Im Kino

Was meinst'n mit Glück?

Die Filmkolumne. Von Janis El-Bira, Nikolaus Perneczky
13.07.2016. Das schillernde "als ob" des Theaters führt in Maren Ades bezauberndem Cannes-Liebling "Toni Erdmann" zur Freiheit. Pietro Marcellos hirtenromantischer Büffelfilm "Bella e perduta" hält den Kontakt zur Vormoderne.


Die Angebote ratloser Vaterliebe können holprig klingen: "Soll ich uns etwas von der Wurst aufschneiden?", fragt Winfried (Peter Simonischek) seine Tochter Ines (Sandra Hüller), als sie beide in Ines' Bukarester Wohnung sitzen, in der das meiste so aussieht, als würde es allenfalls zum Entstauben angefasst. Er soll natürlich nicht. "Das ist 'ne richtig gute Käsereibe", bemerkt er ein andermal mit Kennernicken. Ines pfriemelt das Gastgeschenk aus einer dicken Schaumstoffform. Sie ist mäßig begeistert. "Wenn du das Shampoo gebrauchen kannst, kannst du's behalten", meint Winfried noch zum Abschied über seine Hinterlassenschaften in der Dusche. Ines braucht es nicht.

Was sie hingegen braucht, sind die Anerkennungsformeln ihres eigenen Biotops. Ines ist Unternehmensberaterin, unter ihrer Tätigkeit für eine Firma in Rumänien versteht sie, "dem Klienten zu erklären, was er eigentlich will". Der Alphamännchen-Kollege Gerald (Thomas Loibl) sagt ihr Sätze wie "Bist 'n Tier, Ines", wenn sie ihr Verhandlungsgeschick im engen Gehege aus Flipcharts und PowerPoint-Folien mit besonderer Beharrlichkeit unter Beweis gestellt hat. Ist der Kunde überzeugt, ist die nötige Anzahl Mitarbeiter entlassen und sind die richtigen Unternehmenszweige outgesourct, zieht der Consulting-Wanderzirkus weiter, denn die Besprechungsräume zwischen Bukarest und Shanghai unterscheiden sich bei Tag so wenig wie die Tabledance-Bars bei Nacht. Der Raubtierkapitalismus schneidet keine Wurst auf und reibt keinen Käse. Er verschlingt. Doch seine Legitimationsargumente sind stark: All sein Handeln könne sie bis ins Detail mit ökonomischen Konsequenzen verknüpfen, raunzt Ines den verstörten Vater einmal an. "Du machst das bestimmt alles sehr gut", gibt der kleinlaut zurück.

Immer wieder streifen und überlagern sich in Maren Ades Film "Toni Erdmann", mit dem die Berliner Regisseurin zum einmütigen Kritiker- und Publikumsliebling beim diesjährigen Filmfestival von Cannes avancierte, die Sphären von Privatem und Beruflichem, ökonomisch gesprochen von Haushalt und Betrieb. In beiden kommt das Leben irgendwie nicht mehr von der Stelle und schon gar nicht zu sich selbst, weil Sprechen und Meinen einander fliehen oder die einmal angelegten Kleider nicht mehr passen. Winfried, ein Musiklehrer kurz vor der Rente, tappt beim Besuch in Bukarest mit seinen Anläufen zu einer intakten Vater-Tochter-Beziehung bei Ines beständig im Dunkeln. Eine Käsereibe zu schenken kann ihm nicht die Rolle als großzügiger Papa mit breiten Schultern und Gemütlichkeitsbauch zurückkaufen. Ines dagegen scheint sich im Laufrad der Karriere umso mehr ins Zeug zu legen, je schneller es ihr unter den Füßen weggleitet. Verblüffend präzise beobachtet der Film die Zurichtungsmechanismen der Branche: Sandra Hüller trägt Ines' Hosenanzüge wie ein Exoskelett. Die schwarzweiße Uniform muss von außen stützen, was sich innen kaum mehr aufrecht halten kann. Als Winfried sie fragt, ob sie denn "ein bisschen glücklich" sei mit alledem, bekommt er eine frostige Antwort: "Was meinst'n mit Glück? Auch mal ins Kino gehen, oder was?"



Keine Frage: Hier muss etwas geschehen. Und was das ist, wird in diesem staunenswerten Film tatsächlich zu einem Kinoglück. Denn Winfried, domestizierter Alt-68er-Bürgerschreck, der im Alltag mit einem Scherzgebiss den Postboten verarscht, beschließt, nicht länger Rollen zu spielen, sondern ganz Figur zu werden. Als Toni Erdmann, angeblicher "Consultant and Coach" von Tennislegende Ion Tiriac, kehrt er mit falschen Zähnen und Zottelperücke nach Bukarest zurück, um all diesen Menschmaschinen im wahrsten Sinne ein Furzkissen aus Irritationen unterzuschieben. Dass Maren Ade hieraus bei allem großartigen Witz gerade keine Komödie der Irrungen ableitet, kein Maskenspiel, das auf seine pointenreiche Entlarvung hinausliefe, führt mitten hinein ins eigentlich todtraurige Herz der Geschichte und zum Wunder dieses Films: Ines erkennt (wie der Zuschauer) unter Toni Erdmanns wirren Haaren sofort den eigenen Vater - und spielt trotzdem mit. Denn nur vom bewussten Spiel, dem schillernden "als ob" des Theaters, führt ein Pfad zur Freiheit. Das Spielen unterläuft im Beruflichen wie Privaten jene bitteren Verhältnisse, in denen Mensch und Rolle unentwirrbar ineinander verfangen sind. Als Furzkissenslapstick befreit es mit dem Mut der Verzweiflung den bloßen Körper aus dem Korsett des "business attire" - so einfach, so schön ist das.

Dabei exzentrieren sich mit der Einführung der Toni-Erdmann-Figur die Restbestände von Plot und Schablonendramaturgie immer weiter aus einem Film heraus, der als Vater-Tochter-Konflikt mit einer eigentlich konventionellen Erzählprämisse begonnen hatte. Maren Ade öffnet für Sandra Hüller und Peter Simonischek entspannte Spielräume und Probeflächen einer Art, die im Theater vielleicht an die Arbeiten von Jürgen Gosch erinnern, im narrativen Film aber tatsächlich an kaum etwas, vielleicht noch an Jacques Rivette. Dafür nimmt sich "Toni Erdmann" Zeit: Fast drei Stunden lang begleitet Ade das Duo zu Empfängen, Partyexzessen und Außenterminen - und sie vertraut ganz auf einen genauen, naturalistischen Kamerablick, der dem Zauber der Verwandlung erst den Boden bereitet. Hüller und Simonischek befreien ihre Figuren und deren Körper zusehends spiegelverkehrt: Wo sie immer mehr ablegt, sich bis hin zu einer unvergesslichen Nackt-Geburtstagsparty aus ihren engen Kleidchen sprengt, wird er immer haariger, urwüchsiger, legt noch mehr Kostüme an, bis ein ganz anderes Wesen, ein Untier, an Ines' Tür klingelt. Man darf nicht verraten, wohin das alles schließlich führt, im wahrscheinlich sonnenhellsten Moment dieses Filmsommers. Nur so viel: Wenn der deutsche Film, wie man liest, tatsächlich gerettet werden müsste (was nicht stimmt), dann wäre allein dieser Augenblick magischen Realismus' in "Toni Erdmann", in dem alle Sehnsucht nach Nähe nur im Fernsten gestillt werden kann, schon völlig ausreichend.

Janis El-Bira

Toni Erdmann - Deutschland 2016 - Regie: Maren Ade - Darsteller: Peter Simonischek, Sandra Hüller, Michael Wittenborn, Thomas Loibl, Trystan Pütter, Hadewych Minis - Laufzeit: 162 Minuten.

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"Bella e perduta" ist die Lebensgeschichte eines Büffels im italienischen Mezzogiorno, in der Region Campania, die als Leidensgeschichte sich ankündigt wie Bresson sie am Esel Balthazar erzählt hat, dann aber relativ ereignislos verstreicht - bis zur unweigerlichen Schlachtung des wirklich unglaublich schönen Tiers am Ende des Films. Als landwirtschaftlich wertloses Männchen mit gefesselten Beinen am Wegrand ausgesetzt, wird der Büffel von einem Fremden aufgelesen, der sich später als "Engel von Carditello" entpuppt: Tommaso Cestrone, im Brotberuf Landwirt, der sein Leben der Instandsetzung und dem Erhalt des Bourbonenpalasts Reggia di Carditello in San Tammaro verschrieben hat - eine real existierende, sich selbst spielende und seither an einem Herzinfarkt verstorbene Person, der "Bella e perduta", Pietro Marcellos zweiter langer Spielfilm, gewidmet ist.

Tommaso ist die lifeline des Films zur sozialen Realität der Region: zu wirtschaftlicher Depression, alltäglicher Gewalt der Camorra, Bauernleben. Zwei weitere Stimmen: Pulcinella, der am Anfang des Films in unsere Wirklichkeit entlassen wird aus einer absurden, von ächzenden und stöhnenden Pulcinellas bevölkerten Parallelwelt; sowie der Büffel selbst, der wie der Esel Balthazar einen Namen hat - Sarchiapone - und außerdem noch spricht, aber nur von Pulcinella und dem Publikum gehört bzw. verstanden werden kann. Nach Tommasos Tod geht Sarchiapone in den Besitz von Pulcinella über, der ihn in Sicherheit bringen will vor dem sicheren Tod. Gen Süden zieht das ungleiche Paar, vorbei an (bisweilen arg fotogenen) Hinterlandvistas, einer Gruppe junger Büffel, die ebenfalls ihrem Schicksal überlassen worden sind (ihnen ist nicht zu helfen), und einem ledernen Bauernpaar, auf dessen ärmlichen Gehöft Pulcinella und Sarchiapone unterwegs Rast machen.



Dass im Süden Rettung ist, wird weder begründet noch erklärt. Vielleicht weil es sich von selbst versteht. Die Vernunft der Menschen, die Sarchiapone ausschließt aus dem Gemeinwesen und als Nutztier fungibel macht, hat hier noch nicht den Sieg davongetragen. Ein kolossal dicker Hirte, vor dem Eingang seiner Wohnhöhle aufgebäumt, deklamiert ein hirtenromantisches Gedicht von Gabriele D'Annunzio, das die Landschaft wie einen begehrten Körper liebkost, geradezu abgrast. Pulcinella überlässt Sarchiapone diesem Hirten und verschwindet für einen Moment aus dem Film, um zum Menschen zu werden. Als Gegenfigur zu Tommaso, der "Bella e perduta" an die Gegenwart der Dreharbeiten bindet, hält Pulcinella, solange er seine Maske trägt, die Kommunikation mit der Vormoderne offen - eine Grundbedingung gelingender Hirtenromantik. Ohne Maske ist Pulcinella ein Mensch wie andere Menschen auch: Wenn Sarchiapone zu ihm spricht, vernimmt er nichts als Tierlaute.

Am Ende können also nur noch wir den Büffel verstehen, wenn er seinen Anteil einklagt. Eine komische, komplizierte Sprecherposition ist das, die er bezieht: Den Menschen einerseits ebenbürtig, schwadroniert er andererseits über seine Vorfahren, die noch glückliche Diener der Menschen gewesen seien. Armes nutzloses Nutztier! Als Märchen vom südlichen Rand Europas, das sich zwischen Dokument und Fiktion, Politik und Fantastik bewegt, lässt "Bella e perduta" an Miguel Gomes' "Arabian Nights" denken. Nicht nur die sprechenden Tiere und das wirtschaftlich abgehängte Terrain teilt "Bella a perduta" mit Gomes' wucherndem Erzählkatalog, sogar Vogelfänger kommen bei Marcello vor, die ihren Fang allerdings umgehend verspeisen, anstatt ihn im Singbewerb gegen andere Vögel antreten zu lassen. Wo Gomes immer noch eins draufsetzt, in seiner promiskuös-modularen Bauweise, bleibt Marcello seinem Protagonisten treu bis zum bitteren, vollkommen absehbaren, darum aber um nichts weniger herzzerreißenden Ende, weshalb sich "Bella e perduta", noch da, wo er mir das Herz zerreißt, manchmal ein wenig flach anfühlt.

Nikolaus Perneczky

Bella e perduta - Italien 2015 - Regie: Pietro Marcello - Darsteller: Tomasso Cestrone, Sergio Vitolo, Gesuino Pittalis, Elio Germano, Claudio Casaido - Laufzeit: 87 Minuten.