Im Kino

Zaghaft zucken die Finger

Die Filmkolumne. Von Katrin Doerksen, Janis El-Bira
30.03.2017. Rupert Sanders' Anime-Remake "Ghost in the Shell" mit Scarlett Johansson erkundet Körperlichkeit jenseits der Normierung. James Grays "Lost City of Z" ist Qualitätskino mit einer postkolonialen Perspektive im Handgepäck.


Zu Beginn von "Ghost in the Shell" verbinden sich tentakelartige Synapsen, ein durchscheinend synthetisches Skelett erhebt sich aus einem Bassin voll milchiger Flüssigkeit, Haut bildet sich aus, zaghaft zucken die Finger ein erstes Mal. Majors Geburt ist eine ziemlich exakte Kopie des Intros aus dem gleichnamigen 1995er Anime von Mamoru Oshii, der Vorlage für die aktuelle Hollywoodversion. Nur die Musik ist anders: nicht das von Kenji Kawai uminterpretierte Hochzeitslied in altjapanischer Sprache, eher ein elektronisches Summen und Flirren, an dessen Ende dann doch noch ein Chor entfernt an die Ursprünge erinnert.

Rupert Sanders, der zuvor Kristen Stewart als kriegerisches Schneewittchen in "Snow White and the Huntsman" inszenierte, hangelt sich mit "Ghost in the Shell" nah am Plot des Anime entlang, baut manchmal auch einzelne Einstellungen Oshiis komplett in seine cyberpunkige Metropole ein, in der kreischend bunte Neonhologramme zwischen den Wolkenkratzern dräuen: Majors Blick durchs Fenster auf die Stadt, später Major auf einem sanft schaukelnden Boot in der Bucht, verschwommene Lichter im Hintergrund. Major bildet in Gestalt Scarlett Johanssons das Verkaufsargument des Films und den Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit: ein menschlicher Geist - was immer das genau ist - in einer ganz und gar künstlichen Hülle. Selbst in einer zukünftigen Gesellschaft wie der Gezeigten, in der die Mehrheit der Gutverdiener ihre Körper mit Maschinenteilen auftunt, ist sie noch eine Besonderheit, die Erste ihrer Art.

Whitewashing lautet das Label, das "Ghost in the Shell" im Vorfeld aufgedrückt wurde - weil mit Scarlett Johansson eine weiße Amerikanerin eine Rolle spielt, die einen japanischen Namen trägt. Der Vorwurf ignoriert, dass auch Manga nicht zwangsläufig auf bestimmte Kulturen und Ethnien festgelegt sind. In Oshiis Anime-Klassiker ist selbst die Stadt fiktiv. Rupert Sanders streut Hinweise auf Hongkong - ein Umstand, der in einer Razzia-Sequenz die schaurige Ahnung eines gewaltsameren Endes der 2014er Umbrella Revolution heraufbeschwört. Die Major-Figur jedenfalls ist ein Cyborg, ihre Gestalt, ihre Identität, ihre Nationalität schon immer eine angenommene. Wenn überhaupt ihr menschlicher Kern, der Geist, sich mit einem irdischen Vorbild assoziieren lässt, dann mit einem Amalgam der großen Scarlett-Johansson-Rollen der letzten Jahre. Das Kämpferische der Black Widow, das Transzendentale aus "Lucy", die rätselhaft zerstörerische Macht aus "Under The Skin", auch das sich verloren fühlen aus "Lost in Translation".



Sanders' Version bedient sich neben dem animierten Vorbild auch bei anderen Versatzstücken aus dem "Ghost in the Shell"-Franchise, das unter anderem aus einem Manga und einer Fernsehserie besteht, außerdem greift sie typische Bildelemente des Japanhorrors auf. Tödliche Geisha-Roboter verrenken ihre Körper spinnenartig und kriechen an den Wänden hoch. Das Kabelgewirr eines tödlichen Netzwerks mutet wie ein Gebinde aus dickem schwarzem Haar an. Sanders überführt diese kulturell verortbaren Elemente in ihr globalisiertes, technisiertes Äquivalent: der verführerische Dämon wird zum Roboter, die Haare sind Kabel, traditionelle Shamisen-Klänge morphen sich zum puckernden Elektrosound - und bei Kopfschüssen spritzt kein Hirn mehr durch den Raum. Stattdessen fliegen Metallteilchen durch die Gegend.

Die Maschinen-Hybriden in "Ghost in the Shell" sind nach einem streng normierten menschlichen Idealbild geschaffen: schlank, athletisch, beweglich, hoch funktional, gewissermaßen übermenschlich. Gleichzeitig entsprechen ihre grundlegenden Bausätze Körperteilen, die sich nicht in erster Linie durch individuelle Merkmale auszeichnen, auch nicht direkt Schönheitsidealen unterworfen sind. Ein offener Schädel, statt aus Knochen aus ornamentalen Schrauben, Drähten, Kabeln, Linsen zusammengesetzt. Während einer Operation bei vollem Bewusstsein malt ein Gerät, heutigen 3D-Druckern nicht unähnlich, Muskelstränge aus blutrotem Gel über Majors künstliche innere Organe. Ein System, das Menschen als Kybernetik-Experimente betrachtet, bringt aber auch etwas hervor, das seine skrupelloseren Verfechter vielleicht "Ausschussware" nennen würden. Der Antagonist, im Anime noch eine als Puppet Master bezeichnete körperlose Intelligenz, manifestiert sich diesmal in Gestalt des Bösewichts Kuze (Michael Pitt): ein in seinen maschinellen Einzelteilen mehr schlecht als recht zusammengehaltener Hybrid, ein labiler Geist. "Freak" wird er einmal genannt.

Dass die deformierte, dysfunktionale, gar die gänzlich zerstörte menschenförmige Hülle in "Ghost in the Shell" - und der Film hat ein Faible für deformierte Leiber - nicht zwangsläufig das irreversible Ende eines Lebens bedeutet, gibt ihm nicht nur seinen unterschwelligen Videospielcharakter. Es verleiht ihm auch eine Körperlichkeit jenseits aller Normierung und moralischer Urteile. Vor ihren Kämpfen zieht Major sich komplett aus, erst frei von jeglicher textiler Restriktion kann die künstliche Hülle ihre volle Funktionalität entfalten und wird - ein entscheidender Vorteil - bei Bedarf transparent. Scham ist keine Kategorie, in der Major denkt: die Shell ist nicht gleichbedeutend mit ihrem Innersten, ihrem Intimsten. Wenn sie ausholt und Kraft ihrer Fäuste einen Terroristen in einer Wasserlache verdrischt, erhebt die Kamera sie aus der Untersicht, von herumfliegenden Tropfen umfunkelt, zu einer machtvollen Femme-Ikone. Kuze blickt sie staunend an: keine voyeuristische Lust an weiblichen Formen - sondern Bewunderung für Majors in jeder Hinsicht einzigartiges Wesen.

Katrin Doerksen

Ghost in the Shell - USA 2017 - Regie: Rupert Sanders - Darsteller: Scarlett Johansson, Pilou Asbæk, Takeshi Kitano, Juliette Binoche, Michael Pitt - Laufzeit: 106 Minuten

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Der Kartograf ist die unschuldige Vorhut des Imperialismus. Ein Theodolit allein ist keine Waffe, mit ihm kann niemand vertrieben, kein Boden seiner Schätze beraubt werden. Aber er stellt Vergleichbarkeit her, macht das Unverfügte überschaubar. Zumindest im kolonialen Zeitalter steht die Arbeit des Kartografen damit auf der Schwelle zwischen bloßer Welterschließung und Welteroberung.

Innerhalb dieses Kippbilds positioniert Regisseur James Gray den historischen Offizier, Entdecker und Kartografen Percy Fawcett in "Die versunkene Stadt Z" quasi am äußersten linken Rand. Fawcett, der im Auftrag der Royal Geographic Society Anfang des 20. Jahrhunderts mehrere Expeditionen ins Amazonasgebiet unternahm und von der letzten nicht zurückkehrte, ist bei ihm ein Indiana Jones mit humanistischem Blick. Naturgemäß leidet so einer am Distinktionstheater der britischen Gesellschaft, in der man mit jedem Orden an der Brust allenfalls stückchenweise die "unglückliche Wahl der eigenen Abstammung" ausgleichen kann. Deshalb muss Fawcett in den Dschungel. Nicht nur, weil es hier die höchsten Auszeichnungen und damit das meiste Ansehen zu gewinnen gibt, sondern weil im Angesicht der Wildnis alle Menschen zwar nicht gleich Brüder werden, aber doch wenigstens einigermaßen ähnlich aufgeschmissen sind. Kaum erwähnenswert, dass sich der fieseste Upper-Class-Snob unter Fawcetts Mitreisenden sogleich als verfressener Drückeberger entlarvt.

Fluchtpunkt der egalitären Hoffnungen Fawcetts ist in Grays Film die titelgebende Stadt Z. Fawcett wählt den Nicht-Namen stellvertretend für die Reste einer hochentwickelten, untergegangenen Zivilisation - das letzte Stück im Puzzle der Menschheitsgeschichte. Auf ihre Entdeckung zielt all sein Bemühen nicht zuletzt deshalb, weil sich dadurch die verhasste europäische Narration von Herr und Knecht, die Fawcett in ihrer genealogischen Konsequenz selbst betrifft, erschüttern ließe: Wo sich die "Wilden" als jene erweisen, die allein durch die Weißen um ihre Hochkultur gebracht worden sind, da kommen Verhältnisse ins Wanken, die man für gottgegeben hielt. Herrscher und Beherrschte werden zu historischen Konstrukten. Aber dafür muss Fawcett durchs Unterholz, jede Tonscherbe dreimal umdrehen und Fotos machen, auf denen die Menschen des Dschungels zurückblicken wie die letzten Vertriebenen des Garten Eden.



Damit schmuggelt Gray im Handgepäck seines eigentlich retrofixierten Abenteuervergnügens eine beinahe postkoloniale Perspektive über die Genregrenze. Das ist bemerkenswert für einen Film, der zumeist im vornehmen Geh-, in schwächeren Phasen auch mal im Schlafrock des Qualitätskinos unterwegs ist. Aber die manchmal ans Reizarme grenzende Milde seines Blicks entspricht einer inneren Haltung, insbesondere dort, wo die indigene Bevölkerung des Amazonasgebiets ins Bild tritt. Für Gray geben sie keinen Anlass zur Exotisierung, auch nicht für eine positive Stereotypie vom "edlen Wilden". Mit scheinbar zeitloser Präsenz erscheinen sie im hohen Gras und an den Ufern des endlosen Flusses, den Charlie Hunnam als Fawcett und ein sehr bärtiger Robert Pattinson als dessen Gefährte entlang rudern. Dass sie dabei, ob freundlich oder skeptisch gesinnt, uneinholbar Fremde bleiben, zählt zu den erinnernswerten Leistungen dieses Films.

Umso stärker wirkt das, weil die Europäer bei Gray nicht in den Dschungel ziehen müssen, um ins eigenes Herz der Finsternis vorzustoßen, sondern die Hölle direkt vor der Haustür haben. Während Fawcetts Heimatbesuchen in England erlebt man Raubtiere, die alle Gefahren des Dschungels locker übertreffen. Von der Herrenmenschenrhetorik der britischen Kolonialisten bis zur Selbstzerfleischung auf den blutgetränkten Schlachtfeldern an der Somme. Und auch Fawcetts Frau, die Siena Miller wie aus Porzellan, aber mit Dreck unter den Fingernägeln spielt, ringt vergeblich um Emanzipation. Als sie ihrem Mann in die neue Welt folgen will, verweist er sie nachdrücklich an Küche und Kindsbett. Am Ende, wenn Fawcett verschollen ist und seine Gattin zwischen Hoffen und Bangen in Einsamkeit zurückbleibt, rankt auch um sie ein Dschungel. Er ist von anderer, bürgerlicher Art - feindseliger und abweisender als jener, der ihren Mann verschluckt hat.

Janis El-Bira

The Lost City of Z - USA 2016 - Regie: James Gray - Darsteller: Charlie Hunnam, Robert Pattison, Sienna Miller, Tom Holland, Edward Ashley - Laufzeit: 141 Minuten.