Im Kino

Die Bösen sind die Guten

Die Filmkolumne. Von Lutz Meier
23.05.2016. Mit der Auszeichnung für Ken Loachs neues Drama "I, Daniel Blake", das durchaus kein schlechter Film ist, hat die Jury dennoch die interessantesten Tendenzen des Festivals verkannt. "Toni Erdmann", Maren Ades Berserker und riesiges Zottelwesen, wird sich dennoch durchsetzen. Sehr sehenswert auch Asgar Farhadis "The Salesman", der zum Abschluss des Wettbewerbs lief.
Da steht er, der Mann. Er hat gerade einem herzkranken alten Herrn eine Ohrfeige gegeben und etwas Anderes, das noch mehr wehtut. Da steht er, voller Genugtuung über die Kränkung, die er erteilt hat, und zu der er oberflächlich betrachtet sogar jedes Recht hat. Und doch sieht Emad, die Hauptfigur von "The Salesman", dem neuen Film des iranischen Regisseurs Asgar Farhadi, selbst aus als wäre er der, der hier verloren hat. Alles hat er verloren, nämlich sein gesamtes moralisches Selbstbild. "The Salesman" ist der letzte Film im Wettbewerb von Cannes, er wurde nachträglich in letzter Minute nominiert, und jetzt läuft da eine Szene nach der anderen, die den Atem stocken lässt. Es ist ein Film wie ein Gift, das ganz langsam wirkt. Wir sehen der moralischen Zerrüttung eines Mannes zu, eines sozialen Geflechts. Und Emad ist Mann mit den besten Absichten. "The Salesman" ist ein giftiges, rückhaltloses Porträt über die ethische Verkommenheit einer Gesellschaft und einer ganzen Gesellschaftsform. Und wie Farhadi dieses Porträt unter den Bedingungen der iranischen Zensur als vorgeblich private Geschichte so realisiert, dass sie umso mehr trifft, ohne dass er sich angreifbar macht: Das ist schlicht verblüffend.


Szene aus Farhadis "The Saleman".

Der Jury von Cannes war das am Sonntagabend immerhin den Drehbuchpreis und den Preis für den besten Darsteller wert. Wenn man zu den Leuten zählt, die noch bei einem Wasserglas, in dem unten eine nasse Pfütze schimmert, von einem halbvollen Glas zu sprechen geneigt sind, dann kann man diese Preisentscheidung gerade noch für positiv befinden: Sie haben den wunderbaren Film wenigstens nicht übersehen. Anders als manchen anderen. Viel von dem Lamento, das jetzt über diese Jury hereinbricht, muss sich ja für den unkundigen Konsumenten so lesen, als seien da ein paar Leute, speziell in Deutschland traurig, dass ihr Lieblingsfilm gar nichts abbekommen hat - die Rede ist natürlich von dem lustigsten und genauestem Film des Festivals, Maren Ades "Toni Erdmann", der trotz seines überragenden Favoritenstatus beim Festivalpublikum keinen Preis der Jury und "nur" einen internationalen Kritikerpreis erhielt.

Aber darum geht es eben nicht, dass Leute einen Film favorisieren und dann gewinnt ein anderer. Es geht darum, dass diese Jury zielgenau alle besonderen, unerhörten, grundstürzenden Leistungen dieses Wettbewerbs übersehen oder unterbewertet hat. Und dass sie gleichzeitig die am wenigsten besondere, die am meisten erwartete Leistung auszeichnet.

Womit wir beim Gewinner der Goldenen Palme 2016 wären, "I Daniel Blake", von Ken Loach. Es ist beileibe kein schlechter Film in dem der Altmeister des Sozialdramas über den verzweifelten Kampf eines herzkranken Tischlers gegen die englischen Version der Hartz-IV-Behörden erzählt. Es ist wahrscheinlich sogar Loachs bester Film seit "The Wind that Shakes the Barley", mit dem er vor zehn Jahren schon die Goldene Palme gewann. Zwischendurch hat er ein paar Filme gemacht, die in peinlichen Sozialkitsch nicht nur abrutschten, sondern sich in denselben geradezu mit Wonne stürzten. "I, Daniel Blake" nimmt seine Figuren dagegen ernst (großartig Dave Jones in der Hauptrolle). Loach entwickelt seine Geschichte wie einer, der die Regeln des klassischen Erzählkinos tief in sich aufgesogen hat, er weiß, wie man unterhält, wann ein komödiantischer Einschlag angebracht ist, wann eine Schrecksekunde und wie man im Publikum die Tränen fließen lässt.

Aber auch hier sind, wie immer bei Loach, alle Armen gut, das System und sein Apparat unerbittlich. In diesem Fall sind irgendwie Outsourcing und Internet schuld und ein Gemeinwesen, das Sozialstaat nur noch auf dem Papier ist. Ja gut, man kann es gar nicht oft genug sagen, meinen Leute wie Loach. Und nur weil die Botschaft aus der Mode sei, sei sie doch noch nicht verkehrt. Aber die Frage muss erlaubt sein, ob Loachs Gefühlsbestätigungskino mehr für die Zukunft einer solidarischen Gesellschaft tut oder, zum Beispiel, das was die belgischen Dardenne-Brüder erzählen, auch dieses Jahr in Cannes: die Geschichte einer jungen Ärztin, die auf die große Karriere verzichtet, weil sie feststellt, dass sie einer Hilfebedürftigen nicht helfen konnte. Und dann kommt dazu, dass Loach selbst bei dem gelungenen "I Daniel Blake" ein paar Mal in seinem modulierten Drehbuch doch zu dick aufträgt. Peinlich wird es zum Beispiel als Daniels alleinerziehende Leidensgenossin und Freundin Katie sich aus lauter Not in einer schäbigen Absteige als Prostituierte wiederfindet, weil die Not so groß ist und der gute Daniel da auch noch aufkreuzt. Unpassend, unrealistisch, und vielleicht auch noch ein bisschen frauenfeindlich.

Selbst wenn man derlei noch gelten lassen möchte: Loach wurde am Sonntagabend für eine konventionelle Botschaft ausgezeichnet, die mit konventionellen Mitteln überbracht wird. Was will eine Jury für Filme, die so etwas bepreist in einer Konkurrenz, in der es so viele neue Aussagen zur neuen Zeit gibt, die auf neue, andere oder genauere Weise überbracht werden?

Den Regiepreis gab sie - wenigstens, möchte man wieder sagen - dem rumänischen Regisseur Christian Mungiu, dem Goldpalmengewinner von 2007, für sein beklemmendes Vater-Tochter-Trama "Bacalaureat". In der Form vielleicht auch klassisches Erzählkino, aber Mungiu erzählt eben genauer, sicherer, sein Held Romeo fällt nach allen Regeln der griechischen Tragödie unerbittlich. Dabei nimmt Mungiu jede künstliche Dramatik raus, was die Sache noch beklemmender macht. Aber abgesehen von der formalen Struktur wirft Mungius Film das Licht auf neue Probleme einer neuen Zeit, Probleme, die in keinem Verdi-Handbuch stehen und eben nur in einem solchen Film so gezeichnet werden können. Es geht um das alte Thema der moralischen Verantwortung des Einzelnen in einer - mehr oder weniger - amoralischen Umfeld, aber - und das ist das Neue - in einer Gesellschaft, die Freiheit propagiert und verlangt.

Und dann muss dieser Rumäne, der seine Schauspieler so quält, die sich trotzdem nachher bei ihm bedanken, seinen Preis ex aecquo mit "Personal Shopper" teilen, einer oberflächlichen, unkonzentrierten Fingerübung der französischen Hoffnungsregisseurs Olivier Assayas, deren einziger Lichtblick das Gesicht ihres Stars Kristen Stewart ist, an dem sich die Kamera dann aber auch die ganze Zeit festklammert. Auch der Jurypreis für Xavier Dolans durchaus sehenswerte schrille Familienstudie "It's Just the End of the World", kann in diesem Kontext kaum als ernstzunehmendes ästhetisches Statement gesehen werden, denn Dolans Kino steht so sehr für alles, für das Loach nicht steht. Genauso wie Mungius genauer Film sich von Assayas' schlampigen Zeitvertreib abgebt. Ja "Toni Erdmann" hätte den Hauptpreis verdient, aber wenn die Jury das anders sieht, wäre es nicht weiter schlimm. Sie müsste nur sonst den Eindruck erwecken, dass sie weiß, was sie tut.

Bei solch einer Preisstreuung aber liegt der Schluss auf der Hand, dass diese Preisrichter ihren Segen beliebig vergeben. Ebenso nahe liegt eigentlich die Frage, was genau Schauspieler wie Kirsten Dunst, Donald Sutherland und Vanessa Paradis befähigt, solche Filme zu beurteilen, wie sie hier gezeigt werden. Und noch näher der Verdacht, dass Festivaljurys zu oft mit Gesichtern besetzt werden, von denen man sich Glanz und Fotos erhofft, aber nicht: ein ernsthaftes Urteil.

Aber es geht ja nicht nur um die Palmen in Cannes. Es geht ja auch darum, was all diese Filme über das Kino und über die Welt an Aussagen hinterlassen. Und da gibt es einige interessante Feststellungen. Die erste: Filme, über eine Generation, die mehr wollte. Mehr Freiheit, mehr Individualität, weniger von Macht und Abhängigkeit und Konventionen die ihre Eltern zu schlechten Vorbildern machten. Und jetzt sind diese Menschen zwischen Mitte Fünfzig und Mitte Sechzig und blicken voller Trauer auf das, was daraus geworden ist, nämlich ihre Kinder.

Es ist doch erstaunlich, dass es diese Trauer in der ganzen Welt zu geben scheint: Da ist der Vater in Maren Ades "Toni Erdmann", der seine Tochter, Freiheit, Witz, Weltoffenheit gelehrt hat, und jetzt dabei zuguckt, wie die Karriere-Unternehmensberaterin diese Werte nutzt, um sich in einem fantasielosen Aufstiegsfrau-Gefängnis einzumauern. Da ist der Vater in Mungius rumänischem Film, der nach der Wende Schluss machen wollte mit den großen schmutzigen Kompromissen, und nun erschreckt feststellt, wie er seine Tochter in kleine, angeschmutzte Kompromisse verwickelt. Da ist die alternde Diva Clara (Sonia Braga) im brasilianischen Film "Aquarius" (Regie: Kleber Mendonça Filho), deren ganze Wohnung von ihrer intellektuellen Emanzipation erzählt und vom Aufbruch der Siebziger Jahre, und deren Kinder sie drängen, diese Wohnung schnell zu verlassen, um sich in einem Neubauwohnblock einzuschließen.

Zweitens: Familie statt Politik. Es ist bezeichnend, dass der Gewinnerfilm der einzige explizit politische Film des Festivals ist. In nahezu allen anderen Filmen geht es um Familienbeziehungen. Um Familien, die keinen kanonisierten Regeln und Traditionen mehr folgen müssen, die darum kämpfen überhaupt noch Beziehungen zu definieren. Und in diesen Familien spiegeln sich denn doch die gesellschaftlichen Krisen, wie eben bei Mungiu, dessen moralische Zerrüttung die der Gesellschaft ist.

Drittens: Ambivalente Figuren - oder die Bösen sind die Guten. Mit großer Warmherzigkeit widmen sich diese Filme jenen, die moralisch fehlen, wir sehen ein Kino, das nicht mehr urteilen will, sondern verstehen. Die Karrierefrau in "Toni Erdmann" bietet sich ebenso zur Identifikation an wie Mungius Doktor. Die schreiende, keifende, einander ignorierende Familie in Xavier Dolans Film besteht aus liebenswerten, verzweifelten alleingelassenen Individuen. Emad, der Mann aus Asgar Farhadis iranischem Film, lässt uns mitleiden: Wie einer, der immer etwas anderes wollte, plötzlich zum Teil einer Struktur von Rache und Unerbittlichkeit wird.

Drei Entwicklungen kann man also in den Filmen dieses Festivals festmachen. Da scheint es fast überflüssig zu sagen, dass in allen drei Punkten "I Daniel Blake" nicht typisch für Cannes 2016 ist; nicht auf der Höhe der Auswahl - oder ihrer besseren Teile.

Jetzt aber kommen die Bilder in die Welt, wenn es Glück hat, kommen sie zum Publikum. Auf dass es auch die Chance hat, die Versagenden lieben zu lernen, den neuen Blick auf die neue Welt zu teilen und vor allem: Toni Erdmann endlich kennenzulernen, diesen Berserker, dieses riesige Zottelwesen, das die Nacktparty rettet.

Lutz Meier