Im Kino

Verwegener Herrscher der Gegenwelt

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Sebastian Markt
03.05.2017. Morgen beginnt im Berliner Arsenal eine Reihe zum Werk des Argentiniers Matías Piñeiro. Zum Auftakt läuft der unaufgeregt berührende Film "Hermia & Helena". Maßlos aus Prinzip ist Shunji Iwais neues Meisterwerk "A Bride for Rip van Winkle", in dem sich eine junge Frau in ein Märchenschloss hineinwehen lässt.


Die Wege zweier Flugzeuge kreuzen sich am Himmel hinter einem blühenden Baum, dann überblenden Großaufnahmen von Blüten, während auf der Tonspur ein Trommeln einsetzt. Man sieht zwei Hände, die in einer Feuerschale eine Postkarte mit Blütenmotiv in Brand setzen. Dann vollzieht die Kamera einen langen Schwenk und wechselt dabei mehrmals die Richtung, hoch von den Händen über den Rand eines Balkons, über einen Park (aus dem das Trommeln kommt), während die Frau, deren Hände zuerst zu sehen waren, nun im Off ein Telefongespräch beginnt, dessen Gegenüber wenig später, im Fokus der Kamera, am Fuße des Balkons, am Rand des Parks zum Stehen kommt, während noch weiter gesprochen wird. Es geht um Aufbruch und Abschied, und um ein Geschenk als Andenken, das die Frau aber vergessen hat. Der Blick geht indes wieder hoch, zeigt zum ersten Mal die Frau, auf dem Balkon stehend und schwenkt dann nochmal über sie hinweg, in die Skyline von Manhattan.

Diese Sequenz, die erste in Matías Piñeiros aktuellstem Film "Hermia & Helena", ist durchaus charakteristisch für das Werk des jungen argentinischen Regisseurs und für seine Zusammenarbeit mit dem Kameramann Fernando Lockett - darin wie aus kleinen, unspektakulären Gesten in flüssigen Bewegungen ein vielschichtiges Gefüge zusammengesetzt wird.

Die Frau auf dem Balkon ist Carmen (María Villar), die eben einen Aufenthalt als Stipendiatin an einem namenlos bleibenden New Yorker Kunstinstitut beendet. Ihr wird Camila (Agustina Muñoz) nachfolgen, eine Theaterregisseurin und Freundin aus Studienzeiten in Buenos Aires, die in New York an einer spanischsprachigen Übersetzung von Shakespeares "Sommernachtstraum" arbeiten soll. Die Erzählung des Films springt im weiteren Verlauf zwischen den Orten und Zeiten, zwischen Situationen und Begegnungen, zwischen Camilas Leben in New York und dem Tag ihrer Abreise aus Buenos Aires, den sie mit ihrem Freund und Carmen verbringt.

"Hermia & Helena" ist bereits die vierte Arbeit Piñeiros in einer losen Serie von Filmen, die sich auf Shakespearsche Komödien, vor allem auf deren weibliche Figuren beziehen. Die Filme behandeln die Stücke dabei nicht als Vorlage sondern als Ausgangspunkte, greifen einzelne Figuren heraus und wandeln sie ab, lassen sich von Motiven und Versen anstecken, fragmentieren und rearrangieren. In "Hermia & Helena" findet sich ein Bild, das dieses Verhältnis zum Ausdruck bringen mag, wenn Camila einzelne Seiten aus einer Taschenbuchausgabe von "A Midsummer Night's Dream" löst, sie in ihr eigenes Journal einklebt und kommentiert, übermalt und beschreibt.



Piñeiros jüngste Arbeit ist der erste seiner Filme, der teilweise außerhalb Argentiniens spielt, er folgt auf einen eigenen Aufenthalt als Stipendiat in und anschließenden Umzug nach New York, und er führt langjährige und wiederkehrende Kollaborateur*innen (Villar und Muñoz etwa gehören zum Stammpersonal von Piñeiros Filmen) mit Regisseur*innen der New Yorker Filmwelt zusammen, die kleinere und größere Auftritte haben: Regisseure wie Dan Sallitt und Dustin Guy Defa, den immer wieder bei Alex Ross Perry zu sehenden Schauspieler Keith Paulson, aber auch die Claire-Denis-Darstellerin und Filmemacherin Mati Diop.

Piñeiro hat sich zum Meister seiner ganz eigenen kleinen Form entwickelt. So wie viele Protagonist*innen des neuen argentinischen Kinos an der Universidad del Cine ausgebildet, dreht er seit etwa einem Jahrzehnt in schöner Beständigkeit Filme, zumeist in steter Zusammenarbeit mit Freund*innen und Weggefährten, auf niedrigem Niveau und patchwork-artig finanziert aus Fördermitteln des Weltkinofestivalzirkus, Preisgeldern und Zuschüssen. Wie auch "Hermia & Helena" spielen sie häufig in einem bohemistischen Universum (das wohl seiner eigenen Umgebung nicht unverwandt ist), mit reichen intertextuellen Bezügen. Dass Piñeiro dabei weitere gesellschaftliche Bezüge oft außer Acht lässt, ist weniger das Resultat einer apolitischen Insularität als einer Fokussierung, die eine komplexe Welt aus filmischen Verdichtungen und Überlagerungen entstehen lässt.

Momente von Begegnungen und Übertragungen auch bei Camila: zwischen einem zurückgelassenen Freund, einem alten und neuen Liebhaber, einer mysteriösen Freundin von Carmen, deren Ankunft in New York sich über eine Reihe von Postkarten aus immer näher gelegen Bundesstaaten ankündigt, und dem losen Ende einer Familiengeschichte.

Innerhalb der zu kammerspielartigen Momenten gerafften Erzählung gelingt es Piñeiro immer wieder, die Textur des Films eindrucksvoll zu verdichten, in einem in seiner Schlichtheit tollen Bild von Camilas Leben im Übergang etwa: schlafend im Bett, überblendet mit der englischen Schrift einer Passage aus dem Sommernachtstraum, während man den spanischen Dialog dazu hört; oder in einem Film im Film, der "Camila" betitelt ist, von ihrem Liebhaber stammt, und aus Found-Footage-Stummfilmmaterial und Fragmenten von Daphne du Mauriers "Rebecca" zu einer filmischen Postkarte montiert ist.

Im Geflecht von Korrespondenzen legt die auf unprätentiöse Art zeitlich verschachtelte Erzählung langsam Zusammenhänge frei, die immer genauere Umrisse von Camilas Ortlosigkeit und Verortungsversuchen erkennen lassen und mündet schließlich in einer dicht, behutsam unaufgeregt und berührend erzählten Begegnung, die mehr als das vielleicht erhoffte Ankommen, doch eher ein neuer Aufbruch ist.

Sebastian Markt

Hermia & Helena - USA, Argentinien 2016 - Regie: Matías Piñeiro - Darsteller: Agustina Muñoz, María Villar, Mati Diop, Keith Poulson, Julián Larquier Tellarini, Dustin Guy Defa, Dan Sallitt - Laufzeit: 86 Minuten.

"Hermia & Helena" ist am Donnerstag, 4. Mai, um 20 Uhr im Kino Arsenal zu sehen, als Eröffnungsfilm einer Retrospektive der Filme Piñeiros, die noch bis zum 13. Mai fortgesetzt wird.

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Der Film ist ihr offensichtlich von der ersten Minute an verfallen, und man selbst kann kaum anders, als ihr alsbald ebenfalls zu verfallen, atemlos ihr immer bizarreres Schicksal zu verfolgen; aber ganz am Anfang von "A Bride for Rip van Winkle" kann einem Nanami (Haru Kuroki), die Hauptfigur, schon ein bisschen auf die Nerven gehen in ihrer naiven Passivität, ihrer Opferlammhaftigkeit. Wie sich die Aushilfslehrerin von ihren noch nicht einmal besonders garstigen Schülern ohne jede Gegenwehr schikanieren und anschließend von ihrem Chef feuern lässt, wie sie beim gemeinsamen Abendessen verschämt zu ihrer mondäneren Freundin aufblickt, und ganz besonders wie sie sich widerstandslos ihrem Ehe- und Hausfrauenschicksal ergibt. Das setzt sich auch nach der Eheschließung fort: kein fremder Mann, dem Nanami nicht die Tür öffnen, kein noch so fadenscheiniges Angebot, auf das sich Nanami nicht einlassen würde. Fast möchte man sie rütteln und anschreien, damit sie endlich aufwacht, aber dafür ist sie viel zu zerbrechlich. Ihre blasse Haut ist so dünn, dass an den Schläfen Blutgefäße durchschimmern.

Nanamis Leben ist zunächst eine einzige Lebensvermeidungsmaßname. Wenn sie doch einmal Initiative zeigt, dann nur aus Scham. Im Zweitjob als Verkäuferin trägt sie ein Brillengestell auf der Nase, damit ihre Schüler sie nicht erkennen. Und damit die Familie ihres Bräutigams nicht erfährt, wie jämmerlich klein ihre Verwandtschaft ist, nimmt sie zu einer mysteriösen Firma Kontakt auf, die professionelle Hochzeitsgäste vermittelt. Es passt zur eigensinnigen Form von Ironie, die Shunji Iwais Film kultiviert, dass es dieser Akt der Verstellung aus Feigheit ist, der Nanami aus ihrem selbsterrichteten Gefängnis befreit. Auf Umwegen - denn erst einmal wird geheiratet, Gäste sind genug zur Hand.

"A Bride for Rip van Winkle" ist ein Film über zwei Welten, die beide bis ins Innerste von Fiktionen geprägt sind, aber auf ganz unterschiedliche Art. In der einen, bürgerlichen, wird Fiktion mobilisiert, um den Schein von Normalität zu wahren. In der anderen, der antibürgerlichen Gegenwelt, in die sich Nanami genauso antriebslos hereinwehen lässt wie vorher in die Ehe, sind die Fiktionen offensichtliche, barock sprudelnde Hirngespinste - und dabei deutlich durchsichtiger auf die knallharte Ökonomie, die sich unter ihnen verbirgt (aber für die sich der Film nur sehr gelegentlich interessiert; zum Glück - es sollte viel mehr Filme geben, die sich die Freiheit nehmen, sich nicht für Ökonomie zu interessieren).



Es ist nun keineswegs so, dass Nanami durch die großen, wilden Fiktionen der zweiten Welt von den kleinen, klaustrophobischen Fiktionen der ersten erlöst wird. "A Bride for Rip van Winkle" ist weder Bildungsroman noch Emanzipationserzählung, eher geht es um bizarre Spiegelverhältnisse und um eine Registerverschiebung ins Traum- und Märchenartige. Auch in der zweiten Welt heiratet Nanami - eine energiegeladene Pornodarstellerin mit breitem Lächeln und offenem Gesicht namens Mashiro (Cocco). Die Hochzeitszeremonie der beiden ist auf regelrecht euphorische Weise fiktiv, aber sie geht fast unmittelbar in eine sehr reale Beerdigung über. Dass Mashiro die gleichzeitig fiktivste und wahrhaftigste Figur des Films ist, heißt nicht, dass es an ihr irgend etwas zu idealisieren gibt. (Die Probe aufs Exempel macht kurz vor Schluss eine urkomische Nacktszene - die aus heiterem Himmel in "A Bride for Rip van Winkle" einbricht und trotzdem kein bisschen fehl am Platz ist in einem Film, der stets dazu bereit ist, sich von sich selbst überraschen zu lassen.)

Die Differenz zwischen den beiden Welten bekommt man nicht so recht auf einen Begriff. Klar ist nur, dass Iwai deutlich mehr an der zweiten interessiert ist. Der bürgerliche Ehemann samt Terrorfamilie ist schnell vergessen, die Dynamik zwischen Nanami und Mashiro ist weitaus erquickender, nicht zuletzt, weil es noch einen dritten im Bunde gibt: Amuro (Gō Ayano) ist der verwegene Herrscher der Gegenwelt, man kann ihn mit gleichem Recht als einen zynischen Unternehmer betrachten, der zwischenmenschliche Beziehungen auf Geschäftsideen abklopft, oder als eine moderne Fee, die immer wie aus dem Nichts auftaucht, wenn Nanami nicht mehr weiter weiß. (Und wieder nimmt Iwai sich die Freiheit heraus, sich fast durchweg für die zweite Option zu entscheiden).

Shunji Iwai hat 2001 mit "All About Lily Chou-Chou" den ultimativen Film über Jungsein als permanenter Ausnahmezustand gedreht, und auch sonst ist fast jeder Film ein Volltreffer. Dass sein Name dennoch kaum einmal genannt wird, wenn es um die Großmeister des Gegenwartskinos geht, dürfte zum einen damit zusammenhängen, dass er als ein Mädchenregisseur gilt (als wäre das nicht eines der größtmöglichen Komplimente); und zum anderen damit, dass er sich nicht darum kümmert, fein säuberlich abgezirkelte Spanbrettkunst zu fabrizieren. Seine Filme suchen nicht das ästhetische Äquilibrium, den harmonischen Gleichklang von Form und Inhalt, schon gar nicht verschreiben sie sich der Festivalsprödigkeit. Iwai ist maßlos aus Prinzip, von ganzem Herzen Kinomaximalist - nur, dass sein vorrangiges Interesse nicht der Eroberung der äußeren Welt, sondern der Exploration der Innerlichkeit fragiler Individuen gilt. Hemmungen kennt er dabei keine: Sein vermutlich unterschätztester Film "Vampire" verschreibt sich mit Haut und Haaren der jugendlichen Todessehnsucht.



Auch der in einem wenigstens etwas helleren Register angelegte "A Bride for Rip van Winkle" ist ein zwar unglaublich stylischer, aber deshalb noch längst kein wohltemperierter Film. Die flirrend agile Kamera rotiert, wenn ihr danach ist, nicht nur ein-, sondern zwei-, drei-, viermal durch ein Wohnzimmer, Figuren kippen bisweilen mitten in einer Szene in die Unschärfe weg, die Tonübergänge sind gelegentlich absichtsvoll unsauber geschnitten, sodass Straßenlärm abrupt in intime Innenszenen hineinkracht. Iwai ist ein Regisseur, der so gut ist, dass er es sich leisten kann, zwischendurch auch einmal komplett auf den guten Geschmack zu pfeifen; der es sich zum Beispiel leisten kann, seine Nanami mit zwei Koffern beladen zur vermeintlich totgefilmtesten Melodie der Filmgeschichte (Bachs 3. Orchestersuite) durch die Tokyoter Peripherie wanken zu lassen, als sei sie auf dem Weg zur Kreuzigung.

Nach diesem Passionsweg nimmt der Film noch einmal eine völlig neue Wendung. Amuro geleitet Nanami in eine Art Märchenschloss, das von giftigen Tiere (und von Mashiro) bewohnt wird. Das mit viel Verve aufgezogene Verwirr- und Maskenspiel, das "A Bride for Rip van Winkle" vorher fast eine ganze Spielfilmlaufzeit lang gewesen war, verläuft sich hier, im Schloss, zwischen Quallen, Skorpionen, ausladenden Treppen, farbenprächtiger Wanddekoration und großzügig verteilten Polstermöbeln, die zum Liebesspiel einladen, zwar nicht direkt im Sand, wird aber auch nie komplett aufgeklärt. Am Ende kann man sich die Geschichte auf drei, vier unterschiedliche Arten zusammenreimen, alle sind einigermaßen gleich unplausibel - aber das spielt längst keine Rolle mehr. Nichts ist wie es scheint, jeder spielt jedem etwas vor - aber das ist nicht der Punkt, zumindest nicht der entscheidende.

Wichtig ist nicht der Inhalt, sondern die Form der Verschwörung. Oder vielleicht nicht einmal die Form, sondern die Textur. Wichtig ist, dass irgendwo unter dem Alltag, in dem wir alle vor uns hin sumpfen, Kräfte lauern, die weltverschlingende Melodramen entfesseln können. Die Spuren dieser Kräfte macht Iwai in den digitalen Oberflächen der Gegenwart ausfindig, in den sozialen Netzwerken vor allem, in denen sich Identitäten mit noch nie dagewesener Leichtigkeit verflüssigen lassen. Auch deshalb ist "A Bride for Rip van Winkle" ein Film, der einen die Welt mit anderen Augen sehen lässt: Die sonderbaren neuen Zeichen, die uns seit ein paar Jahren umgeben, auf immer neuen und immer mehr Bildschirmen, sind weder Symptome der Entfremdung, noch einfach nur funktionale Kommunikationsmittel; sondern Elemente einer grundlegend neuen Sprache, die wir noch gar nicht so recht entziffern können. Aber vielleicht ist das gar nicht so schlimm: Es geht schließlich weniger darum, dass sie zu uns spricht, als darum, dass sie uns spricht, ob wir es wollen oder nicht.

Lukas Foerster

A Bride for Rip van Winkle - Japan 2016 - OT: Rippu Van Winkuru no hanayome - Regie: Shunji Iwai - Darsteller: Haru Kuroki, Cocco, Gō Ayano, Gō Jibiki, Sōkō Wada - Laufzeit: 179 Minuten.

"A Bride for Rip Van Winkle" war auf dem Ginmaku Japanese Film Festival Zürich zu sehen. Ein deutscher Kinostart ist leider noch nicht in Sicht.