Im Kino

Ein ständiges Piff und Poff

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
06.04.2017. Claudio Caligari braucht in "Tu nichts Böses" keine großen filmischen Gesten, um Ostia als eine ewige Vorhölle zu inszenieren. Ben Wheatley verirrt sich in "Free Fire" ein weiteres Mal im Dschungel des zynischen Zitatenkinos.


Der Film spielt in den 1990ern, aber das merkt man höchstens an der altmodischen Kommunikationstechnik, den etwas klobigen Autos und Plastikmusik der prolligeren Art; einmal schallt La Bouches "Be My Lover" aus seinem Autoradio. Die Feinheiten des Zeitgeists, die sind etwas für Leute mit Geld, genau wie die Mode. Abgehängt zu sein fühlt sich in allen Jahrzehnten ähnlich an. Das Ostia, in dem Vittorio (Alessandro Borghi) und Cesare (Luca Marinelli) herumhängen, hat etwas von einer ewigen Vorhölle. Nüchtern ist das kaum zu ertragen, gleich zu Beginn werfen sie Pillen ein, die erste Hälfte des Films sind beide ziemlich durchgängig high.

High sein heißt in "Tu nichts Böses": Weit aufgerissene Augen in hageren, angespannten Gesichtern, Körper, die zum Takt von Eurodancebeats konvulsivisch tanzen, unreife Jungs, die die Frauen um sie herum demütigen und die, wenn sie unter sich sind, am laufenden Band auf dumme Gedanken kommen. In Ostia sind nur miese Trips zu haben. Trotzdem meint Cesare, als er beim Fußballspielen plötzlich eine Spritze in der Hand stecken hat: Scheiß Junkies, die mache ich fertig. Es gibt immer jemand, dem es noch dreckiger geht.

Vittorio und Cesare leben in einer Welt mit engem Horizont. Wenn die örtlichen Mafiosi vor einer Bar herumlungern, dann erinnert das ein wenig an "The Sopranos", an die Szenen bei Satriale's. Nur, dass das alles in "Tu nichts Böses" noch einmal deutlich weniger glamourös ausschaut. Für Jungs wie Vittorio und Cesare gibt es nur zwei Optionen: Entweder mit den harten Typen der Nachbarschaft krumme Dinger drehen, oder als Ungelernte für wenig Geld Knochenjobs verrichten. Vittorio hat irgendwann die Schnauze voll von schlechten Drogen und einem kriminellen Milieu, das sich nicht einmal mehr die Mühe macht, eine verführerische Kulisse aufrecht zu erhalten; Cesare dagegen hat über seinem Bett immer noch eine mit karibisch anmutendem Sonnenuntergangskitsch bemalte Wandtapete wie direkt aus de Palmas "Scarface" hängen.



Eigentlich haben beide einen sehr bürgerlichen Begriff vom Glück, beide sehnen sich nach einem eigenen Dach über dem Kopf und einer Familie, die sie selbst versorgen können. Vittorio ist der pragmatischere, er sucht sich einen Job auf einer Baustelle und zieht bei einer Frau, die bereits ein Kind hat, ein. Cesare dagegen ist - mit seiner hinten ausrasierten halblangen Frisur, die sowohl wenn er die Haare offen fallen lässt, als auch wenn er sie zum Pferdeschwanz bindet, etwas Unbeholfenes, Lächerliches hat - ein labiler Romantiker, ein großes Kind; mit seiner Freundin Viviana bezieht er ein Abbruchhaus, in dem nur er selbst ein potentielles Märchenschloss erkennt.

Claudio Caligari verstarb 2015, kurz nachdem er "Tu nichts Böses", seinen dritten Langfilm in vier Jahrzehnten als Regisseur, vollenden konnte. Entstanden ist ein Alterswerk, dessen Stärke im understatement liegt, das niemand etwas beweisen will. "Tu nichts Böses" verweigert sich so ziemlich allen payoffs, die in der Geschichte angelegt sind - die paranoiden Höhen des Gangsterfilms kümmern Caligari genauso wenig wie die depressiven Tiefen des Drogenfilms; Caligari hat kein Interesse an Genredynamiken, aber es geht ihm auch nicht darum, ostentativ mit ihnen zu brechen. Dass die Erzählung nicht originell ist, ist unwichtig, weil sie nicht für sich selbst Wert hat, sondern nur als etwas, das Figuren mit sozialen Situationen konfrontiert, beziehungsweise Körper in Bewegung setzt. Jede Szene ist gleich wichtig.

"Tu nichts Böses" ist ein Film, der keine großen filmischen Gesten benötigt, um seine Welt zu etablieren, sondern der lieber die großartig ausgewählten Originalschauplätze für sich selbst sprechen lässt: nichtasphaltierte Straßen vor baufälligen Häusern, verdreckte Sandstrände, die sich freilich jederzeit zu malerischen Meerespanoramen weiten können, ausgebleichte Steinmauern. Eine der schönsten Szenen spielt in einem fast schon klaustrophobisch engen Club, in dem Vittorio und Cesare gemeinsam abstürzen. In einer langen Einstellung filmt Caligari die beiden, wie sie zugedröhnt zu Boden stürzen, sich zunächst verprügeln, dann Arm in Arm an der Theke lehnen; über ihnen, fahl leuchtend, ein rötliches Neonlicht.

Lukas Foerster

Non essere cattivo - Tu nichts Böses - Italien 2015 - Regie: Claudio Caligari - Darsteller: Luca Marinelli, Alessandro Borghi, Silvia D'Amico, Roberta Matteil, Alessandro Bernardini - 100 Minuten.

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"Lutsch mal dran" - und bäm, fällt aus der Pistole der erste Schuss. In "Taxi Driver" sagt das Robert de Niro zu Harvey Keitel, der einen schmierigen Hippie-Pimp spielt - danach bricht die Hölle los. In Ben Wheatleys "Free Fire" darf Spruch samt Schuss nun umgekehrt ein Hippie von sich geben, der über Hut und Frisur zumindest als kleiner Bruder von Harvey Keitels Figur durchgehen könnte. Die Hölle bricht auch hier los.

Den Spielort dieser Hölle stellt eine arg ruinöse Fabrikhalle im abgeschieden gelegenen Hafen von Boston im Jahr 1978. Hier soll, fernab von Stadt und Polizei, ein Waffendeal unter schweren Jungs über die Bühnen gehen. Die Typen wirken allesamt wie aus einem Vintage 70s Bilderbuch geschnitten, die Stimmung ist fiebrig-nervös, keine Partei will übervorteilt werden. Dass sich hier auf engstem Raum und unter angespannten Bedingungen ein ganzer Haufen menschlicher Defizite und Abgründe bewegt, macht die Sache nicht geschmeidiger. Der erste Schuss fällt, dann ist der Schüsse kaum ein Ende mehr. Wie rauskommen aus diesem abrissreifen Trümmer-Areal, in dem hinter jedem Winkel ein Gegner mit Pistole lauert?

Nochmal die 70er also. Bereits letztes Jahr hatte sich der britische Regisseur Ben Wheatley mit seiner Ballard-Verfilmung "High-Rise" tief in eine Welt aus Cord, Plüsch, eng sitzenden Hosen, Haifischkrägen und Koteletten aus Zement vergraben. Wo "High-Rise" allerdings breitbeinig-aufgeblasen zahlreiche Retro-Kunstfilm-Marker verteilte und sich etwas verkrampft in eine Traditionslinie mit Filmemachern wie Stanley Kubrick oder Ken Russell und deren Versuche, ekstatische Deliranz mit einem Autorenfilm-Gestus zu vermählen, stellte, orientiert sich "Free Fire" eher am anderen Ende des Spektrums, am miesen Action- und Grindhousekracher, der mit Kunst von vornherein nichts am Hut haben will. Beide Filme, der Hochhaus-Film "High-Rise" und der Fabrikhallen-Film "Free Fire", spielen auf überschaubarem Terrain - doch wo "High-Rise" vertikal eskalieren durfte, bleibt "Free Fire" horizontal konzentriert: Nach wenigen Minuten sind wir drin in der Halle und da kommen wir so schnell nicht mehr raus - Einheit von Zeit und Raum.



Geblieben ist der Krampf. Coole Klamotten, coole Sprüche, coole Gewalt, coole Zitate: Die de Niro/Keitel-Allusion wurde bereits erwähnt, Babou Ceesay erzielt im zitronengelben Anzug die Spitzenposition im Curtis-Mayfield-Lookalike-Contest und das Fabrikhallensetting erinnert an Walter Hills minimalistisch-karges Actionmeisterwerk "Driver", das in dem Jahr gedreht wurde, in dem "Free Fire" spielen soll. Viel mehr als ein sonderbar verspäteter Nachzügler zu einem tarantino-epigonalen Kino, das in den späten 90ern seinen Höhepunkt in einigen Filmen von Guy Ritchie fand, ist dabei allerdings nicht herausgekommen. Auch der alte Gag, grindige Gewaltexzesse mit dem Einsatz kontraintuitiv-süßlicher Musik eine zynisch-ironische Kante zu verleihen, findet Anwendung. Was Martin Scorsese, der als Produzent seinen Namen für die Credits hergibt, einst meisterlich als Stilmittel erschloss, verkommt in "Free Fire" zu dumpfbackig-altbackener LOL-Attitüde, wie überhaupt der Film zu seinen derben Gewaltdarstellungen ein wenig reflektiertes Verhältnis unterhält: Wenn sich einer die Hände schwarzledern verkokelt oder ein herrenloser Van über einen Schädel rollt, dann ist das zwar denkbar drastisch in Szene gesetzt, aber nicht ohne die Opfer dieser Gewalt dem Gejohle des Publikums preiszugeben.

Vielleicht taugt der Film aber als Actionreißer? Leider kaum. In Interviews beteuert Wheatley zwar, wie wichtig ihm räumliche Kontinuität gewesen sei. Angeblich habe er den Ablauf des spielfilmlangen Shoot-Outs sogar mit Spielzeugsoldaten in einem Miniaturmodell geplant. Auf der Leinwand ist davon wenig zu bemerken: Orientierung stellt sich selten ein, zahlreiche Sequenzen wirken erratisch und beliebig. Das ständige Piff und Poff geht einem in diesem Kuddelmuddel neben den beknackten Sprüchen ("So sieht also Gehirn aus") bald auf die Nerven. Immerhin: Die Bildtextur billiger 70s-Filme kriegt der Film mit seinen schön satten Schwarztönen, angenehmen Kontrasten und sogar einer leichten Körnigkeit ganz gut zu fassen.

Bis hinein ins stylishe 70s-Artwork der Werbematerialien wäre "Free Fire" gerne eine Art kleines Kult-Movie der späten 10er Jahre. Für diese Einschätzung verteilt Wheatley großzügig Anreize. Das verleiht dem Film neben den Klamotten, Typen und Frisuren etwas Karnevaleskes. Solchen Kokolores hätten sich der junge Scorsese, der junge Walter Hill nicht gestattet. Darin liegt der Unterschied zwischen einem erwachsenen No-Nonsense-Kino und infantiler Zitateparade.

Thomas Groh

Free Fire - GB 2016 - Regie: Ben Wheatley - Darsteller: Enzo Clienti, Sam Riley, Michael Smiley, Brie Larson, Cillian Murphy - Laufzeit: 90 Minuten.