Im Kino

Margarets moralische Zweifel

Die Filmkolumne. Von Rajko Burchardt, Thomas Groh
22.04.2015. Tim Burtons "Big Eyes" erzählt eher von einer ökonomisch profitablen Lüge als von der Emanzipation einer Malerin. Gerd Kroskes Doku "Striche ziehen" über die subkulturelle DDR-Opposition und die Stasi bietet nicht nur Traumaforschern reichlich Material.


Amerikanische Vorstadtwelten sind den Alltagsmärchen ("Edward mit den Scherenhänden") und Monsterspektakeln ("Frankenweenie") von Regisseur Tim Burton für gewöhnlich ein willkommener Anlass, die katalogtaugliche Gemachtheit ihres vermeintlichen Idylls auf den Kopf zu stellen. "Big Eyes", Burtons neuer und entschieden nicht phantastischer, sondern nach "wahren Begebenheiten" erzählter Film, beginnt hingegen mit dem abrupten Bild einer Flucht aus suburbanen Lebensverhältnissen: Die Malerin Margaret Ulbrich (Amy Adams) schnappt sich Koffer und Tochter, um ihre kalifornische Reihenhaussiedlung zu verlassen, in Richtung des San Francisco der ausgehenden 1950er Jahre. Das sei ein gewagter Schritt, behauptet die geheimnisvolle Erzählerstimme ("back then, women didn"t leave their husbands"), und tatsächlich findet Margaret nur geradeso Arbeit bei einem Fabrikanten, für den sie Kinderbetten mit niedlichen Mustern bepinselt.

Auf einem Kunstmarkt lernt die allein erziehende Mutter den charismatischen Walter Keane (Christoph Waltz) kennen. Der Immobilienhändler und Sonntagsmaler ist begeistert von ihren Ölbildern großäugig dreinblickender Straßenkinder, die er bei ersten selbstorganisierten Ausstellungen aber als seine eigenen ausgibt. Trotz berechtigter Zweifel lässt Margaret sich auf die angeblich ökonomisch profitable Lüge ein, nachdem Walter sie vor einem drohenden Sorgerechtsstreit mit ihrem Ehemann bewahrt und kurzerhand geheiratet hat. Innerhalb weniger Jahre erwächst aus dem Handel mit Margarets Bildern, vor allem aber deren kostengünstigen Nachdrucken, ein millionenschweres Unternehmen, für das der geschäftstüchtige Walter vollständige Urheberschaft beansprucht - ehe es zur Trennung der beiden und einem der obskursten Gerichtsverfahren der modernen Kunstgeschichte kommt (der im Film deutlich abgemildert und trotzdem kaum zu fassen ist).

"Big Eyes" orientiert sich dramaturgisch an konventionellen Filmbiografien. Diese ist menschlich kaum nachvollziehbar, wenn auch von einer zermürbend einleuchtenden wirtschaftlichen Logik. Tim Burton setzt einiges daran, Walter Keanes patriarchalisch-freundliches Lebemenschauftreten als ein wesentliches Verkaufsargument der melancholischen Bilder herauszustellen. Das beachtliche Organisationstalent und allerorts Eindruck schindende deklamatorische Gehabe des Mannes hat am Erfolg der Geschäftsidee offenbar ebenso viel Anteil wie das Produkt. Es ist kein unkluger Schachzug des Films, diese problematische Rolle mit Publikums-, zumindest aber Oscar-Liebling Christoph Waltz zu besetzen, dessen gefallsüchtige Exaltiertheit selbst in denkbar sinistren Zusammenhängen noch einen besonderen Charme versprüht.



Dass Margaret Keanes Bilder ohne die einfallsreichen Anstrengungen des bald auch gewalttätigen Walter womöglich nie eine Öffentlichkeit gefunden hätten, macht "Big Eyes" als Emanzipationsgeschichte natürlich einigermaßen untauglich. Tim Burton bekommt diesen Widerspruch auch nicht aufgelöst, vielmehr wird der Film durch ihn erst besonders reizvoll. Den aufgrund von Abhängigkeitsverhältnissen und religiöser Erziehung komplexen Beweggründen der Frau spürt der Film in spekulativen, aber umso spannenderen Szenen nach. Als Margaret moralische Zweifel überkommen (die vor allem von einem Schuldgefühl gegenüber ihrer kleinen Tochter herrühren), sucht sie den Rat eines Priesters, der ihr schön christlich empfiehlt, dem Ehemann zu vertrauen und also nichts gegen ihn zu unternehmen. Walter Keane erwarte von seiner Frau schließlich keine Einwände, sondern servile Dankbarkeit.

Einen Diskurs um Keanes oftmals als Kitsch diffamierte Werke führt der Film nur implizit. Von John Canaday (den hier ein großartiger Terence Stamp spielt) wurden sie in der New York Times als "tasteless hack work" diffamiert, auf einem Empfang zur Weltausstellung von 1964 ging Walter Keane deshalb auf den Kunstkritiker los. Burton ist offenkundig ein Bewunderer der Big-Eyes-Bilder, lässt die Canaday-Figur aber dennoch nicht zur Karikatur verkommen. Stattdessen zeigt er in einigen ergreifenden Sequenzen, wie die trostlosen großen Kinderaugen Margarets Wahrnehmung infizieren (beim Einkaufen im Supermarkt, beim Blick in den Spiegel), und verweist auf deren persönliche künstlerische Inspiration - all ihre Bilder, deutet die ins Atelier verbannte Erfüllungsgehilfin des aus den Fugen geratenen Familiengeschäfts einmal an, seien Liebeserklärungen an die eigene Tochter.

In dieser einfühlsamen und nicht objektivistischen, plumpen Werturteilen oder einem spröden Kunstkanon interessierten Annäherung an die Kunst ähnelt der Film Burtons eigenem "Ed Wood", der ebenfalls von den Drehbuchautoren Scott Alexander und Larry Karaszewski geschrieben wurde. Die Tragikomödie über das kuriose Leben und Schaffen des enthusiastischen Kinodilettanten Edward D. Wood Jr. (nach seinem Tod zum "schlechtesten Regisseur aller Zeiten" gekürt) musste noch einige grobe Auslassungen vornehmen, um ihrer menschlich und künstlerisch übergangenen Figur ein angemessen idealisiertes Denkmal setzen zu können. Dass sich "Big Eyes" ganz ohne solch wunderbar realitätsentrücktes Zutun wie eine ausgemachte Erfolgsgeschichte liest, kann man vielleicht als Indiz für Burtons Entwicklung vom einst merkwürdigen Wunderkind zum heute etwas bequemlichen Hollywoodregisseur sehen. Uninteressant sind seine Filme deshalb noch lange nicht.

Rajko Burchardt

Big Eyes - USA 2015 - Regie: Tim Burton - Darsteller: Amy Adams, Christoph Waltz, Danny Huston, Krysten Ritter, Jason Schwartzman, Terence Stamp - Laufzeit: 106 Minuten.

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Wie die Nachwende-Bundesrepublik im ganzen betrachtet zwei Staatsgeschichten umfasst, von denen eine oft unter den Tisch fällt, gilt dies auch für die Ebene der Mikro-, Milieu- und Subkultur-Geschichten: Auch was Punk betrifft. Spätestens seit Jürgen Teipels Doku-Roman "Verschwende Deine Jugend" ist eine Aufarbeitung - vielleicht auch Verwertung - der ersten großen Punkexplosion im West-Deutschland der frühen 80er in Gang getreten. Deren Narrativ: Die Punkrock-Jugend war schlussendlich keineswegs verschwendet, vielmehr bildete sich rund um Szene-Epizentren wie dem "Ratinger Hof" in Düsseldorf ein guter Nährboden, aus dem ein durchaus beträchtlicher Teil des späteren Kulturbetriebs hervorging. Merklich unterbelichtet blieb bislang die Ost-Variante - was auch daran liegen mag, dass so verblüffende wie erbauliche Erfolgsgeschichten über einen Haufen Anarchos, die unter vergleichsweise sanften Rahmenbedingungen erst mit "No Future" auf den Lippen rebellierten und dann die Welt eroberten, sich am Ende wahrscheinlich besser verkaufen als um Aufarbeitung verschütteter Realitätspartikel bemühte Geschichten aus einem Land, das mehr oder weniger als "verschwunden", grau, trist und latent depressiv gilt und überdies wenig kulturelle oder personelle Kontinuitäten in die Gegenwart entwickelt hat. Eine im Taumel des allgemeinen Wende-Abrisses zusehends verschüttete Geschichte.

Dass Geschichten von Punks, die sich ihre Revolte nicht allein zum Preis schlussendlich vernachlässigbarer Einträge ins Vorstrafenregister erkaufen, sondern dafür empfindliche Repressalien und erhebliche biografische Einschnitte in Kauf nehmen, ungleich interessanter sind, weil sie auf Tuchfühlung mit der unwattierten Realität eines repressiven, bis heute weitgehend unaufgearbeiteten Staates gehen, liegt auf der Hand. Mit seinem Dokumentar-, eigentlich ja Gesprächsfilm "Striche ziehen" greift Gerd Kroske nun ein solches Fragment einer noch zu schreibenden Geschichte der subkulturellen DDR-Opposition auf: Im Mittelpunkt steht eine Gruppe einstiger Weimarer Punks, die sich in den frühen 80ern mit einigen - von der Blickwarte eines nicht gar so autoritären Systems würde man sagen: läppischen - Sprühaktionen ("Macht aus dem Staat Gurkensalat") in den Fokus der Staatssicherheit manövrieren, in den Bau wandern und schließlich per Ausreiseantrag Mitte der 80er in West-Berlin landen. Dort setzen sie 1986 zur Großaktion an: Mit Farbeimer und Pinsel wollen sie die Inselstadt einmal umwandern und dabei der Westseite der Berliner Mauer einen weißen Strich verpassen. Die Sache schlägt fehl: Ost-Grenzer unterbinden die Aktion, einer der Aktionskünstler wird verhaftet und der Staatssicherheit überantwortet.



Sehr behutsam nimmt Kroske diese Aktion zum Ausgangspunkt weiterer Linienführungen, die einerseits in die Vergangenheit zielen, vor allem aber in die heutige Gegenwart der einstigen, heute in recht unterschiedlichen, wenngleich auffällig wenig bürgerlichen Lebenszusammenhängen stehenden Protagonisten. Denn: Einer von ihnen ist bereits frühzeitig in die Dienste der Stasi getreten - nicht aus ideologischer Überzeugung, sondern aus rein existenziellen Gründen, wie er immer wieder beteuert: Freundin schwanger, keine Unterstützung von zu Hause, besetzte Wohnung, buchstäblich keine Kohle für den Kohleofen im kalten Februar. Ein Fehler fürs Leben, meint er heute, er habe gedacht, er könne das irgendwie handhaben: Handverlesene, aber harmlose Informationen gegen bares Geld. Und damit begann, wie er sagt, die Schizophrenie seines folgenden Lebens: Einerseits Revoluzzer, andererseits staatstragender Zuarbeiter eines repressiven, subkulturelle Milieus unnachgiebig zersetzenden Staates.

Aufschlussreich ist "Striche ziehen" weniger als Erinnerung an eine subversive Aktion, die hier ohnehin nur am Rande abgehandelt wird, sondern als Konkretisierung der gespenstischen Vergangenheit der offiziell zwar abgewickelten, in den zwischenmenschlichen Beziehungen aber immer noch umtriebigen DDR. Denn eine Versöhnung zwischen der Gruppe und dem Informellen Mitarbeiter nach dessen Aufdeckung gab es nicht - Versuche einer produktiven Aussprache wurden wohl unternommen, scheiterten aber offenbar schon im Anlauf oder versandeten in Worthülsen. Weil die einen ihn als Täter, er sich aber als unverstandenes Opfer sieht, das die Vergangenheit gerne "ruhen" lassen will. Traumaforscher finden in Kroskes Gesprächen einiges an Material.

Früher bildete die Gegend um das Bethanien-Gelände in Berlin-Kreuzberg eine der geisterhaftesten Grenzregionen, heute herrscht dort lässige Latte-Macchiatto-Bohème im Sonnenschein-Kiez. An diesem Ort arrangiert Kroske den letzten Versuch einer Aussöhnung: Der Höhepunkt des Films, freilich scheitert sie erwartungsgemäß. 25 Jahre nach dem Fall der Mauer erinnert an diesem Ort kaum mehr etwas an die einstige Präsenz von Todesschützen in Sichtnähe, an den Riss, der sich in grauem Beton durch die Stadt zog. Das Stadtbild passt sich dem Lauf der Geschichte in rasantem Tempo an; vieles davon - Stichwort Stadtschloss - ist postkartentaugliche Fassade. Ein oberflächlicher Heilungsprozess, doch die alten, von der Stasi tief ins Herz der Leute geschlagenen Wunden lassen sich nicht ohne weiteres übertünchen. Ganz en passant ist "Striche ziehen" daher auch ein konzentriertes, aufmerksames Plädoyer dafür, die brach liegenden Mikro-Sozialgeschichten der DDR aufzugreifen und aufzuarbeiten.

Thomas Groh


Striche ziehen - Deutschland 2015 - Regie: Gerd Kroske - Laufzeit: 100 Minuten.