Im Kino

Vor und nach dem Schuss

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Patrick Holzapfel
21.09.2016. Oliver Stones Biopic "Snowden" hat ein Formproblem. Trotz einiger abgenutzt anmutender Selbstzitate sehenswert ist Ulrich Seidls neues Doku-Fiktions-Hybrid "Safari".


Im Mai 2013 hatte sich Edward Snowden, ein ehemals wichtiges, oder wenigstens wissendes Mitglied der amerikanischen intelligence community, in Hongkong einquartiert, in einem kleinen, funktionalen, unpersönlichen Zimmer des Mira Hotel. Er wohnte auch noch dort, als am 5. Juni der Guardian in Zusammenarbeit mit einem zunächst anonymen Insider Dokumente veröffentlichte, die ein umfassendes Überwachungsprogramm der amerikanischen Regierungsbehörde NSA offenlegte; und auch, als er sich wenige Tage später selbst als dieser Whistleblower enttarnte.

Es leuchtet durchaus ein, dass Oliver Stone sein Snowden-Biopic im Mira-Hotelzimmer beginnt, also an jenem Ort, der im Sommer 2013 für ein paar Tage zum Zentrum der medialen Wirklichkeit wurde. Gleichzeitig zeigt diese Entscheidung allerdings dem Projekt schon deshalb seine Grenzen auf, weil es bereits einen Film über Snowdens Tage in Hongkong gibt, und zwar einen ziemlich letztgültigen: Die Filmemacherin Laura Poitras war seinerzeit mit einer Kamera direkt vor Ort, begleitete und befragte Snowden. Dem aus diesem Material entstandenen, 2014 veröffentlichten Film "Citizenfour" gelang das Kunststück, nachträglich eine Art von "Rückseite der Nachrichten" sichtbar werden zu lassen.

Bei Stone dagegen wird Poitras von Melissa Leo verkörpert und wirkt wie eine Snowden-Cheerleaderin, die sich stellvertretend für das Kinopublikum über die Machenschaften der Mächtigen empören darf und die ihren Helden (gespielt von Joseph Gordon-Levitt, der dem Orignal-Snowden zwar kaum ähnelt, aber als weicher, melancholischer Ersatzkörper durchaus interessant ist) in einer schon richtig peinlichen Szene per high five beglückwünscht. (Noch schlimmer: Zachary Quinto, der Glenn Greenwald als einen regelrechten Bully anlegt.) Die Hotelzimmerszenen dienen zwar lediglich als narrative Rahmung einer weitgehend schematischen Filmbiografie, die die Wandlung eines jungen, naiven, konservativen Idealisten zu einem nicht mehr ganz so jungen, aufgeklärten, liberalen Idealisten nachzeichnet. Aber obwohl glücklicherweise nicht der gesamte Film so ungelenk geraten ist wie die Hongkong-Passage, macht "Snowden" auch aufs Ganze gesehen einen eher hilflosen Eindruck.

So bemüht sich der Film zum Beispiel durchaus redlich darum, eine Gegentradition der smarten, moralisch prinzipiell integren Nerds zu behaupten, die als innere Opposition im Sicherheitsapparat eigentlich immer schon auf Snowdens Seite stehen. Wenn er dann allerdings Nicolas Cage als ehrenhaften, ethischen Prinzipien verpflichteten CIA-Sonderling auftreten lässt, dem die Aufgabe zukommt, erste leise Zweifel an der Rechtschaffenheit der Institutionen in dem jungpatriotischen Snowden zu wecken und wenn derselbe Cage später (selbst längst aus dem Zentrum der Macht weggemobbt) seinem Schützling nach den Enthüllungen vom heimischen Wohnzimmer aus über den Fernsehbildschirm hinweg zuprostet - dann ist Stone zwar immerhin ein veritabler casting coup gelungen. Aber gleichzeitig versinnbildlicht der sich im Fernsehsessel fläzende, inzwischen doch ein wenig aus der Form geratene Cage die Perspektive, von der aus "Snowden" auf Zeitgeschichte blickt: Historisch wie ästhetisch aus sicherer Distanz entworfen, geht das Biopic keinerlei intellektuelle Risiken ein, ist dabei aber sichtlich vom (durchaus aufrichtigen; das macht die Sache freilich nur bedingt besser) Bewusstsein durchdrungen, immer schon auf der richtigen Seite gestanden zu haben.



Wenn eine Aufnahme von Obamas Versprechen eingespielt wird, nach den Bush-Jahren wieder Transparenz und rechtsstaatliche Prinzipien in die Sicherheitspolitik einzuführen, dann läuft das auf nichts anderes hinaus als auf ein: tja, angeschmiert. Überhaupt hat der Film einen unansehnlichen Hang zur larmoyanten, gelegentlich in Michael-Moore-artige Polemik abtriftende Archivmaterial-Montagesequenz. In diesen Passagen zeigt sich besonders deutlich, dass das eigentliche Problem von "Snowden" nicht eines der politischen Inkonsequenz ist (die war auch schon in Stones früheren, deutlich interessanteren Zeitgeschichtsfilmen unübersehbar); sondern eines der Form.

Irgendwie scheint der einst lustvoll im Mtv-Zeitgeist schwelgende, jedem billigen Effekt euphorisch hinterherhechtende Stone ästhetisch den Anschluss verpasst zu haben. "Snowden" sieht über weite Strecken nach dem aus, was der Film ökonomisch betrachtet auch ist: behäbiges europäisches Förderkino, das alle filmischen Mittel (ok, außer den Montagesequenzenden) brav psychologisch entwickelten Figuren unterordnet. Positiv könnte man das als Sorgfalt beschreiben; nur ist Sorgfalt leider keine Tugend, die Stones Kino sonderlich gut steht. Eine Handvoll gute Bildideen gibt es schon - einmal steht Gordon-Levitt vor einem Big-Brother-artig von einem riesigen Bildschirm auf ihn herunterblickenden Vorgesetzten - und die prozessual organisierten Passagen funktionieren halbwegs im Sinne klassischer Agentenfilmunterhaltung. Aber das ist schon Teil des Problems: Eigentlich müsste es einem Snowden-Film doch wenigstens den Versuch unternehmen, über die neuen Informationsökonomien und die kommunikativen Kurzschlüsse der Web-2.0-Welt nachzudenken. Stattdessen geht es im entscheidenden Moment doch nur wieder darum, einen USB-Stick unbemerkt aus dem Büro zu schmuggeln. Und globale Datenübertragung wird ein weiteres Mal als eine weißlich glitzernde Krake visualisiert, die den Erdball umklammert und zu allem Überfluss auch noch auf einen Augapfel projiziert wird.

Noch am besten funktioniert "Snowden" paradoxerweise dann, wenn Stone sein Sujet tatsächlich komplett "hollywoodisiert" - indem er es entlang einer Liebesgeschichte auffaltet: Das Auf und Ab von Snowdens Beziehung mit der Tänzerin Lindsay Mills (Shailene Woodley), die er über die fiktionale Dating-Plattoform geek-mate.com kennenlernt, wird gleich mehrmals auf filmisch einnehmende Weise mit seinem politischen Erweckungsprozess eng geführt. Am eindrücklichsten vielleicht, wenn der vormals staatsgläubige junge Mann sich plötzlich beim Sex beobachtet fühlt, und Stones Kameraperspektive der Paranoia Recht zu geben scheint. Aber selbst in dieser Hinsicht hat "Citizenfour" immer schon die Nase vorn - schließlich endet Poitras' Dokumentarfilm mit einem rührenden und in gewisser Weise ebenfalls letztgültigen Bild, das Snowden und Mills beim gemeinsamen Spaghettikochen im russischen Exil zeigt.

Lukas Foerster

Snowden - Frankreich, Deutschland, USA 2016 - Regie: Oliver Stone - Darsteller: Joseph Gordon-Levitt, Shailene Woodley, Melissa Leo, Zachary Quinto, Rhys Ifans - Laufzeit: 134 Minuten.

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Der französische Filmemacher Jean Eustache hat einmal kundgetan, dass er Dokumentationen machen wolle, die wie Fiktionen wirken und Fiktionen, die wie Dokumentationen wirken. Ulrich Seidl ist ein großer Verehrer von Eustaches "La Rosière de Pessac" und in vielerlei Hinsicht ein Schüler des Filmemachers. In seinem gesamten Schaffen bewegt sich der Österreicher genau auf dieser Schwelle zwischen Fiktion und Dokument. Auf ihr führt er den Zuschauer in bedeutungsgeladenen Bildern und Montagen an und in Abgründe menschlichen Verhaltens und beschwört somit kritische Fragen zu Moral und Ethik der Darstellung herauf.

Ulrich Seidl, das ist immer auch ein Themenfilmer. Darin unterscheidet er sich von Eustache, der deutlich mehr an Menschen, sich selbst und dem Kino interessiert war. Eigentlich gibt es immer zwei Texte, die man nach einem Seidl-Film schreiben muss. Einen zum Film und einen zum Thema. Bei Seidl sind das Themen, die sich inzwischen fast so lesen wie alles, was das Fernsehen gerne noch ausschlachten würde, aber nicht darf. Also etwa das Treiben von Österreichern in ihren Kellern, im Zimmer mit Sextouristinnen oder wie in seinem neuen Film "Safari", die umstrittene Tierjagd einiger Gesellen und Familien mit Rest-Alkohol und Rest-Kolonialismus in Afrika. Ein Thema, das seit Peter Kubelkas "Unsere Afrikareise" österreichische Filmgeschichte ist. Da Seidl jedoch mit einer größtmöglichen Neutralität den möglichen Vorurteilen gegenübertritt, befreit er seine Themen und seinen Blick und liefert uns in "Safari" das herrlich ambivalente Bild einer Verunklarung statt einer vorgetäuschten Erklärung. Dennoch gibt es einige Unstimmigkeiten, die zum Ton eines Seidl-Films gehören und dennoch nicht unter den Teppich fallen sollten.

Seidl folgt zwei Strängen: einem Strang der Erfahrung und einem Strang des Reflektierens. Ersteren fängt er mit seinem Kameramann Wolfgang Thaler auf der Pirsch der verschiedenen Protagonisten ein. Diese Herangehensweise erinnert an seinen Film "Good News". Auf der Jagd erlebt man hautnah die Gefühle vor und nach dem Schuss und eine merkwürdige Sprache, die all diese Gewalt zu euphemisieren trachtet. Statt Blut gibt es Schweiß, statt Wild gibt es Stück oder gar "kapital" und hat man ein Stück getroffen, "zeichnet" es. Die Jäger fallen sich tränennah in die Arme, erleben Enttäuschung und Ekstase, man könnte fast verstehen, was diesen "Sport" ausmacht, wenn es nicht auch die Opfer gäbe. Das perfide an einer solchen Jagd ist, dass das entscheidende Glücksgefühl, das schon in Urvölkern wie in Lascaux einen Reiz zur Kunst ausgelöst hat, hier Teil eines Programms ist. Es ist programmiert, ein Kick auf Abruf, Urlaub eben. Zwar verzichtet Seidl darauf, die Treffer in den Körpern der Tiere zu zeigen und fokussiert sich stattdessen auf die Reaktion der Schießenden, aber letztlich reichen die toten und im prominenten Fall einer Giraffe sterbenden Körper, um ein Mitgefühl entstehen zu lassen, ein Gefühl von Ungerechtigkeit. Dadurch bekommt der Film ein gewisses Gewicht, weshalb das Lachen hier noch etwas früher stecken bleibt als sonst bei Seidl.



Trotzdem verliert "Safari" an zwei Stellen die so wichtige Neutralität: Einmal schneidet der Filmemacher in die Nahaufnahme einer blutenden Wunde und gegen Ende schwenkt die Kamera in das Gesicht der sterbenden Giraffe. Ist dies der Ausdruck einer Überwältigung oder Manipulation? Das Problem ist nicht das Mitgefühl, sondern der Widerspruch mit der eigentlich behaupteten Neutralität, die uns ansonsten die Freiheit einer Positionierung lässt. In einer anderen Szene hören wir den Magengeräuschen eines biertrinkenden Jägers im Schießstand zu, ein Konzert, das das Animalische im Menschen hervorkehrt. Das ist eine absolut vermeidbare Szene, in der unabhängig davon, ob es diese Geräusche gab oder nicht, nur ein Klischee, eine konzeptuelle Idee bedient wird. Um das zu unterstreichen legt er die Frau des Jägers auf eine Sonnenbank. Sie schläft mit der Zeitung auf ihrem Gesicht liegend. Das glucksend-populistische Lachen im Kinosaal: Schaut euch die da an! Das ist wohlgemerkt nicht die Haltung des gesamten Films, aber sie rutscht immer wieder durch die Szenen hindurch. Seidl ist kein Freund des Nicht-Zeigens.

Dabei konstruiert der Filmemacher durchaus überzeugend ein Gefühl von Direktheit, wobei sich das im Vergleich zu ähnlichen Szenen aus Filmen von Raymond Depardon oder eben Eustache deutlich als konzeptuelles Konstrukt offenbart. Die Kamera folgt den schleichenden, rennenden oder sitzenden Personen und man kann sich fragen, wer hier wen jagt. Eine der Fragen, die sich den ganzen Film über und bei Seidl prinzipiell stellt, ist: Was sind das für Menschen? Seidl transformiert diese Frage langsam in ein: Was sind Menschen? Um sich diesen Fragen weiter zu näheren, greift der Filmemacher wieder auf seine beliebte Methode der statischen Symmetrien zurück. Er setzt seine Protagonisten in seine Rahmen und gibt ihnen die zweifelhafte Chance, sich selbst zu erklären. Zweifelhaft, weil der Filmemacher durch sein Framing und sein Szenenbild bereits ein eigenes Argument macht. Wer würde in einem Seidl-Bild nicht ein wenig lächerlich rüberkommen? Außerdem ist diese Methode inzwischen eine Ästhetik, das Markenzeichen von Seidl und in sich wieder ein Klischee. Als würde ein Musiker in jedem Lied das gleiche Thema variieren. Insbesondere im Gegenüber mit den direkteren Szenen von der Pirsch, die eigentlich alles erzählen, was es zu erzählen gibt, wirken diese Bilder fehl am Platz. Es ist nicht so, dass sich aus diesen Szenen der Reflektion keinerlei Einsichten gewinnen ließen, sie wirken nur wie das abgenutzte Echo der Jagd selbst.

Auf der anderen Seite ermöglichen sie Seidl Themen wie das rassistisch-kolonialistische Denken und die selbstherrliche Dekadenz einer Branche anzuschneiden. Daraus entsteht ein allegorisches Bild, das nicht einzelne Figuren, sondern die gesamte Menschheit als verloren und einsam erscheinen lässt. Eigentlich gibt es bis zur famosen Schlusssequenz keinen wirklichen Augenblick der Reflexion, denn selbst beim Anblick der sterbenden Giraffe rührt sich scheinbar nichts in den Jägern. Erst am Ende gibt es einen neo-kolonialen Schuss in das Stück Mensch, ein Schuss der zeichnet, weil er zeigt, welche Haltungen sich hinter dem Offensichtlichen, hinter der Gleichgültigkeit und Ekstase des Jagdtourismus verbergen. Zwischengeschnitten werden die selbstherrlichen und doch erstaunlichen Aussagen eines Mannes der Branche mit auf Knochen nagenden Schwarzen, die sonst immer nur Nebenrollen haben. Sie sind die Scouts, sie dienen, sie bekommen die Essensreste und nehmen in blutigen, an Stan Brakhage und Georges Franju erinnernden Bildern die Tiere auseinander. Erschreckende Bilder einer rückwärts gewandten Welt. So offenbart "Safari" am Ende, dass es nicht bloß um Themenkino geht, sondern um eine Verzweiflung, eine Ohnmacht, in der die Dokumentation eine Fiktion geworden ist und die grausame Fiktion schon lange dokumentiert werden kann.

Patrick Holzapfel

Safari - Österreich 2016 - Regie: Ulrich Seidl - Laufzeit: 91 Minuten.

"Safari" läuft bislang nur in Österreich im Kino. Einen deutschen Starttermin gibt es noch nicht.