zum Ausdruck beziehungsweise zum Ausbruch drängt.
 
Der Drummer Adam wird von Fletcher als "squeaker", als neuer Rekrut, in dessen prestigeträchtige Studioband eingeführt. Fletcher bedrängt und demütigt Adam, vorgeblich um ihn zu Höchstleistungen anzustacheln. Ein Anteil unverhohlener Sadismus ist offenkundig auch im Spiel. "Whiplash" führt Fletchers berechnenden Psychoterror so didaktisch vor, dass ihm der Zuschauer, anders als Adam, nie auf den Leim gehen kann. Trotzdem geht ein Sog aus von diesem autoritären Ersatzvater (der echte ist ein gescheiterter Schriftsteller) - von seiner Spiegelglatze, seinem schwarzen T-Shirt und dem daraus hervorragenden Bizeps, der immer dann besonders plastisch hervortritt, wenn die Hand sich als Stopp-Signal zur Faust ballt.
 


Das moralische Dilemma, das Chazelle (der auch einmal Ambitionen zum Jazz-Drummer hatte) umtreibt, nimmt in einer Schlüsselszene des Films die Form eines sokratischen Dialogs zwischen Lehrer und Schüler an. Die systematische Quälerei sei der einzige Weg, die potenziellen Charlie Parkers unter den angehenden Jazzmusikern zu aktivieren, verteidigt sich der Lehrer. Aber es müsse doch eine Grenze, "a line" geben, die dabei nicht überschritten werden sollte, gibt sein Schüler zu bedenken. Weil Fletcher in der Zwischenzeit der Selbstmord eines ehemaligen Schülers in die Schuhe geschoben wurde, ist dieser Einwand gegen seine Methoden nicht von der Hand zu weisen. Aber weil "Whiplash" nicht nur eine kritische Milieustudie ist, sondern auch ein verkapptes Musical, kann er keine Grenzlinie ziehen, und sei sie noch so gut gemeint, ohne sie hernach mit Genuss zu überschreiten.

So sehr man des Lehrers kalkulierte Grausamkeit vernunftmäßig durchschaut (der Film lässt einem keine andere Wahl), so wenig kann man sich der ultrapräzisen Taktung entziehen, die der Kontrollfanatiker seinem Schüler vorgibt, nicht erst am Dirigentenpult, sondern vermöge seines ganzen Wesens, seiner durch und durch rhythmischen Präsenz. Auch die Bildmontage ist dem Beat des Vaters untertan, und mit ihr bald sämtliche filmische Parameter, bis schließlich jeder Schritt und jede Geste in den übergreifenden Rhythmus eingehen. Der Ausgangsrealismus von "Whiplash" wird nach und nach von der Logik des Musicals unterwandert, jede kritische Einsicht in die Herrschaft des Taktes verkehrt in ihr Gegenteil: die Lust an der Unterwerfung. Der dialektische Begriff, den "Whiplash" sich vom Virtuosentum macht - zwischen totaler Kontrolle und totalem Selbstverlust -, ließ mich so schwindelig zurück, dass ganz zuletzt nicht mehr entscheidbar war, ob ich eben einem happy ending beigewohnt hatte oder der Besiegelung eines Teufelspakts. Nur eines ist sicher: meine Beine haben - unweigerlich - mitgewippt.

Nikolaus Perneczky

Whiplash - USA 2014 - Regie: Damien Chazelle - Darsteller: Miles Teller, J.K. Simmons, Paul Reiser, Melissa Benoist, Chris Mulkey, Suanne Spoke - Laufzeit: 107 Minuten.