Im Kino

Verstörende Ruhe

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Michael Kienzl
30.08.2017. Die Tsai Ming-Liang-Retrospektive im Berliner Arsenal ermöglicht es unter anderem, "Vive l'Amour" wiederzuentdecken - einen Film über Liebe als die notwendige Utopie des Großstadtlebens. Als würdeloses Alterswerk entpuppt sich dagegen Taylor Hackfords de Niro-Vehikel "The Comedian".


Irgendwo stand einmal, dass Tsai Ming Liang den 1994 entstandenen "Vive l'amour" ursrprünglich optimistisch enden lassen wollte. Das Finale sollte im neu gebauten Daan Forest Park spielen, der in etwa Taipeis Antwort auf den Central Park ist. Weil dort aber noch gebaut wurde und nur eine trostlose Matschlandschaft zu sehen war, änderte der Regisseur spontan seinen Plan. Im fertigen Film sieht man nun, wie die Protagonistin inmitten dieses Trümmerfeldes sitzt und bitterlich weint; und zwar minutenlang. Zwar fängt sie sich nach einer Weile wieder, zündet sich eine Zigarette an und atmet tief durch, aber schon im nächsten Augenblick wird sie wieder von ihren Gefühlen überwältigt. Es ist ein besonderer Moment - nicht nur, weil sich darin die im Film angestaute Frustration endlich entlädt, sondern auch weil in dem absurden Schauspiel ein schwarzer Humor steckt, der schon zuvor immer wieder aufgeblitzt ist. Man sollte aus der Kombination Titel, niederschmetterndes Ende und Komik jedoch nicht den Schluss ziehen, dass "Vive l'amour" ein zynischer Film ist. Dass die Liebe hochleben soll, ist hier vielleicht trotzig, aber durchaus ernst gemeint. Wenn sie in ihrer idealen Form eine Utopie bleiben muss, dann immerhin eine, für die es sich zu kämpfen lohnt. Wobei Kämpfen für Tsais apathische Figuren schon wieder zuviel gesagt wäre. Ihre Stärke besteht eher darin, zu erdulden, ohne zu kapitulieren.

"Vive l'amour" erzählt von drei Menschen - der Immobilienmaklerin May Lin (Yang Kuei-Mei), dem Herumtreiber und Straßenverkäufer Ah Jung (Chen Chao-Jung) sowie Hsiao Kang (Lee Kang-Sheng), einem selbstmordgefährdeten Vertreter für Urnengräber. Jeder von ihnen besitzt aus unterschiedlichen Gründen einen Schlüssel desselben leerstehenden Luxusappartments und jeden von ihnen treibt es immer wieder aus verschiedenen Beweggründen dorthin. Obwohl Tsai auch von der Kälte der Großstadt und der Einsamkeit ihrer Bewohner erzählt, dient ihm die Wohnung nicht bloß dazu, soziale Probleme zu entlarven. Sie ist mit ihren schwarzen, noch etwas Eighties-mäßigen Badfliesen und ihren goldenen Bettstangen nicht unbedingt schön, aber doch ein magischer Ort, der für seine Besucher vieles sein kann: eine Oase der Ruhe etwa, in die man sich zurückziehen kann, ein Platz, an dem man sich das Leben nimmt oder auch die Liebe findet und ein Experimentierfeld, auf dem sich unbekümmert mit sexuellen Identitäten spielen lässt, während man sich in der Welt da draußen brav dem gesellschaftlichen Erwartungsdruck beugt. In dieser seltsam unheimeligen Wohnung - die anderen Schauplätze sind noch schlimmer, nämlich fast ausschließlich unpersönliche Durchgangsorte - kreuzen sich zwar mitunter die Wege der Protagonisten und zweimal bahnt sich sogar fast so etwas wie eine Liebesgeschichte an, aber für all das scheint sich der Film weniger zu interessieren als für die Autonomie seiner Figuren.



Dass "Vive l'amour" niemals zynisch wirkt, hat auch damit zu tun, dass Tsai dafür zu sehr die Nähe seiner Figuren sucht. Das mag etwas missverständlich klingen, weil sich die Arbeiten des Regisseurs - seine neueren noch stärker als frühe wie "Vive l'amour" - nicht lange damit aufhalten, irgendetwas zu erklären. Häufig sind sie sogar bewusst redundant, sträuben sich beharrlich gegen eine herkömmliche Story-Entwicklung und fordern den Zuschauer stattdessen mit Momenten des totalen Stillstands heraus. Oft sind es sehr alltägliche, für die Geschichte scheinbar völlig unbedeutende Handlungen, die Tsai genüsslich in die Länge zieht. So paradox es ist, dass es die Menschen ausgerechnet in einer dicht besiedelten Großstadt nicht auf die Reihe bekommen, emotionale Beziehungen zueinander aufzubauen, so entschieden setzt Tsai der urbanen Hektik, die sich nur hin und wieder in die Bilder schleicht, eine verstörende Ruhe entgegen. Immer wieder entschleunigt er den Rhythmus, ermöglicht es dadurch, genauer und damit anders auf scheinbar Banales zu blicken. Wenn es am Schluss tatsächlich so etwas wie eine bewegende - wenn auch einseitige - Liebesszene gibt, ist das letztlich nicht weniger spektakulär, als die Einstellungen, die den Figuren beim Baden, Essen oder auch einfach nur Herumliegen zuschauen.

Doch noch einmal zurück zur Nähe. Als May Lin und Ah Jung in einer frühen Szene miteinander Sex haben, weicht sie seinen Küssen beharrlich aus, nur um im nächsten Augenblick ausgiebig an seinen Brustwarzen zu saugen. Ohne das gleich pathologisieren zu müssen, zeigt uns der Film, dass ein Unterschied zwischen körperlicher und emotionaler Nähe existiert. So gibt es im Film auch viele Großaufnahmen von Gesichtern, jedoch ohne, dass wir einfach so in ihnen lesen können. Nähe ist hier auch nicht im Sinne eines psychologischen Realismus zu verstehen. Denn statt sich dem Zuschauer zu offenbaren, bleiben die Figuren bei sich; gefangen in ihren einstudierten Alltagsritualen und seelischen Zwickmühlen, von denen wir bestenfalls eine Ahnung bekommen. Tsai schaut seinen Schauspielern gerne zu - nicht, damit sie ihr Handwerk angeberisch nach Außen tragen, sondern damit sie einen Zustand absoluter Konzentration erreichen. Vielleicht ist es gerade die Liebe Tsais zu seinen Schauspielern - zu Lee Kang-Sheng verbindet den Regisseur eine enge, bis heute andauernde Lebens- und Arbeitsbeziehung -, die wirklich wahrhaftig ist. Er ist so fasziniert von ihnen, dass er sich nicht an ihnen sattsehen kann. Vor allem aber lässt er sich auf sie ein, anstatt sie besitzen oder formen zu wollen.

"Vive l'amour" hat wenig Vertrauen in die Sprache, funktioniert mehr über Blicke und Gesten, als über die meist inhaltslosen Dialoge. Man könnte auch sagen, dass Tsai mehr am Prozesshaften, Ungreifbaren interessiert ist als am Endgültigen und Konkreten. So widmet er sich mehr der Bewegung selbst, als der Frage, wohin sie führt. Im Grunde genommen besteht der Großteil des Films daraus, dass sich die Figuren verpassen; mal in einer eleganten Choreographie im öffentlichen Raum, dann wieder tollpatschig wie in einer Stummfilmkomödie. Vielleicht ist "Vive l'amour" am Ende sogar ein Plädoyer für das Single-Dasein. Denn die Begegnungen selbst bringen keine Erfüllung, sondern vergrößern nur den Hunger nach mehr. Die reine Annäherung ist dagegen das wirklich Interessante, weil sie etwas Schwebendes hat und noch eine Vielzahl an Möglichkeiten in sich trägt - nicht zuletzt auch die Hoffnung, doch noch die eigene Sehnsucht zu stillen.

Michael Kienzl

Vive l'Amour - Taiwan 1994 - Originaltitel: Ai qing wan sui - Darsteller: Lee Kang-Sheng, Chen Chao-Jung, Yang Kuei-Mei - Laufzeit: 118 Minuten.

Das Berliner Kino Arsenal zeigt "Vive l'amour" am 2.09. Und am 20.09. im Rahmen einer Retrospektive der Filme Tsai Ming-Liangs. Die Reihe, die alle Langfilme des Regisseurs umfasst und beinahe durchweg mit 35mm-Kopien bestritten wird, beginnt bereits am 01.09. mit einer Vorführung von Tsais Erstlingswerk "Rebels of the Neon God" und wird bis zum 30.09. Fortgesetzt. Hier findet sich ein Überblick über das Programm.


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Und dann darf sich Robert de Niro auch noch über den Zynismus des Reality TV empören. Das ist die Szene, in der der gute Wille, den ich "The Comedian" zunächst durchaus entgegengebracht habe, endgültig aufgebraucht ist. In ihr moderiert de Niros Figur Jackie - ein alternder Komiker, der einst durch die Hauptrolle in einer altmodischen Sitcom zum Star wurde, sich inzwischen aber gezwungen sieht, jeden Job, der sich ihm anbietet, anzunehmen - eine Gameshow, in der ein armer Tropf halbnackt ausgezogen und mit beißwütigen Krebsen überschüttet wird. Jackie spielt das Spiel erst mit, aber als er den blutüberströmten Kandidat aus dem Studio herauskomplimentieren muss, platzt ihm die Hutschnur, und er setzt zu einem Rant wider das entwürdigende Fernsehformat an. Den Job ist er natürlich sofort los.

Dafür erntet der Rant bald jede Menge Klicks auf Youtube. Und so hat der Film doch wieder zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Er hat gezeigt, dass seine Hauptfigur nicht nur moralisch integer ist, sondern außerdem von allen geliebt wird! Sogar von den Kids auf Youtube! Und da die Hauptfigur nur eine recht lustlos zusammengehauene Hülle für den weltberühmten Hauptdarsteller ist, kann man das übersetzen in: Robert de Niro 2 - Rest der Welt 0. Das ist überhaupt die Basis des Films: Selten habe ich ein Starvehikel gesehen, das so verzweifelt um Anerkennung und Streicheleinheiten für seinen Star bettelt. Manchmal ist das fast schon rührend, meist leider einfach nur genauso unbeholfen wie die hilflos ranschmeißerische Art, in der der old-media-Veteran Taylor Hackford die "Neuen Medien" in den Handlungsverlauf zu integrieren versucht.



Insbesondere zeigt sich das daran, dass immer wieder die erhoffte Publikumsreaktion in den Film hineinkopiert wird. Soll heißen: Es reicht nicht, dass "The Comedian" (leider sehr zu Unrecht) behauptet, Jackie sei ein lustiger Komiker - es muss auch wieder und wieder gezeigt werden, wie sich die Leute regelrecht wegschmeißen vor Lachen ob der wenig originell entlang altbekannter gender- und ethno-Klischees konstruierten Stand-Up-Insult-Routinen, die de Niro mit viel Energie aber kaum Gespür für Timing und Modulation vorträgt. Diese Lach-Reaction Shots haben im Film ein solches Gewicht, dass sie Hackfords ansonsten solide, in einigen schön fotografierten New-York-Außenszenen sogar ziemlich geschmeidige Regie immer wieder aus der Bahn werfen. Auch, dass gleich mehrmals im Verlauf der weitgehend überaschungsfrei heruntergespulten Handlung Jackie-Videos "viral gehen", passt ins Schema eines Films, der manchmal wie ein schmieriger Gebrauchtwagenhändler wirkt, der einem mit aller Macht einen vermeintlichen Ladenhüter aufschwatzen will (und dabei liebe ich de Niro, auch den alternden de Niro, natürlich sowieso - das erst macht die Sache so unangenehm).

Wie bereits angedeutet sind die Stand-Up-Szenen, die offensichtlich das Herzstück des Films sein sollen, weitgehend unkomisch. Das liegt nicht nur daran, dass sie nicht allzu gut geschrieben sind ("I looked up 'Hicksville' on Wikipedia. It said 'inbreeding" and 'crystal meth'. So why don't you change your name to something more pleasant like 'Somalia'?".) Sondern es hat auch damit zu tun, dass Stand-Up gerade von dem bis zu einem gewissen Grad unbarmherzigen Blick lebt, den die Performer auf ihr Leben werfen (siehe etwa Tig Notaro: "Hello, I have cancer. How are You?"). "The Comedian" dagegen federt die Härten nicht nur ab, sondern betreibt fleißig Überkompensation. Damit auch ja kein Zweifel daran besteht, dass Jackie einigen nicht ganz glücklichen Karriereentscheidungen zum Trotz ein toller Hecht ist, darf er erst einem vulgären Heckler das Nasenbein brechen und dann mit einer charmanten jüngeren Frau (Leslie Mann) schlafen. Außerdem lauern hinter jeder Ecke Cameo-Auftritte, die manchmal halbwegs originell sind (Veronika Ferres, wie wir dank Werner Herzog wissen: "die beste Schauspielerin, die wir haben"), aber auf die Dauer auch etwas desperate wirken: Da schaut her, jetzt kommt Danny de Vito, Harvey Keitel hat sogar eine große Rolle, Charles Grodin, Edie Falco und Billy Crystal sind auch da, überhaupt sind sie alle da, wenn de Niro anruft hebt einfach jeder ab.

"The Comedian" hätte ein schöner Film über den Wert von Würdelosigkeit im Alter werden können. Leider reicht es nur zu einem würdelosen Alterswerk.

Lukas Foerster

The Comedian - USA 2016 - Regie: Taylor Hackford - Darsteller: Robert de Niro, Leslie Mann, Harvey Keitel, Edie Falco, Danny deVito, Charles Grodin, Billy Crystal, Veronika Ferres - Laufzeit: 120 Minuten.