Im Kino

Dekadenter Modernismus

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Michael Kienzl
04.10.2017. Denis Villeneuves "Blade Runner 2049" erweist sich als ambitionierter Autoren-Blockbuster und lädt zum Ertasten und Erkunden seiner Welt ein. Christopher Smith reizt in seinem Teenie-Film-Noir "Detour" charmant die Grenzen des Möglichen aus.


Androiden träumen, nein, nicht von elektrischen Schafen, sondern von hölzernen Pferden. Zumindest tut dies der Replikant K (Ryan Gosling), womit noch kein Clou verraten ist - den Status von Ryan Goslings Figur erfährt man in den allerersten Minuten. In Kinderjahren will er demnach vor bösen Jungs in eine Fabrik geflohen sein, wo er sein Lieblingsspielzeug, das hölzerne Pferd, in einem stillgelegten Ofen vor dem Zugriff seiner Häscher rettet. Sicher, das weiß auch er: Diese Episode ist nur eine Implantation, ein Simulakrum - eine nostalgische Reminiszenz als Erinnerungsprothese, die der Psyche des künstlichen Menschen Halt geben soll. Unklar, von wem und ob sie je erlebt wurde. Sehnsüchtige Spur eines Lebens, das man nie erlebt, nie gelebt hat. Und die liebevolle Aufladung eines verloren gegangenen haptischen Objekts in einer dystopischen, post-apokalyptischen Welt, die aus nichts als Geröll besteht, in der sich kaum mehr etwas findet, in das Liebe zu investieren sich lohnen würde, während Sehnsucht und Begehren komplett ans Virtuelle delegiert wurden: Wenn K von der Arbeit nach Hause kommt, umgarnt ihn die holografische Projektion einer Frau, die mütterliche Fürsorgerin, liebende Ehefrau, erotisches Lustobjekt und beste Freundin in einem ist. Eine perfekte Männerfantasie, ein perfektes Produkt, der perfekte Algorithmus - der aber womöglich seinerseits ins Materielle drängt, von einem authentischen Begehren angetrieben. Wer weiß das schon - zumal in einer Welt, in der nach den Maßgaben des Turing-Tests Mensch und künstliches Wesen nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind?

K ist ein Blade Runner, also das, was Harrison Ford im ersten Teil der nunmehr zum Franchise aufgefalteten Saga gewesen war: Er macht Hatz auf seinesgleichen, auf künstliche Menschen. Doch der Erzählkosmos von "Blade Runner" hat sich seit 1982, als Ridley Scott seine (sehr freie) Verfilmung von Philip K. Dicks "Träumen Androiden von elektrischen Schafen?" in die Kinos brachte, beziehungsweise seit dem Jahr 2019, in dem diese Adaption spielte, weiter entwickelt: Das Klima ist endgültig kollabiert, die Menschheit wird künstlich ernährt und sucht ihr Heil im All. Ein als "Blackout" bezeichnetes Ereignis hat die gesamten elektronischen Datenbestände der Menschheit in den Orkus befördert. Die Replikanten vom Typus Nexus 8 haben blutig rebelliert, was ein langjähriges Verbot des Baus künstlicher Menschen zur Folge hatte. Erst mit dem Typus Nexus 9 - zu dem auch K zählt - wurde der künstliche Mensch rehabiltiert: Nexus 9 ist bis zur Selbstaufopferung loyal und seelenlos, Rebellion nicht vorgesehen. Man braucht die Arbeitskraft dieser perfekten Sklaven, um unwirtliche Planeten zu erschließen und urbar zu machen.



Und um die letzten verbliebenen Replikanten vom Typ Nexus 8, die am Leben hängen und sich unter die Menschen gemischt haben, zu liquidieren. So wie K das macht, der im Zuge einer vorsichtig schleichenden Subjektwerdung den Namen Joe annimmt - K, Joe, Joe K, Josef K. Jemand musste diesen Joe K verleumdet haben. Vielleicht hat dieser jemand ihm aber auch nur eingeredet, dass seine Fantasien, Träume und Erinnerungen künstlicher Natur sind. Jedenfalls führt ein "Skin Job" Joe K auf die Spur einer größeren Geschichte, die viele Gewissheiten in Frage stellt. Eine Spur, die ihn bis weit jenseits der Tore von Greater Los Angeles treibt, hinaus in die Wüste des Realen, wo er in einem heruntergekommenen Hotel, das wie ein Museum des 20. Jahrhunderts wirkt, auf Rick Deckard (Harrison Ford) trifft. Warum, wieso und was das alles mit dem Ursprung künstlicher Erinnerungen zu tun hat, dies alles nicht zu verraten, hat Regisseur Denis Villeneuve die Presse mit einer eingeblendeten Botschaft bei der Pressevorführung gebeten. Sein Wille geschehe.

Sein Wille geschieht ja ohnehin fortlaufend: Die Karriere des franko-kanadischen Regisseurs zählt zu den beeindruckenderen, konsequenteren, die sich in den letzten Jahren beobachten ließen. Von der relativen Peripherie des kanadischen Kinos aus erarbeitete er sich mit ambitionierten Arthouse-Genrefilmen eine künstlerische Stellung, die ihn im Trump-Jahr 2016 schließlich mit "Arrival" bis ins Metier des Autoren-Blockbusters gebracht hat - eine rar gewordene Position zwischen hohem Budget und gestalterischer Hoheit, die er mit "Blade Runner 2049" nun konsequent ausbaut: Die Strategie Nolan sozusagen, benannt nach dem britischen Regisseur Christopher Nolan, der ganz ähnlich vorgegangen ist und mittlerweile offenbar über einen eigenen Zugang zu den Bankkontos von Warner Bros. verfügt. Bei Villeneuve zeichnet sich Ähnliches ab.



Denn bei "Blade Runner 2049" hätte man viel falsch machen können, hätte man den Bedenkenträgern aus der Buchhaltung zu viel Mitspracherecht beigemessen: Noch einen Fanservice-Film, der im schwelgerischen "Das gab's nur einmal, jetzt kommt es wieder"-Modus die Nostalgie der Thirty/Forty-Somethings anzapft, hätte kein Mensch gebraucht. "Blade Runner 2049" besticht demgegenüber durch behutsame Arbeit am Material: Die Vorlage wird aufgegriffen und weitergedacht, das bestehende Erzähluniversum schlüssig fortgesetzt und aufgefächert. Vor allem aber erweist sich Denis Villeneuves Sensibilität in Sachen Rauminszenierung und Atmosphäre im Sinne der faszinierenden "Blade Runner"-Welt als fruchtbar: "Blade Runner 2049" ist eine sagenhaft schön gestaltete, vollgemüllte Ruinenwelt, die in Umkehr zu Ks künstlichen Erinnerungen eine nostalgische Sehnsucht nach einem Weltuntergang bedient, der noch nicht stattgefunden hat. Oder der Film suhlt sich geradezu coffeetablebook-artig in Interieurs, die man als dekadenten Modernismus bezeichnen könnte.

Das Schöne: Die Bilder bleiben stehen, der Film lädt ausgiebig zum Ertasten und Erkunden dieser Welt ein und steht damit bemerkenswert quer zur gängigen Blockbuster-Ästhetik - bis an die Grenze zur Verweigerung gegenüber dem Publikum. Ähnlich wie Scotts Film aus den frühen 80ern erzählt Villeneuves Film eher unterkonturiert und gestattet auf das große Szenario nur beiläufige Blicke. Dazu dröhnt es mitunter ziemlich maschinengewaltig (Musik: Hans Zimmer), oft schmurgelt, zirpt, schlurppt und glitcht es aber auch einfach nur in irgendeiner der hinteren Verästelungen der komplex montierten Tonspur - die Spur zum ikonischen Vangelis-Soundtrack des ersten Teils legt dabei dieser eine charakteristisch sehnende, fast brüchige Ton, der seinerzeit in die urban-dekadente, von allseitigem Verfall geprägte Welt geführt hatte.

1982 war der Ausblick auf eine Zukunft, deren Gegenwart mit nichts als Vergangenheit vollgestellt ist, ohne Perspektive auf einen neuen Morgen, noch eine wohlig die Nerven kitzelnde Science-Fiction-Spekulation. Heute, im Jahr 2017, ist zumindest diese Fantasie unangenehm nah gerückt. "Blade Runner 2049" vertieft diesen Gedanken, indem er immer wieder auch das aufruft, was in unserer Gegenwart bereits als Verlust betrauert wird: die Entertainmentkultur von Frank Sinatra und Elvis Presley etwa, die beide - letzterer im Zusammenhang eines spektakulären Spiegelkabinett-artigen Duells - holografisch auftauchen, oder der Prunk edler 20th-Century-Klassik, wie sie sich in Rick Deckards Hotel-Behausung als Anhäufung entsorgten Materials darstellt. Diese Welt, in der künstliche von echten Menschen kaum mehr zu unterscheiden sind, in der die Dingwelt depressiv macht, Liebe nurmehr in der Virtualität sich entfaltet und sich nackte Hologramm-Sexarbeiterinnen als überlebensgroße Orakel entpuppen, in der die Algorithmen selbst ins Leben und Dasein drängen und künstliche Erinnerungen zum Greifen nahe kommen, diese Welt sucht Erlösung vom Albdruck der Vergangenheit. Der ständige Regen weicht dem Schnee. Der macht alles weiß. Und neu.

Thomas Groh


Blade Runner 2049 - USA 2017 - Regie: Denis Villeneuve - Darsteller: Ryan Gosling, Dave Bautista, Robin Wright, Jared Leto, Mackenzie Davis - Laufzeit: 163 Minuten.

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Wenn jedes Leben aus einer Vielzahl an Entscheidungen besteht, wird durch unsere soziale Herkunft bereits eine Vorauswahl getroffen. Der unscheinbare Jurastudent Harper (Tye Sheridan) scheint sich etwa kaum Sorgen um seinen weiteren Werdegang machen zu müssen. Mit seiner gelben Lederjacke und der angedeuteten Tolle bedient er zwar eine Ikonografie des Verwegenen, ist im Grunde genommen aber der Inbegriff eines preppy boy; ein Sohn reicher Eltern, für den der materielle Wohlstand nie in Frage gestellt wurde. Dass seine Mutter im Koma liegt und sein Stiefvater sich lieber um die neue Geliebte kümmert, ist ein Dilemma, das sich vorerst nur hinter dieser Fassade abspielt. Als Harper sich an seinem Stiefvater rächen will, wird das Problem outgesourced. Um sich die Finger selbst nicht schmutzig zu machen, bietet er dem Kleinkriminellen Johnny (Emory Cohen) Geld dafür. Und als der am nächsten Tag mit seiner Freundin Cherry (Bel Powley) vor der Tür steht, zählt auch nicht mehr, dass Harper das angeblich alles nicht so gemeint hat.

Der britische Regisseur Christopher Smith ("Creep", "Severance") setzt in dem Thriller "Detour" (deutscher Titel, warum auch immer: "To Kill a Man - Kein Weg zurück") auf starke gesellschaftliche Kontraste, lässt sie aber auch schnell wieder verblassen. So steht zwar zunächst das Aufeinandertreffen von steriler Wohlstandsidylle und zwielichtigem Verbrechermilieu im Vordergrund, doch die Grenzen dazwischen verwischen zunehmend. Während es für Johnny und Cherry ohnehin nicht mehr viel schlimmer kommen kann, gefährdet Harper seine privilegierte Position, indem er eine falsche Entscheidung nach der anderen trifft. Immer wieder zeigt Smith, wie sehr sich die Figuren in einem Spannungsfeld aus äußeren Voraussetzungen und individuellem Einfluss bewegen. Wenn Johnny etwa von einem schwarzen Polizisten misshandelt wird, wirkt das in diesem trotz seines Gangstersettings wenig aufschneiderisch daherkommendem Film weniger wie eine politisch unkorrekte Provokation als wie ein weiteres Beispiel für die Fragilität der Machtverhältnisse.

Ähnlich wie sich Stigmatisierungen und Privilegien auf der Handlungsebene verschieben, nähern sich auch die beiden Milieus einander an, vermittelt durch die Kamera von Christopher Ross. Die verspiegelte Villa von Harpers Eltern sieht nicht weniger stylish aus als ein schäbiger, von rosafarbenem Licht illuminierter Strip-Club. Wenn der Film sich gerne in Momenten verliert, in denen die Kamera elegant Räume abtastet und dicke Beats auf der Tonspur wummern, steckt dahinter mehr als eine reine Diktatur des coolen Looks. Vielmehr scheint uns diese visuellen Annäherung der Gegensätze schon darauf vorzubereiten, dass die von einem tiefen Graben getrennten Lebenswelten von Harper und Cherry vielleicht doch vereinbar sind.



Überhaupt reizt "Detour" den Bereich des Möglichen aus. Etwa nach zwanzig Minuten - als Harper sich entscheiden muss, ob er mit dem Pärchen nach Las Vegas fährt, um seinen Stiefvater zu töten oder doch lieber zu Hause bleibt - teilt sich der Film in zwei Erzählstränge. Während sich der eine zu einem abenteuerlichen Road Trip entwickelt, offenbart sich im anderen, was für schlimme Szenarien hinter einer eigentlich vernünftigen Entscheidung lauern können. Die Split-Screens, die Smith dabei immer wieder einsetzt, haben vor allem eine dekorative Funktion, stärken durch die Doppelung des Protagonisten aber auch das Bewusstsein dafür, dass es zu jeder Entscheidung auch eine Alternative gibt. Es ist ein bisschen die Schwäche von "Detour", dass er sich auf ein interessantes Gedankenspiel einlässt, nur um es am Ende als erzählerischen Gimmick zu entlarven.

"Detour" erzählt zwar eine einfache Geschichte auf verschachtelte Weise, was jedoch nicht heißt, dass Letzteres ein bloßes Ablenkungsmanöver ist. Tatsächlich ist es der schon im Titel anklingende Umweg, der den Film interessant macht. Wenn der Druck aus der Erzählung weicht und die drei Protagonisten mehr Raum bekommen, entwickelt sich trotz der nur rudimentären Figurenzeichnung eine spannende Dynamik zwischen ihnen. Dass jeder von ihnen durch sein junges Alter und gutes Aussehen zunächst wie die weichgespülte Variante eines Genre-Archetyps wirkt, täuscht. Tatsächlich findet sich gerade im Makellosen eine interessante Brüchigkeit, etwa wenn die Kamera so nah an die Gesichter heranrückt, dass sich ungeahnte Asymmetrien auftun oder sich in Details wie einem kurzen Schluchzen abzeichnet, dass hier nicht bloß Figurenschablonen ausgefüllt werden, sondern wirklich gute Schauspieler am Werk sind.

Vor allem zeigt sich an den Darstellern aber die paradoxe Natur von "Detour". Denn Smith hat zwar einen traditionsbewussten Genrefilm im Sinn und zitiert auch fleißig seine filmischen Vorbilder - von der Prämisse des Auftragsmordes aus Hitchcocks "Der Fremde im Zug" bis zu Edgar G. Ulmers "Detour", von dem auch ein kurzer Ausschnitt zu sehen ist -, scheint sich aber zugleich an eine Zielgruppe zu richten, die sich dafür recht wenig interessieren dürfte. Auffällig ist zum Beispiel, wie stark Nachwuchs-Star Tye Sheridan sexualisiert wird. Gleich mehrmals zieht er sein T-Shirt aus und präsentiert teilweise minutenlang seinen freien Oberkörper; interessanterweise jedoch nie auf eine triumphierende, betont männliche Art, sondern immer in Momenten, in denen seine Figur emotional besonders verwundbar ist. Mit seinen melancholischen Augen, den fleischigen Lippen und einem ständigen Ausdruck von Unbedarftheit spielt er mit der Sehnsucht jener Zuschauer, die einen traurigen, hübschen Jungen in den Arm nehmen wollen. "Detour" könnte sicherlich geschickter konstruiert sein, aber wie er als Teenie-Version eines Film Noir hemmungslos seine Reize ausspielt, ist doch sehr charmant.

Michael Kienzl

To Kill a Man - Kein Weg zurück - GB 2016 - OT: Detour - Regie: Christopher Smith - Darsteller: Stephen Moyer, Bel Powley, Gbenga Akinnagbe, Tye Sheridan, Emory Cohen, John Lynch - Laufzeit: 97 Minuten.

"Detour" hat in Deutschland keinen Kinostart erhalten. Ab dieser Woche ist der Film auf DVD und BluRay erhältlich.