Im Kino

Zustand der Unvollkommenheit

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Michael Kienzl
16.06.2016. Der Animationsfilm "Miss Hokusai" von Keiichi Hara ist kein Film über den Schatten der Väter, sondern einer über die Freiheit des Lebens. Paul Thomas Andersons "Junun" lässt dem kollektiven Spieltrieb freien Lauf.


Wäre "Miss Hokusai" weniger ungewöhnlich geworden, könnte man sich die reißerische Tagline gut vorstellen; etwa in der Art von "Im Schatten des Vaters". Bei einer Geschichte über die auch heute noch weitgehend unbekannte Tochter des berühmten japanischen Malers Katsushika Hokusai wäre dieser Ansatz der nächstliegende gewesen. Denn wie ihr Vater hat auch Oi ihr Leben der Malerei gewidmet - als seine Assistentin, aber auch als eigenständige Künstlerin, die sich besonders auf Tuschemalerei und Farbholzschnitte spezialisiert hat. Der auf einer Mangaserie von Hinako Sugiura basierende Animationsfilm nimmt aber glücklicherweise weder die Tochter als Vorwand, um vom Vater zu erzählen zu können, noch gibt er sich damit zufrieden, die Protagonistin als verhindertes Genie zu porträtieren. So ist "Miss Hokusai" keineswegs ein Melodram über die sozialen Beschränkungen einer jungen Frau im Japan des 18. Jahrhunderts geworden, sondern vielmehr eine mäandernde Erzählung, die keine künstlerische und emotionale Reifung zum Ziel hat, sondern sich vor allem für einen Zustand der Unvollkommenheit interessiert.

Die Handlung setzt ein, als Tokio noch Edo heißt. Der schon etwas abgehalfterte Grantler Hokusai haust hier mit seiner Tochter und einem ebenfalls malenden Trunkenbold in einer Künstler-WG, in der viel Sake getrunken und wenig aufgeräumt wird. Ein süßes kleines Hündchen, das immer mal wieder unbeholfen durchs Bild tapst, gibt es zwar auch, aber das war es auch schon mit niedlichen Schauwerten. Erstmal zeichnet der Film ohne falsche Romantik nach, wie man sich wohl damals das Leben nicht (mehr) so richtig berühmter Maler vorzustellen hatte: eine Mischung aus prekärer Existenz und einem nicht immer unangenehmen in-den-Tag-Hineinleben. Oi spielt in diesem sozialen Gefüge nicht die ordnende Kraft, die den Haushalt regelt und für das Emotionale zuständig ist, sondern geht eher unauffälig ihrem Alltag nach, sitzt pfeiferauchend über ihren Zeichnungen oder porträtiert die Frauen in einem Bordell in der Nachbarschaft. Zwar zeigt der Film auch, wie der Alltag seiner Heldin von inneren Zwängen getrieben ist - etwa von dem Wunsch nach künstlerischer Perfektion oder der Sehsucht nach Liebe -, vermittelt aber zugleich ein Gefühl für die Freiheit dieses Lebens. Als Oi einmal in der Stadt einen Kollegen trifft und von ihm gefragt wird, was sie denn noch vorhabe, antwortet sie nach einer kurzen Pause: "Eigentlich nichts". Das mag banal klingen, aber diese Planlosigkeit, dieser Moment, in dem eine Figur gerade überhaupt kein dramatisches Ziel hat und plötzlich alles offen ist, wirkt wie etwas Besonderes.



Das Schöne an "Miss Hokusai" ist, dass er diese Momente auskostet und nicht viel mit seinen Figuren vorhat. Er findet seine Erfüllung nicht in größer angelegten Erzählbögen über die Versöhnung zwischen Hokusai und seiner wegen ihrer Blindheit verstoßenen zweiten Tochter oder der heimlichen Liebe Ois zu einem attraktiven Maler-Star, sondern arrangiert kleine Episode locker zu einem organischen Ganzen. Was Hokusai Oi als vermeintliche Schwäche vorwirft - nämlich, dass sie die losen Enden in ihren Bildern nicht zusammenführt - macht sich der Film zur Tugend. Hara hat zwar Lust am Erzählen, setzt sich aber nicht dem Zwang aus, seine Geschichten unbedingt zusammenlaufen oder auch nur zu Ende bringen zu müssen. Stattdessen verliert er sich in kleinen Miniaturen; erweckt furchteinflößende Höllendarstellungen zum Leben, zeigt eine Konkubine, deren Gesicht im Schlaf ein geisterhaftes Eigenleben führt oder widmet sich einer sexuell ebenso ambivalenten wie unbefriedigenden Begegnung zwischen Oi und einem als Frau verkleideten Prosituierten.

Oft braucht "Miss Hokusai" noch nicht einmal einen narrativen Vorwand, sondern erfreut sich an alltäglichen Phänomenen der Natur und des Großstadtlebens. Mit einer entspannten Haltung zum Historischen widmet er sich detailverliebt den Handwerkern und Essensverkäufern, die sich ihren Weg durch das urbane Gewusel bahnen - und bricht seine Beobachtungen mit einem zeitgenössischen Rock-Soundtrack. Manchmal sind es nur fliegende Blätter, das kindliche Herumtollen im Schnee oder Ois morbide Faszination für brennende Häuser, die Hara als Attraktion reichen. Und wie jedes Bild im Film zum Leben erweckt werden kann, ist auch jede dieser Beobachtungen wieder ein potenzielles Bild. Irgendwann, während einer gemütlichen Flussfahrt auf dem Sumida, formt sich das Wasser schließlich zur großen Welle von Kanagawa - dem wohl berühmtesten Bild Hokusais. Dabei markiert dieser Moment keinen visuellen Höhepunkt, sondern bleibt nur eines von vielen, kunstvoll eingeflochtenen Zitaten. Der erdrückende Schatten des Vaters ist für "Miss Hokusai" weniger interessant als die luftigen Schatten der alten Holzhäuser, die beim gemächlichen Stadtspaziergang das Gesicht Ois verdunkeln.

Michael Kienzl


Miss Hokusai - Japan 2015 - OT: Sarusuberi: Miss Hokusai - Regie: Keiichi Hara - Laufzeit: 93 Minuten.

---



Es beginnt mit einem muslimischen Gebetsruf, der durch die den ganzen Film über offenen Fenster schallt, sich aber gleich mit Straßenlärm und Melodiefetzen vermischt. Eine Gruppe von Männern sitzt, wie ebenfalls fast den ganzen Film über, auf dem Boden eines luftigen, weiten Raums, in einem lockeren, weiten Kreis. Die Kamera schwenkt über die gleichermaßen konzentriert und entspannt anmutende Anordnung. Als der Muezzin verstummt, setzt, mit einem energischen Trommelwirbel, die Musik ein, der der Rest des Films gehört. Paul Thomas Anderson widmet seinen ersten, halblangen Dokumentarfilm "Junun" den Aufnahmen zu einem Album, für das der israelische Komponist Shye Ben Tzur mit dem Radiohead-Gitarristen Johnny Greenwood und der indischen Kapelle Rajasthan Express zusammengearbeitet hat - nicht in einem hermetisch abgeriegelten Tonstudio, sondern in der Burg Meherangarh: Eine beeindruckende, ausladende Festung, weithin sichtbar über der Stadt Jodhpur in der indischen Provinz Rajasthan trohnend.

Einst unzweifelhaft ein Ort der Macht, jetzt nur noch einer, in dem jede Menge Vögel herumflattern; und in dem sich Musiker einquartiert haben, die gemeinsam an ihren Stücken arbeiten, von denen eine ganze Reihe komplett ausgespielt im Film zu hören sind: mal mit, mal ohne vocals (für einen sehr schönen Song stoßen zwei Sängerinnen hinzu), mal deutlich, mal weniger deutlich elektronisch unterfüttert, meist upbeat, stets bläserlastig. Treibende Kraft scheinen eher die gut aufeinander eingespielten Rajasthan-Express-Musiker zu sein als der im Hintergrund vor sich hin frickelnde Greenwood - aber solche künstlerischen Dynamiken sind von außen kaum zu durchschauen. Anderson, dessen Spielfilme bisweilen in ihren eigenen Ambitionen zu ersticken drohen, der diesmal jedoch eine angenehm leichtfüßige Tonlage trifft, versucht das auch gar nicht erst: Es ist seinem "Junun" nicht daran gelegent, mithilfe des Kinos die Musik zu ergründen; vielmehr lässt sich das Kino von der Musik infizieren.



Nicht in dem Sinne allerdings, dass Anderson nach einer visuellen Entsprechung für die Klänge suchen würde - keine tanzende Kamera, keine ryhthmischen Schnittkaskaden, keine psychedelischen Farbtrips. Eher scheint es darum zu gehen (mich hat das an einige Filme von Les Blank erinnert), dass die Musik die Bilder in eine produktive Unruhe versetzt. Die Grundsituation - der demokratisch organisierte Kreis, in dem Jam-Session und Plattenproduktion unmittelbar ineinander übergehen - bleibt fast durchweg gleich, aber die Kamera verhält sich immer ein wenig anders zu ihr. Oft beobachtet sie die Spielenden zunächst distanziert und unbewegt, und setzt sich dann irgendwann in Bewegung, gerne ruckartig und etwas ungestüm - kein unsichtbares fly-on-the-wall-Auge, sondern ein künsterisches Werkzeug, das trotz seiner konstitutiven Unsichtbarkeit dieselbe Materialität hat wie die Musikinstrumente; und das vom selben Spieltrieb beseelt scheint.

Der Abspann listet fünf Kameraleute, darunter auch den Regisseur. Tatsächlich kann man sich gut vorstellen, dass viele Bildideen spontan entstanden sind, und sich nicht einer zentralen auteuristischen Vision, sondern distinkten Mini-Ekstasen verdanken. Wobei es auch stärker komponierte Passagen gibt - insbesondere in den eher wenigen Momenten, in denen der Film doch den Musikantenraum verlässt, für dokumentarische Miniaturen über einzelne Musiker, oder für kleine Ausflüge, die mit dem Jeepney hinunter in die nahegelegene Stadt zum Keyboardhändler führen, oder hinauf aufs grandios fotogene Dach der Festung, wo die jetzt plötzlich an einer Drohne befestigte Kamera sich mit einem Vogelschwarm in die Lüfte erhebt.

Lukas Foerster

Junun - USA 2015 - Regie: Paul Thomas Anderson - Laufzeit: 54 Minuten.

Junun läuft am 18.06. im Kino Arsenal im Rahmen der Reihe "Unknown Pleasures #8".