Im Kino

Jung, hübsch, weiblich, global

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Katrin Doerksen
05.07.2017. Bong Joon-ho hat seinen Film über das Riesenschwein "Okja" für Netflix produziert. Das sorgte für Streit in Cannes. Dabei hat der Film mehr als nur einen subversiven Unterton. Bavo Defurnes "Souvenir" erzählt die Geschichte der Sängerin, die beim Grand Prix Eurovision einst auf Platz 2 hinter Abba landete, und sagt ja zur Liebe.


Zur Parade in New York City, die das erfolgreiche Superschwein-Experiment krönen soll, erscheint Lucy (Tilda Swinton), Chefin des Multimilliardenkonzerns Mirando Corporation, in einem schweinchenrosa Babydollkleid, inspiriert vom Hanbok, einer Tracht mit weitem, direkt unter der Brust gebundenem Rock. Ein Wink in Richtung Korea, das den Gewinner des weltweiten Wettbewerbs um das größte Superschwein hervorgebracht hat. Eine PR-Entscheidung, die sagt: "Wir sind ein globaler Konzern im besten Sinne - modern, inklusiv, kulturell gebildet, ästhetisch versiert." In gewisser Weise ist das ein besonders perfider Fall von cultural appropriation. Eine reiche Weiße beutet fremde Traditionen zum eigenen geldwerten Vorteil aus (und wird dabei passenderweise von einer Schauspielerin verkörpert, die kürzlich für "Doctor Strange" Whitewashing-Vorwürfen ausgesetzt war). In der Mode hat diese Diskussion ja gerade Konjunktur, ob nun Marc Jacobs Models mit pinken Rastas über den Laufsteg schickt oder Gucci eine Hommage an Dapper Dan kredenzt.
 
Im Fall Nancy Mirando träfen die Vorwürfe durchaus die Richtige. Ursprünglich stammt das rosa Kleid aber aus der Chanel Resort-Schau 2016, die für ihre Entwürfe aus einem reichen Fundus koreanischer Modetraditionen schöpfte. Weil Karl Lagerfeld mit seiner Entscheidung, die Schau in Seoul zu zeigen, einen asiatischen Modestandort unterstütze, blieb der backlash aus. Einheimische Models und Gäste saßen in der ersten Reihe, die Kleider waren von genuin koreanischen, bis ins Detail recherchierten Einflüssen durchwirkt. In Lucys rosa Kostüm spiegeln sich Sinn und Unsinn der Debatte um cultural appropriation, in der vor lauter reflexhafter Empörung oft die Frage nach dem eigentlich Problem zu kurz kommt: ob tatsächlich ein Ausbeutungsverhältnis besteht oder nicht.
 


Im Fall "Okja" scheint das Drumherum manchmal präsenter zu sein als der Film selbst. Als der Film im Wettbewerb von Cannes zu sehen war, fiel er für den Jurypräsidenten Pedro Almodóvar als Preiskandidat von vornherein durch, weil er von Netflix produziert wurde. Andere vertraten kategorisch die Gegenseite, wiesen darauf hin, dass es abseits der Streaminganbieter kaum noch möglich sei, Filme wie "Okja" zu finanzieren. Bong Joon-ho selbst verteidigte Netflix mit dem Verweis auf die hundertprozentige künstlerische Freiheit bei seiner Arbeit. Ausgerechnet unter diesen Bedingungen hat der Regisseur seinen auf den ersten Blick konventionellsten Film gedreht: Die Geschichte des koreanischen Mädchens Mija (Ahn Seo-Hyeon) und seines riesenhaften Haustieres, die in ihren melodramatischen und abenteuerlichen Momenten an das perfekt inszenierte Affektkino von James Cameron und Steven Spielberg erinnert. Oder an die märchenhafte Welt der Ghibli-Filme - wenn Mija zu Beginn in einem urwüchsigen Wald seelenruhig auf dem Bauch ihres Superschweins schläft, sieht Okja aus wie eine realistisch animierte Verwandte von Totoro.

Tatsächlich ist Okja aber ein vom agrarchemischen Konzern Mirando Corporation im Reagenzglas zusammengebrautes Wesen, das auf einem hoffnungslos überbevölkerten, von Lebensmittelknappheit geplagten Planeten die Fleischgelüste der Menschen bedienen soll. Eine Handvoll Jungtiere wurde an Bauern auf der ganzen Welt verteilt, um pünktlich zum Produktionsstart des Superpig Jerky (Lucy: "It's fucking tasty!") medienwirksam das am prächtigsten geratene Schwein zu küren. Alles bio und regional, greenwashing wie es im Buche steht. Davon weiß nur die Waise Mija nichts, die bei ihrem Großvater in den Bergen jenseits von Seoul aufgewachsen ist, und in Okja ihren besten und einzigen Freund sieht. Als ein schriller Doktor in Gestalt Jake Gyllenhaals auftaucht, um das Superschwein zur Parade nach New York City zu holen, macht sich Mija auf, das Tier zu retten. Ob sie mit einem gezielten Sprung eine dicke Plexiglaswand zum Bersten bringt, ob sie auf Okja durch einen Autobahntunnel reitet oder mit dem panischen Schwein durch eine unterirdische Shoppingmall wetzt - die Verfolgungsjagd ist für die große Leinwand gemacht.
 


In Cannes müssen ab dem kommenden Jahr alle Wettbewerbsfilme einen französischen Kinostart erhalten. Wobei es genau genommen wohl schon reicht, den Film nur in ein einziges Kino zu bringen. Je länger man darüber nachdenkt, desto mehr mutet die Sache mit "Okja" wie ein Kuhhandel an: finanzielle Mittel und künstlerische Freiheit zum Preis der essentiellen Kinoerfahrung. Bong Joon-ho scheint diesen Kuhhandel im subversiven Unterton seines Films zum Thema zu machen. Eine Gruppe schwarz Vermummter schaltet sich in Mijas Rettungsaktion ein: Aktivisten der ALF - Animal Liberation Front -, die unter Leitung des Anzug tragenden Jay (Paul Dano) Tiere aus Schlachthäusern retten, die Fleischproduktion sabotieren, skandalöse Zustände aufdecken. In ihnen spiegelt der Film ein Ideal linken Protests: Gewalt, die sich möglichst nur gegen Objekte und nicht gegen Menschen richtet. Aber die ALF scheitert auch unentwegt an ihren eigenen Ansprüchen. Man verrennt sich bis zur Selbstaufgabe in fixen Ideen (ein Aktivist möchte zum Zweck des kleinstmöglichen ökologischen Fußabdruck gar nichts mehr essen), findet in Grundsatzfragen keinen Konsens. Und manchmal ist man gezwungen, den Kuhhandel mitzumachen: Der Plan der ALF sieht vor, Okja ausgestattet mit einer versteckten Kamera den geheimen Tierversuchslaboren der Mirando Corporation zu überlassen, um mit den später veröffentlichten Skandalaufnahmen tausende Schweineleben zu retten. Okja als Avantgarde im ursprünglichen Wortsinn, als unfreiwillige Märtyrerin im Versuchslabor direkt aus der Hölle. Den potentiellen Geldgebern vor Netflix waren gerade diese Szenen, in denen uns dämmert, wie wenig sich das System um das intelligente, liebenswerte Individuum schert, das uns zuvor so sehr ans Herz gewachsen ist, ein Dorn im Auge.
 
Ein System, das in Tilda Swintons Doppelrolle als evil twin Lucy und obviously evil twin Nancy (die zweite Konzernchefin ohne Social-Media-Ausbildung) sein Gesicht findet. Für Lucy ist es völlig selbstverständlich, dass das sture koreanische Mädchen, das ihren Superschwein-Siegeszug durcheinanderbringt, nach außen hin als Kollaborateurin präsentiert werden muss. Eigentlich kommt das sogar ganz gelegen, denn: "Sie ist jung, hübsch, weiblich, global." Alles Labels politischer Korrektheit, die beim modernen Konsumenten für Zustimmung sorgen. Auf dass er guten Gewissens in sein Superpig Jerky beiße und niemals mitbekommt, was hinter verschlossenen Türen vor sich geht: "Solange es billig ist, werden sie es essen." In Cannes changierten die Reaktionen auf "Okja" zwischen Buhrufen bei Aufscheinen des Netflix-Logos und kräftigem Applaus zum Schluss. Im Film läuft persönliche Freiheit am Ende auf eine einzige Wahl hinaus: entweder man nimmt am kapitalistischen Würfeltisch Platz; oder man tut das eben nicht, muss dann aber mit den Konsequenzen leben.
 
Katrin Doerksen
 
Okja - Südkorea, USA 2017 - Regie: Bong Joon-ho - Darsteller: Ahn Seo-Hyun, Tilda Swinton, Giancarlo Esposito, Jake Gyllenhaal, Byun Hee-Bong, Paul Dano - Laufzeit: 118 Minuten.
 
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Laura wurde vergessen. Nicht einmal für 1000 Euro erinnern sich die ZuschauerInnen einer Quizsendung, die sie auf ihrem Fernseher sieht, der wie die restliche Einrichtung ihrer Wohnung geschmackvoll, aber doch aus der Zeit gefallen, wie ein Relikt lange vergangener Tage wirkt, wer die Sängerin war, die einst, vor 30 Jahren, beim Grand Prix Eurovision de la Chanson hinter ABBA den zweiten Platz belegte. Nun arbeitet Laura, die eigentlich Liliane (Isabelle Huppert) heißt, in einer Pastetenfabrik, vollführt beständig die immer gleichen Handgriffe, deren Monotonie von der Montage, in den immer gleichen Einstellungsabfolgen gebührend trist ausgestellt wird. Abends sitzt sie in ihrer Wohnung und beschließt den Tag mit Schnaps und Zigaretten.
 
Doch die Entfremdung von sich selbst und kapitalistischen Lohnarbeitsverhältnissen ist nicht das Thema von "Souvenir", wie der Film im Original wesentlich weniger kitschig heißt, sie bildet lediglich den Ausgangspunkt für das melodramatische Märchen, um das es dem Regisseur Bavo Derfune, der auch am Drehbuch mitschrieb, geht. Auftritt: der Märchenprinz (Kévin Azaïs), Jean heißt er und ist ein Kollege Lilianes, der erst einmal nicht viel machen muss außer sich an Laura erinnern, die die Geschichte am Fließband vergessen hat - und das obwohl er mit seinen zarten 22 Jahren noch längst nicht geboren war, als Liliane/Laura ihre fünfzehn Minuten Ruhm zuteil wurden. Er kennt den Song, mit dem sie damals auftrat, weiß noch, dass sein Vater, sehr zum Missfallen seiner Mutter, immer heimlich verliebt war in die, wie er es nannte, "rassige Schönheit".



Zu dem Märchenhaften zählt auch, dass die Handlung in der jüngeren Vergangenheit angesiedelt ist, was sich dadurch errechnen lässt, dass der Film 30 Jahre nach dem ABBA-Triumph beim ESC spielt, der 1974 stattfand. Es war einmal im Jahre 2004.

Der Film nimmt sich viel Zeit, um aus den beiden ein Paar werden zu lassen. Dabei ist es letztlich sie, die ihn verführt. Überhaupt ist da ein Ungleichgewicht. Sie ist ihm in jeder Hinsicht überlegen, was schon in der Besetzung zum Ausdruck kommt: Auf der einen Seite die große Diva des transgressiven Films, die mit einer Art Ruhe, über den Dingen schwebend spielt, die klar macht, dass sie niemandem mehr etwas beweisen muss. Auf der anderen Seite der junge Schauspieler, dessen Minenspiel sich in einem durchaus charmanten, die Oberlippe hochziehenden Lächeln erschöpft, einer Geste, die von Neugier auf die Welt, manchmal auch von Begehren zeugt. Jeans angestrebte Boxerkarriere verläuft beim entscheidenden Kamp gegen einen Regionalmeister im Sand, was der Film in einer schmerzhaft kurzen, genau drei Einstellungen dauernden Szene schildert, die zeigt, wie er im Ring zu Boden geht. Er beschließt umzusatteln, Lilianes Manager zu werden, doch auch hier offenbart sich, dass die Diva keinen Mann braucht, um die Herzen des Publikums im Sturm zu erobern, allenfalls bedarf es einer Finanzspritze durch ihren einstigen Manager und Ehemann, was Jean mächtig eifersüchtig macht.
 


Die Gratwanderung, die dem Film mit Bravour gelingt, besteht darin, dass er den derart in die zweite Reihe versetzten Protagonisten in keiner Szene bloßstellt, oder sich gar über ihn lustig macht, dass er ihn vielmehr bedingungslos ernst nimmt in seiner Situation. Mindestens in einer Szene, in der die beiden gemeinsam in der Badewanne sitzen, gibt er die Ahnung von einer Beziehung auf Augenhöhe, allem Ungleichgewicht zum Trotz.
 
Im letzten Drittel, dem großen Finale, überantwortet sich der Film, der schon vorher nicht frei von allerlei Irrungen und Wirrungen war, ganz dem Exzess. Die beiden trennen sich und finden wieder zueinander, sie betritt buchstäblich sturzbesoffen die Bühne, und feiert nebenbei einen neuerlichen Triumph, mithilfe der einprägsamen Dialogzeile "Je dis dui", die auch die KinozuschauerInnen noch eine ganz Weile als Ohrwurm begleitet; es gelingt ihr, nicht nur das Publikum vor Ort, sondern die ganze Nation vor ihren Fernsehgeräten zu einer Masse von JasagerInnen zu machen, wobei der Zwischenschnitt auf die Jungs mit Bierflaschen in der Boxhalle an der Bar, die das "Je dis dui" mitintonieren, besonders positiv auffällt. "Ja" sagt denn auch der Film. Ja zu Märchen und Eskapismus. Ja zum melodramatischen Exzess. Ja zur Liebe. Schön.   
 
Nicolai Bühnemann
 
Ein Chanson für dich (Souvenir) - Frankreich 2016 - Regie: Bavo Defurne - Darsteller: Isabelle Huppert, Kévin Azaïs, Johan Leysen, Muriel Bersy, Fanny Blanchard - Darsteller: 90 Minuten.