Im Kino

Nicht im Kino

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh, Ekkehard Knörer, Nikolaus Perneczky
02.01.2015. Zum Jahresbeginn 2015 ein Blick auf einige der Filme, die das Kinojahr 2014 uns vorenthalten hat. Nicht im Kino 2014: Mönchsmediationen in Marseille, ein Körperkinosog, der Aggressionen mobilisiert, Gefühle unter Strom, ein Affenkönigsblockbuster voller Maßstabsverrückungen, irrlichternde Affektbilder mit Dostojewskibezug.


Nicht einmal eine Stunde dauert diese Meditation über Langsamkeit und Zeit - etwa so lang wie eine Episode einer üblichen HBO-Serie. Und doch fühlte sie sich, wie ich sie in einem Istanbuler Kino absaß, länger an als alles, was ich in diesem Jahr gesehen und erlebt habe: Sekunden werden nicht zu, sondern sind bereits Minuten, Stunden, fast Tage. Ein buddhistischer Mönch zieht in absoluter Selbstversunkenheit, in vollendeter Langsamkeit durch immer neue rätselhafte, oft kuriose Tableaus (gedreht wurde in Marseille), in stärkstem Kontrast zur touristisch-regsamen Geschäftigkeit ringsum. Der Blick wird neugierig, tastet das Bild ab - die Seele atmet, befreit vom Ballast und Gerüst erzählerischer Ökonomie, auf. Kleine Wunder und Spielereien sind zu beobachten: Wie kann dieses Bild möglich sein? Wo ist in diesem Gewimmel der Mönch? Von welcher Position aus wird er, solange er noch im Off des Panoramas ist, das Bild betreten? Am eindrücklichsten fand ich den Abstieg zu einem U-Bahnhof (oder einer Unterführung, was will der Mönch zu Fuß schließlich in der U-Bahn?): Das goldene Sonnenlicht eines sommerlichen Spätnachmittags fällt von oben (die Kamera steht unten, blickt hinaus) in den Schacht, verändert sich von Minute zu Minute und gibt der Szenerie immer wieder neuen Glanz, einen neuen Charakter, und wenn nur im Detail. Die rote Mönchskutte strahlt, auf diese Weise von der Sonne beschienen, rötlich aufs unmittelbare Umfeld ab: Eine mysteriöse, ephemere, kaum merkbare Korona. Man verlässt das Kino (auch wenn der Film auf arte zu sehen gewesen ist: Nein, nur im Kino hat man ihn gesehen) mit einem neuen Blick für die ganz äußerlichen Wunder dieser Welt, die man im alltäglichen Transit für gewöhnlich übersieht.

Thomas Groh

Journey to the West - Frankreich, Taiwan 2014 - Originaltitel: Xi you - Regie: Tsai Ming-liang - Darsteller: Lee Kang-sheng, Denis Lavant - Laufzeit: 56 Minuten.

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Ich weiß nicht, ob ich diesen Film mag. (Eher nicht.) Es ist auch eine Weile her, dass ich ihn gesehen habe. (In Paris, wo er regulär im Kino lief. Nicht im Kino läuft er in Deutschland.) Es kann sein, nein, ich bin ganz sicher, dass ich manches falsch erinnere. So weiß ich nicht mehr genau, ob "Plemya - The Tribe" wirklich ausschließlich aus Plansequenzen besteht, ohne einen einzigen Schnitt in der Einstellung. Ich glaube schon. An Konsequenz jedenfalls mangelt es dem ukrainischen Regisseur Myroslav Slaboshpitsky nicht.

Eines ist sicher: "Plemya" ist ein Film ohne gesprochene Sprache. Kein Stummfilm, alles andere als das, auch kein Film, in dem nicht kommuniziert wird. Die Protagonisten aber sind stumm und gehörlos. Sie verständigen sich, sie sprechen, sie streiten in Gehörlosensprache, mal zart, meist rau und nicht selten brutal, denn "Plemya" ist ein sehr gewalttätiger Film. Nichts davon ist untertitelt, was natürlich nicht heißt, dass man gar nichts versteht. Man sieht, man liest Gesten und Körper, die nicht anders können als zu signifizieren, auch dann noch, wenn unklar ist, worum sich das Gespräch inhaltlich dreht. (Es gibt also eine privilegierte Zuschauergruppe derjenigen, die die ukrainische Gehörlosensprache mindestens passiv beherrschen. Gerade für sie ist der Film aber nicht in erster Linie gedreht.)

Also sprechen Körper. Nun sind auch Stimmen körperlich, aber man lernt früh, von ihrem körperlichen Aspekt zu abstrahieren. Das geht hier nicht. Worte sind hier wie Hiebe, wie Schläge oder ein Streicheln. (Letzteres kaum.) Wenn es heftiger wird, kommen Hände und Körper ganz buchstäblich in Kontakt: Dann sind Worte Hiebe und Schläge oder ein Streicheln. So werden Dialoge zu Choreografien von Körpern in Erregung, Drohungen und Beschimpfungen zu handgreiflichen Aggressionen. Was nicht heißt, dass Körper und signifizierende Geste eins würden - man kann nicht nicht lesen -, aber es liegen die Geste, ihr affektiver Wert und ihre Bedeutung auf einem Kontinuum, so dass sich Bedeutungen, die man immer nur in Rudimenten versteht, sehr viel unmittelbarer als im üblichen Kinodialog übertragen. (Die Worte wie/als Hiebe treffen auch den Betrachter.)

Auf Körperlichkeit will "Plemya" hinaus, auf einen Körperkinosog. Darum baut der Film eine hermetische Welt, eine internatsförmig abgeschlossene Gehörlosenschule. In diese Welt folgt die Kamera ihrem Protagonisten, einem Neuankömmling, in Kamerafahrten auf den Fersen hinein. Nach draußen geht es in Vorstößen, in Rotten und Rudeln, wie ohnehin die Organisation der Schüler eine tribalistische ist. So wie manche Bewegungsweisen und Verhaltensformen geradezu tierförmig sind. (Darin, dass er körperbetonte Gehörlosensprache und tierförmiges Rudelverhalten suggestiv zur Deckung bringt, ist der Film so problematisch wie er in der filmischen Ausführung immer wieder sehr fasziniert. Auch über die Genderaspekte denkt man besser nicht allzulang nach.)

Je klarer wird, dass es den Film dann doch nach einer Geschichte verlangt, desto mehr verliert er an Kraft. Lange aber stolpert und rennt man ohne Erklärung durch eine sehr fremde, sehr unheimliche, in virtuosen Fahrten erfahrene Welt aus Gesten und Körpern. Umwerfend auch, wie Slaboshpitsky seine Darsteller führt - die keine Schauspieler, sondern toll gecastete Laien, Gehörlose sind. "Plemya - The Tribe" ist ein Debüt, ein Wurf, dessen fragwürdige Seiten die Faszination nicht schwächen, sondern stärken. Ich will ihm nicht erliegen, ich mobilisiere selbst Aggressionen. Eines der eindrücklichsten Kinoerlebnisse des Jahres war er - nicht trotzdem, sondern deshalb.

Ekkehard Knörer

Plemya - The Tribe - Ukraine 2014 - Originaltitel: Plemya - Regie: Miroslav Slaboshpitsky - Darsteller: Grigoriy Fesenko, Yana Novikova, Rosa Babiy, Alexander Dsiadevich, Yaroslav Biletskiy - Laufzeit: 130 Minuten.

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Tsai Ming-Liangs Protagonist Hsiao Kang (Lee Kang-Sheng) hat uns, die Cinephilen, seit gut zwei Dekaden begleitet - und sich dabei vom ziellosen Jugendlichen aus "Rebels of the Neon God" zum einsamen Tänzer in "The Hole", zum Uhrenverkäufer in "What Time Is It There?", zum Pornostar in "The Wayward Cloud" gewandelt. Der Weg führte über Taipei, Paris, die Postapokalypse, das Kino und den schwulen Darkroom, in dem er seinen Vater in "The River" traf, nun an diesen Schlusspunkt. "Stray Dogs" wird, so gibt der Regisseur selbst an, Tsais letzter Kinofilm sein. Er ist auch sein Meisterwerk.

Wir treffen Hsiao Kang auf einer vielbefahrenen Kreuzung wieder, vor einem Sturmregen nur mäßig durch ein dünnes Regencape geschützt. Hsiao Kang ist eine menschliche Reklametafel und hält dort tagein, tagaus ein Werbeschild in die Luft. Er ist auch Familienvater geworden, und seine beiden Kinder streunen hungrig durch die Shopping-Malls, um sich an Gratiskostproben satt zu essen. Allnächtlich findet sich die Familie in leerstehenden Abbruchhäusern zusammen, wo sie ihre kargen Nachtlager errichtet. Es ist, wie so oft in Tsais Kino, ein stillgestelltes Leben, in dem sich die Protagonisten notdürftig eingerichtet haben. Bis eine neue Frau in Hsiao Kangs Leben tritt, die sich zunächst um die auf sich gestellten Kinder zu kümmern beginnt und dann ein lang vergessenes Begehren in Hsiao Kang weckt, das in einer scheinbar endlosen, herzzerreißenden Schlusssequenz mündet.

"Stray Dogs" ist in nahezu bewegungslosen, grandios arrangierten Plateaus inszeniert, unter der stillgestellten Oberfläche fließt über 140 Minuten eine Art Elektrizität, die die Bilder mit unterdrückten Gefühlen affiziert, unter Strom setzt. Sollte dies wirklich Tsais letzter Film sein, so ist er ein Vermächtnis an uns und ein Geschenk für das Gegenwartskino geworden.

Jochen Werner

Stray Dogs
- Taiwan 2013 - Originaltitel: Jiao you - Regie: Tsai Ming-liang - Darsteller: Lee Kang-sheng, Chen Shiang-chyi, Lee Yi Cheng - Laufzeit: 138 Minuten.


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Nicht nur kleine, randständige Filmformen fallen regelmäßig durchs grobmaschige Netz der deutschen Filmverleihe, sondern auch unzählige Blockbuster aus nichtwestlichen Herkunftsländern. Ein Vertreter dieser Spezies, der es mir im vergangenen Jahr besonders angetan hat, ist die ausgelassene Fantasy-Oper "Xi you ji: Da nao tian gong" AKA "The Monkey King" von Cheang Pou-soi. Der aus Macau stammende Cheang, bekannt für smarte Hongkong-Actionthriller (zuletzt: "Motorway"), hat seine erste festlandchinesische Großproduktion nicht immer unter Kontrolle. Wie soll er auch: Durchpulst von der unbändigen Energie seines Titelhelden, springt und schwingt "The Monkey King" von einem mythenschwangeren Setpiece/Subplot zum nächsten. Basierend auf dem (bereits mehrfach verfilmten) Märchen vom Affenkönig Sun Wukong, dessen Kenntnis beim chinesischen Publikum vorausgesetzt werden kann, erzählt das Fantasyspektakel die "origin story" dieser Figur und setzt dafür ganze Welten in Bewegung. Alle Arten von Spezialeffekten dürfen bei Cheang koexistieren, mal mehr, mal weniger friedlich: von charmant hausgemachten Studiokulissen und Kostümen, wie man sie aus "The Wizard of Oz" - und aus der Mos Eisley Cantina vor dem digitalen Remastering - kennt, bis zum boden- und referenzlosen CGI-Delirium kommt die ganze Bandbreite fantastischer Illusionierungsverfahren vor, in stets erfrischenden Beugungen und Mischformen, die weder auf Fotorealismus noch auf andere Weisen der internen ästhetischen Plausibilisierung den geringsten Wert legen. Alles ist erlaubt, solange es den Launen des Affenkönigs dient. Der wird von Hongkong-Actionstar Donnie Yen verkörpert, in maximaler Distanz zum heiligen Ernst des jüngsten "Planet of the Apes"-Revival als Mensch-im-Affenkostüm, der seine ganze physische Virtuosität sowie sein nicht unbeträchtliches komödiantisches Talent in die Waagschale werfen muss, damit die Tierwerdung gelingen kann. Die wilden Maßstabsverrückungen, die "The Monkey King" in seinen zwei Stunden Laufzeit anhäuft, sind noch Schwindel erregender als in Zack Snyders stählernem "Superman"-Reboot von 2013, dabei aber viel weniger brachial. Ganz ohne totalitäre Neigungen geht es, zumal in den Schlachtentableaus, zwar nicht zu. Aber die Spezialeffektorgel, die das Ganze orchestriert, ist in sich so vielgestaltig und inhomogen, dass von Gesamtkunstwerk keine Rede sein kann. Am Ende kämpft der König der Affen, der qua Ursprungsmythos sowohl Gutes als auch Böses in sich trägt, nicht gegen irgendeinen Endgegner, sondern gleich gegen die apriorischen Anschauungsformen von Raum und Zeit - und das in 3D!

Nikolaus Perneczky

The Monkey King - China 2014 - Originaltitel: Xi you ji: Da nao tian gong - Regie: Cheang Pou Soi - Darsteller: Donnie Yen, Chow Yun Fat, Aaron Kwok, Yitian Hai, Peter Ho, Joe Chen - Laufzeit: 119 Minuten.

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Kino ist: Mann + Frau + Hafen + Dostojewski. Zumindest glaubt man das, wenn man sich Paul Vecchialis "White Nights on the Pier" ansieht, ein zauberhaftes Stück Termitenkino, das Fjodor Dotojewskis oft verfilmte Novelle "Weiße Nächte" in einen (zunächst) minimalistischen Versuchsaufbau transformiert: Ein junger Mann (Pascal Cervo) trifft und verliebt sich in eine ihrerseits bereits vergebene junge Frau (Astride Adverbe), die beiden führen in vier aufeinander folgenden Nächten vier Gespräche vor atmosphärischer Hafenkulisse (mehr Kulisse als Hafen, allerdings). Vecchiali entwirft seine Adaption in erster Linie als ein Licht-Spiel: Während der Dialog manchmal eng an Dostojewski klebt, manchmal eine idiosynkratische, stets hochliterarische (so gibt sich der Mann einmal, wie aus heiterem Himmel, selbst den Namen Fjodor) Eigendynamik gewinnt, werden die Körper, und insbesondere die Gesichter der beiden Hauptfiguren illuminiert von wechselnden, nicht immer einfach zu identifizierenden Lichtquellen und deren Reflektionen auf der Wasseroberfläche. Die Gesichter fungieren als Katalysatoren, die nicht nur ihre eigene Helligkeit, sondern die gesamte mediale Anordnung transformieren: Wenn er einen Schritt nach vorne tritt, gleitet rhythmisch pulsierendes Rot über seine Züge und die ganze Leinwand beginnt euphorisch zu leuchten, läuft sie ein paar Meter zurück, befindet sie sich außerhalb der Reichweite der diversen Beleuchtungen - und plötzlich ist nur noch eine hochartifizielle Theaterkulisse zu sehen, in der eine einsame Frau herumsteht.

Wenn nach Deleuze das Affektbild eine Großaufnahme und die Großaufnahme ein Gesicht ist, dann sucht Vecchialis Film nach Bildern und Gesichtern für Affekte einer neuen, einer irrlichternden Art (oder nach Affekten für eine neue, irrlichternde Art von Gesichtern)... Und dann gibt es noch viel mehr zu entdecken in diesem nur vermeintlich minimalistischen Film: Gestochen scharfe Rückblenden in eine traumatische Schwarz-Weiß Vergangenheit (in eine Welt ohne Irrlichter) zum Beispiel; und eine unfassbare Tanzszene, die in Locarno, wo der Film Premiere feierte, völlig zu Recht Szenenapplaus erhielt. Bevor Astrid Adverbe die Tanzfläche betritt, in die sich nicht nur der Hafen, sondern der ganze Film für einige Minuten verwandelt, bittet sie natürlich: um Licht.

Lukas Foerster

White Nights on the Pier - Frankreich 2014 - Originaltitel: Nuits blanches sur la jetée - Regie: Paul Vecchiali - Darsteller: Astrid Adverbe, Pascal Cervo, Geneviève Montaigu, Paul Vecchiali - Laufzeit: 94 Minuten.