Im Kino

Narben auf der Seele

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Patrick Holzapfel
25.06.2015. Christian Petzolds Polizeiruf-Episode "Kreise" schlägt den Bogen vom deutschen Fernsehkrimi zu Edward-Hopper-Melancholie. Ein Auge für die Gleichzeitigkeit der Dinge besitzt agnès b., die Regisseurin von "Je m'apelle Hmmm...".


"Was macht eine tschechische Transe in einem deutschen Wald?" So energisch, so demonstrativ wird diese Frage in Christian Petzolds br-Polizeiruf "Kreise" an einer Stelle deklamiert, dass man man - auch weil sie das Spröde, für das Petzolds Name im deutschen Gegenwartskino steht, eine Sekunde lang aufreißt - herzlich auflachen muss. So wie auch Matthias Brandt (als Ermittler Hanns von Meuffels) und Barbara Auer (als Ermittlungspartnerin Constanze Hermann) an ein, zwei Stellen im Film auf sehr herzliche Weise auflachen müssen. Natürlich lacht man bei dieser Frage mit dem Film, nicht über ihn: In nuce bringt sie Glanz und Elend des deutschen Sonn- bzw. Feiertagsabend-Krimis auf den Punkt. Sie birgt gleichermaßen Versprechungen und Ermüdungen: Versteht man sie als lockenden Werbespruch in Richtung Publikum, schimmert darin der Wahnwitz, die Lust am Experiment und am grellen Irrsinn, an der Schattenwelt von Ruch und Milieu auf, den das Format in seinen besten Episoden bietet (und mit dem Petzolds Film auch tatsächlich auf ziemlich großartige Weise beginnt, so als befände man sich kurz wieder im Schmuddelkino der 70er Jahre). Versteht man sie als Frage ans Format selbst, betont sie das Klischee aus dem Groschenheft, das obligatorische "soziale Thema der Woche", nicht zuletzt: die nationale Befindlichkeit eines Landes, das sich in der postnationalen Unübersichtlichkeit des 21. Jahrhunderts wenigstens an einem Abend pro Woche nach der beruhigenden Scholle zurücksehnt.

Oder nach der übersichtlichen Welt der Modelleisenbahnen, um die sich in "Kreise" viel dreht: Vielleicht sind diese kleinen, in zahllosen deutschen Hobbykellern aufgebauten Miniaturwelten tatsächlich eine gute Metapher für den deutschen Fernsehkrimi: Eingezäunt vom Zug, der stumpfsinnig immer noch eine und noch eine Bahn um das Geschehen zieht, zeigt die typische Modelleisenbahn-Landschaft eine im generischen Kitsch erstarrte, statische Welt - typische Locations, typische Weltbewohner, typische Narrative, alles auf Wiedererkennbarkeit angelegt. Klare Grenzen, klare Volksgemeinschaft, klares Modell - aus der Feldhügelperspektive des Souveräns genüsslich dargeboten, ohne Irritation. "Entsetzliche Klischees" heißt es darüber an einer Stelle, wenn von Meuffels einen Mordverdächtigen (Justus von Dohnányi) vor dessen imposanter Modelleisenbahn befragt. Das kriminologische Erkenntnisinteresse tritt jedoch in den Hintergrund: Vor der Vintage-Kulisse des luxuriösen Hobbykellers - inklusive Musikbox in der Ecke, aus der das leitmotivische "I"m Not in Love" von 10cc tönt - mäandern die beiden um Modellwelten, Klischees, Versatzstücke.



Ein Meta-Fernsehkrimi. Für dieses Vorhaben bietet der br-"Polizeiruf" um Kommissar von Meuffels einem etablierten Auteur wie Christian Petzold das ideale Experimentierlabor: Schon die Initialzündung im Jahr 2011 (Dominik Grafs "Cassandras Warnung") setzte einen deutlichen Akzent, der sich im weiteren Verlauf der Reihe bestätigte: Der Münchner "Polizeiruf" (mit weiteren Beiträgen u.a. von Hans Steinbichler, Leander Haußmann, Hendrik Handloegten, Jan Bonny, nochmal Graf) ist im Wesentlichen ein Regieformat, das Reibeflächen zwischen Formatvorgabe und individueller Handschrift nicht nur zulässt, sondern offen sucht. In verlässlicher Regelmäßigkeit entstanden hier die besten oder wenigstens interessantesten Fernsehkrimis der vergangenen Jahre. Und mit dem von Matthias Brandt kongenial verkörperten Kommissar von Meuffels etablierte sich eine der spannendsten, trotz gedämpftem Spiel facettenreichsten Ermittlerfiguren.





Klischee und Modell also. Wie kann man diesen Klischees vielleicht entrinnen (die Modelleisenbahn im Film fährt keinen offenen Kreis, sondern vollzieht ihren Loop zum ästhetischen Gewinn des Ganzen teils unter der Anlage), wie kann man mit ihnen arbeiten, gerade auch wenn man an ihnen hängt? Indem man sie beispielsweise nur als Aufhänger nutzt, um gänzlich anderes zu verfolgen: Nach Dominik Grafs ekstatischem Meuffels-Krimi "Smoke on the Water" aus dem letzten Jahr hat Petzold erwartungsgemäß zwei, drei Gänge heruntergeschaltet und einen Film über redende Menschen zwischen Distanz und Annäherung gedreht, um sich den br-"Polizeiruf" in seinen fortdauernden Werkzyklus mit Filmen über die Sehnsucht und die Liebe einzuverleiben. Was in den vorangegangen Episoden der Reihe nebenbei mitlief - von Meuffels als Melancholiker auf der Suche nach der Liebe - wird in "Kreise" zum eigentlichen Thema, wenn von Meuffels und Hermann einander mit Blicken, Gesten, einem Lächeln im Mundwinkel umkreisen: Zwei reife, vom Leben gezeichnete Menschen mit einigen Narben auf der Seele sind das, vielleicht auf der Suche nach etwas Glück, am Abend an der Theke. Erster Kandidat für den schönsten Moment in diesem Spiel, dessen Auflösung um nichts verraten werden darf: Wenn von Meuffels nach wenigen Sekunden errät, warum Hermann sich so selbstverständlich mit Autoschlüsseln auskennt.

Zweiter Kandidat (und keine Sorge: es gibt noch mehr): Eine großartige Passage, die wahrscheinlich nicht zufällig fast exakt in der Mitte des Films liegt, gerade so, als würde der Film sie umkreisen: Spätschicht auf der Wache, beide gehen Videomaterial von den Überwachungskameras durch, aus der Ferne und gefiltert durch zwei, drei Wände dringt laute klassische Musik vom Nachtportier herauf - es braucht nur wenige Gesten, Blicke, vorsichtige Nachfragen ("einen Kaffee?"), ein Lächeln, in dem viel Befreiung liegt ("Ich hätte doch gerne einen Kaffee"), um zwischen diesen beiden Menschen eine ungeheure, zugleich schmachtend-zärtliche Spannung entstehen zu lassen. Selten hat man sich in einem deutschen Fernsehkrimi, geschweige denn in einem deutschen Fernsehkrimi-Polizeibüro so gefühlt, als betrachte man Edward Hoppers Bild "Nighthawks". Nicht zuletzt ist "Kreise" ein Film über die Einsamkeit derjenigen, die zusehends aus der Zeit fallen: Einmal sitzt von Meuffels alleine beim Griechen, im Hintergrund spielt Caterina Valentes Klassiker des exotistischen Chansons "Ein Schiff wird kommen" und ruft en passant eine ganze, heute weitgehend verdeckte Filmgeschichte bundesrepublikanischer Kino-Sehnsucht auf.

Wer umkreist wen, wer beobachtet wen, wer redet über Bande zu wem: Wenn Barbara Auer schließlich von Meuffels (der sich im übrigen - was für eine schöne Geste - als Fan des großartigen Krimiautors Garry Disher outet) beim Verhör über einen Bildschirm beobachtet, wirft dieser immer wieder schnelle, kecke Blicke über seine Schulter, Richtung Videokamera. Als ob er mit ihr aus der Zelle heraus flirtet. Einmal sagt sie leise "Arschloch", aber es klingt liebevoll, wie auch die vielen Medienbilder, vor denen es wimmelt, ein bisschen wie ein letzter Gruß an Petzolds langjährigen Mitstreiter und Freund, den letztes Jahr gestorbenen Harun Farocki wirken. Ein trauriger, zärtlicher, darin sehr großer Film.

Thomas Groh


Polizeiruf 110: Kreise - Deutschland 2015 - Regie: Christian Petzold - Darsteller: Matthias Brandt, Barbara Auer, Justus von Dohnányi, Daniel Sträßer, Luise Heyer - Laufzeit: 90 Minuten.

"Kreise" wird am 28.06. in der ARD ausgestrahlt.

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Nachdem man einige Zeit mit Agnès Troublés (berühmter als Modedesignerin agnès b.) erstem Langspielfilm "Je m"appelle Hmmm", der vergangene Woche im Österreichischen Filmmuseum in Wien in Anwesenheit der Regisseurin gezeigt wurde, verbracht hat, ahnt man, dass sich der Film in Bezug auf seine Form jede Freiheit nimmt. Diese Freiheit macht manchmal Spaß, aber erzeugt wenig. Ein bisschen Godard-Chic hier, ein wenig New French Extremity dort und viel von jener inszenierten Beiläufigkeit, die großes französisches Kino von Regisseuren und Regisseurinnen wie Claire Denis oder Olivier Assayas prägt. Nun soll diese Besprechung nicht in eine Aufzählung von Verbindungen und Einflüssen ausarten, obwohl der Film durchaus dazu einlädt. Denn ähnlich wie in Ryan Goslings Regiedebüt "Lost River" stellt sich die Frage: Genügt es, Menschen, Bilder, Töne und Szenen in einen Topf (=Film) zu werfen, alleine weil man sie mag? Oder braucht es einen größeren Zusammenhang, beziehungsweise eine Notwendigkeit?

Im Film, dessen Titel auf die Verweigerung der Protagonisten verweist, ihren Namen zu nennen, geht es um ein junges Mädchen, das von ihrem Vater sexuell missbraucht wird. Während der Vater (Jacques Bonnaffé) von Gewissensbissen geplagt wird, nutzt die junge Céline (Lou-Lélia Demerliac) eine Klassenfahrt zur Flucht. Sie versteckt sich in einem roten LKW am Strand. Dieser gehört Pete (der Künstler und Filmemacher Douglas Gordon), einem introvertierten schottischen LKW-Fahrer. Er nimmt das Mädchen ohne Zögern mit - und so beginnt einer dieser unwahrscheinlichen Kino-Road-Trips. Am Drehbuch war Jean-Pol Fargeau beteiligt, der nicht zuletzt in seiner Zusammenarbeit mit Claire Denis schon mehrfach sein Gespür für die feine Balance zwischen Grausamkeit und Lebendigkeit bewies.

Die Filmemacherin fängt diesen Trip mit einem erstaunlichen Auge für die Gleichzeitigkeit der Dinge ein: Müll am Strand oder bestimmte Lichter, Körperteile und Formen erhalten die gleiche Aufmerksamkeit wie die Narration. Dabei macht agnès b. vor allem von den Möglichkeiten des digitalen Zeitalters Gebrauch. Der Dreh beginnt bei ihr bereits beim Locationscouting. Sie benutzt ganz unterschiedliche Formate und Aufnahmegeräte, unter anderem eine digitale Mini-Kamera. Dadurch kann sie spontane Eindrücke festhalten, gelegentlich wird aus dem fiktionalen Road Movie eine Dokumentation französischer Straßen. In seinen besten Augenblicken wirkt der Film selbst wie ein Vagabund, rastlos, voller Liebe und doch nie ganz zu greifen.



Das ist ein spannendes Vorgehen, aber die dadurch erzeugte Offenheit verträgt sich nicht immer mit der strengen Komposition und der erzählerischen Motivation, die "Je m"appelle Hmmm..." ansonsten prägt. Bezeichnend auch, dass die Filmemacherin beim Publikumsgespräch trotz dieser spontanen Bilder und Szenen immer wieder betonte, dass sie den Film genauso im Kopf hatte. Agnes b. arbeitet forciert mit Gegensätzen. Die Szenen im Elternhaus sind im Studio gedreht, und wirken in ihrer Kahlheit geschichtslos. Das ändert sich in der Fahrerkabine des Lastwagens: Dort wird die Welt des Films eine Fantasie, ein Wunderland. Die Stilistin in agnès b. windet sich langsam aus den kargen Anfangsszenen des Films und nach und nach wird klar, dass die Bilder etwas von einer kindlichen Wahrnehmung enthalten. Aus den leeren Wänden zu Beginn werden bunte Lichterketten und ein mit Sternen bedruckter Vorhang. Außerdem verliert sich die Kamera immer wieder in der magischen Gegenwelt der Reflektionen, sei es in Pfützen, Rückspiegeln oder Wandspiegeln. Keine Überraschung, dass agnès b. in Wien "The Night of the Hunter" von Charles Laughton als Einfluss nennt. Märchen der Angst in einer Welt, in der man oft nichts verstehen kann, weil nichts gesagt wird.

Zugegeben: Der Film scheut keine Risiken. Er wirft Schriftzüge, Ruckel-Schwenks, Jump-Cuts oder Standbilder in ein wildes Durcheinander, in dem sich freilich manches einfach nicht berühren will. So wirken die gelegentlichen Monologe der Figuren wie hilflose Versuche eine Psychologie in die flachen Charakteren einzupflanzen, andere Szenen wie ein Traum des Vaters oder plötzliche Wechsel zu Schwarz-Weiß nähern sich der Lächerlichkeit an. Dadurch etabliert sich eine Willkür, die nichts mit Inhalt oder Form des Films zu tun hat und "Je m"appelle Hmmm" wirkt plötzlich wie der Film einer (73-jährigen) Debütantin, die nicht weiß wohin mit all ihren Ideen. Bezeichnend, dass die stärksten Einstellungen oft klassische Kadrierungen sind.

So bleibt "Je m"appelle Hmmm" ein Film, der vorgibt Impulsen zu folgen, es womöglich manchmal auch tut, aber nur selten Impulse generieren kann. Sie müsse sich eine Story vorstellen, um ihre Kleider herstellen zu können, hat agnès b. in Wien gesagt. Vielleicht müsste sie sich bei einem Film etwas anderes vorstellen, zum Beispiel eine Textur.

Patrick Holzapfel


Je m"apelle Hmmm…
- Frankreich 2013 - Regie: agnès b - Darsteller: Sylvie Testud, Lou-Lélia Demerliac, Jacques Bonnaffé, Noémie Ducourau, Marie-Christine Barrault - Laufzeit: 121 Minuten.