Im Kino

Natürlich Fado

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Fabian Tietke
01.02.2017. Aktueller, als einem lieb ist, fühlt sich "Hidden Figures" an, Theodore Melfis Biopic über drei schwarze Wissenschaftlerinnen, die in den 1960er Jahren bei der NASA Karriere machten. Nicolas Pesces Horrorfilm "The Eyes of My Mother" schert sich nicht darum, seine bizarre Welt mit der Normalität zu vermitteln.


Drei schwarze Frauen brettern in einer türkisen Limousine hinter einem Polizeiwagen her über die Landstraße. Kurz vor der Einfahrt zum NASA-Gelände in Hampton, Virginia, zieht der Polizeiwagen auf die Seite und winkt die türkise Limousine vorbei. Die drei Frauen fahren zur Arbeit. Drei schwarze Frauen, die an zentraler Stelle bei der NASA arbeiten. In den 1960er Jahren muss dieser Satz beinahe utopisch geklungen haben. Theodore Melfis "Hidden Figures", ein Biopic über die NASA-Pionierinnen Katherine Johnson, Mary Jackson und Dorothy Vaughan, lotet dieses utopische Potenzial aus und setzt es in Spannung zur Gegenwart, in der die Fortschritte der Bürgerbewegung, die im Civil Rights Act gesetzliche Gestalt angenommen haben, gesichert schienen.

"Hidden Figures" folgt dem Aufstieg der drei. Hinaus aus einem engen Büro, in dem die Gruppe schwarzer Frauen, die für die NASA Berechnungen anstellen, rassistisch segregiert untergebracht ist, hinein in hoch spezialisierte Arbeitsgruppen: Katherine Johnson wird als Mathematikerin in die neu gegründete Space Task Group versetzt, die unter dem Eindruck des Sputnikschocks 1958 gegründet wurde, um schnellstmöglich einen Amerikaner ins Weltall zu bringen. Mary Jackson arbeitet unter den Fittichen eines polnischen Ingenieurs, der den Holocaust überlebt hat, an der Raumkapsel, die den künftigen Astronauten ins Weltall und wieder zurück befördern soll. Trotz aller Widrigkeiten nimmt Jackson den Kampf auf, um die erste schwarze Ingenieurin der NASA zu werden. Dorothy Vaughan kämpft lange vergeblich darum, offiziell Vorgesetzte der Angestellten der West Area Computing Unit zu werden - bis sie beginnt, sich in ihrer Freizeit die nötigen Kenntnisse der Programmiersprache Fortran anzueignen, um den neuen raumfüllenden IBM-Rechner bedienen zu können.

"Hidden Figures" ist liberales populäres Hollywoodkino in seiner reinsten - und darin hoffentlich auch wirkungsvollsten - Form: eine geradlinig erzählte Emanzipationserzählung, verpackt in klassisch solide Filmästhetik bis hin zum Sepiaton der Kindheitserinnerungen von Johnson. Melfi und Drehbuchautorin Allison Schroeder, die die Geschichte aus einem Sachbuch von Margot Lee Shatterly kondensierte, zeigen Sinn für Details wie jenes, dass die Aufhebung der Segregation ausgerechnet an der Frage der Toilette aufbricht. Wegen der strengen Segregation muss Katherine Johnson mehrmals täglich von ihrem Arbeitsplatz aus über das ganze Gelände eilen. Als ihr Vorgesetzter Al Harrison (dessen Rolle weitgehend auf Robert R. Gilruth beruht) davon erfährt, trümmert er kurzentschlossen das Schild an der Toilette für schwarze Frauen von der Wand. Zeitersparnis als Wegbereiter der Emanzipation - wenn es bloß so einfach wäre.



Den Kampf der Bürgerrechtsbewegung verfolgen die drei vor allem abends zuhause mit ihren Familien vor dem Fernseher. Ein Angriff auf einen der Busse der Freedom Rides (mit denen die Bürgerrechtsbewegung gegen die Segregation in öffentlichen Bussen protestierten) illustriert die Brutalität, mit der sich die Bürgerrechtsbewegung konfrontiert sah. In der Gegenüberstellung des Arbeitsalltags der drei Frauen mit den medialen Bildern körperlicher Gewalt gelingt Melfi eine Miniatur über den drohenden Rückfall in eben jene Jahre vor der Einführung des Civil Rights Act von 1964, der freien Zugang zu Wahlen und ein Ende der rassistischen Strukturierung des Alltags bedeuten sollte.

Spätestens seit der Supreme Court 2013 einen zentralen Bestandteil des Voting Rights Acts kassierte - der Bundesstaaten, die bekannt dafür waren, schwarze Wähler gezielt von den Wahlen auszuschließen, verpflichtete, Änderungen an ihren Wahlgesetzen prüfen zu lassen - ist das Erbe der Bürgerrechtsbewegung auch offiziell in Gefahr. "Hidden Figures" reaktiviert die Utopie der 1960er Jahre auf ein Leben ohne Segregation, um die Vorstellung einer USA ohne Rassismus auch heute als utopisch auszuweisen. Die Besetzung der Rolle von Mary Jackson mit der Musikerin Janelle Monáe erweist sich dabei als geschickter Zug. Monáe ist seit der Veröffentlichung des ersten von inzwischen drei Alben, die sich dem utopischen Ort Metropolis (der seinerseits eine Hommage an die futuristische Stadt aus Fritz Langs Stummfilm ist) widmen, eine Ikone des popkulturellen Afrofuturismus (den Jochen Dreier und die Berliner Gruppe Africavenir einem deutschen Publikum nachdrücklich nahe gebracht haben).

Im Titelsong der ersten Metropolis-EP singt Monáe von einem Ort an dem die Beschränkungen der Erde nicht länger gelten: "Where there's no law / Tying my heart from the start. / Where there's no war, if my dreams run a little wild, / But if there's no call from joy control. / No call. / Please go with me. / Oh come with me. / I need you. / Let's leave. Let's leave." In der Geschichte der drei vergessenen schwarzen Frauen aus der Geschichte der NASA findet Melfi einen historischen Rahmen, um über die noch immer utopische Freiheit von den Bürden des Rassismus in der Gegenwart zu sprechen.

Fabian Tietke


Hidden Figures: Unerkannte Heldinnen - USA 2016 - Originaltitel: Hidden Figures - Regie: Theodore Melfi - Darsteller: Taraji P. Henson, Octavia Spencer, Janelle Monáe, Kevin Costner, Kirsten Dunst, Jim Parsons - Laufzeit: 127 Minuten.

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Eben noch streichelt die Mutter die Kuh, einen Moment später steht der abgeschnittene Kuhkopf auf dem Küchentisch und die Mutter beginnt, den Kadaver auseinanderzunehmen, um das optische System des Tieres freizulegen. "Wir haben früher an Kühen das Sezieren geübt", erklärt die Mutter, die, wenn sie spricht, immer wieder vom Englischen ins Portugiesische wechselt. "Hier benutzen sie Menschen dafür." Ihre Tochter, an die die Worte gerichtet sind, kann das alles nur staunend mitansehen, mit ihren eigenen großen Kinderaugen. Auch, als wenig später ein fremder Mann auftaucht (oder eher: in die Cinemascope-Komposition hineingestellt wird), erst nach der Toilette fragt, dann aber aus heiterem Himmel die Waffe zückt, bleibt dem Mädchen nichts weiter, als zuzusehen.

Nun geht es, an den synkopierten Rhythmus sollte man sich schnell gewöhnen, Schlag auf Schlag: Mutter tot, Vater kehrt zurück und schlägt Eindringling bewusstlos, Tochter füttert den in der Scheune angeketteten Eindringling mit Mäusen, die sie auf der Wiese gefangen und getötet hat. Die Übertragung ist gelungen, das Mädchen ist in die Welt, die sie umgibt, eingebaut worden und wird fortan mit den Augen der Mutter auf diese Welt blicken. Einen Zwischentitel später ist sie zur jungen, schönen Frau (Kika Magalhaes) herangewachsen und bald darauf macht sie sich auf die Suche nach etwas, das sie als Familie bezeichnen kann.



Wie das Mädchen die gemäß Alltagsnormen verrückten Gegebenheiten um sie herum als Welt akzeptieren muss, so muss man im Kino die Setzungen von "The Eyes of My Mother" akzeptieren: das aus der historischen Zeit und in gewisser Weise auch aus dem historischen Raum gefallene backwood-gothic-Amerika, in dem der Film spielt, die digitalen Dunkelheitspfützen der durchweg schwarz-weiß gehaltenen Bilder, die über den Tod hinaus wirksame Familienfixierung, die Fetischisierung von (mit Vorliebe ausgestochenen) Augen, die menschlichen Haustiere in der ihrerseits dunkel und fensterlos dräuenden Scheune, das Portugiesisch auf der Tonspur - das alles hat keinen soziologischen oder symbolischen Mehrwert, zumindest keinen, der außerhalb des Kopfs des Regisseurs Nicolas Pesce nachvollziehbar wäre. Das ist einfach die Welt dieses Films.

"The Eyes of My Mother" schert sich auch nicht darum, seine Idiosynkrasien mit der Normalität zu vermitteln. Ganz im Gegenteil: Wenn dem Film die Normalität doch einmal über den Weg läuft, macht er mir ihr kurzen Prozess. Die beiden Szenen, in denen das passiert, gehören zu den effektivsten, was vor allem an der tollen Hauptdarstellerin liegt. Kika Magalhaes' sonderbar schlafwandlerische Präsenz, halb krankhafte Fixation, halb naive Anmut, wirkt wie ein Sog, der der Situation unweigerlich die Normalität entzieht. Und irgendwann kracht es dann halt. Oder zumindest fast. Denn ein Gesetz der Welt von "The Eyes of My Mother", das man ebenfalls einfach akzeptieren muss, wenn man nicht draussen vor der Tür bleiben will, lautet: Gewalt ist zwar der Dreh- und Angelpunkt aller Existenz, aber sie selbst muss unsichtbar bleiben. Genauer gesagt muss sie gerade so unsichtbar bleiben. Knapp außerhalb des frames, oder auch unmittelbar nach dem noch eben rechtzeitig gesetzten Filmschnitt schlägt das Unheil zu. Einmal filmt die Kamera zwei Oberkörper, die sich umarmen. Im abgeschnittenen Off des Bildes wird die Umarmung zum Mord.

Der amerikanische Horrorfilm ist derzeit so lebendig wie seit den 1980er Jahren nicht mehr, vor allem dank kunstsinniger, atmosphärischer Indie-Erfolge wie "It Follows", "The Witch" oder auch dem rustikaleren "Green Room". "The Eyes of My Mother" ist zwar eine ganze Ecke verschrobener und eigensinniger geraten, fügt sich in diese Reihe aber dennoch schon deshalb, weil auch Pesces selbstbewusstes, alptraumhaft-entrücktes Regiedebüt einen spezifischen Retrostil kultiviert, der einerseits auf einer klassizistischen Formanstrengung beruht (die hier, wie auch in "The Witch", gelegentlich in Manierismus umzukippen droht), und der sich andererseits in einer konsequenten Technophobie äußert. Handwerkliche Sorgfalt und Vorliebe fürs Handgemachte gehen Hand in Hand. Handys sucht man im neuen amerikanischen Autorenhorrorfilm vergebens, Musik hört man, wenn überhaupt, per Plattenspieler. In "The Eyes of My Mother" wird natürlich Fado aufgelegt.

Lukas Foerster

The Eyes of My Mother - USA 2016 - Regie: Nicolas Pesce - Darsteller: Kika Magalhaes, Olivia Bond, Will Brill, Paul Nazak, Clara Wong, Flora Diaz - Laufzeit: 76 Minuten.