Im Kino

Heiliger Furor

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Thomas Groh
22.11.2017. In Kathryn Bigelows meisterlichem Feelbad-Movie "Detroit" bricht ein rassistischer Polizist ein furchterregendes Folterspektakel vom Zaum. Fatih Akin bringt in "Aus dem Nichts" Form und Inhalt in keinen produktiven Zusammenhang - schon gar nicht, wenn man noch das reale Vorbild des Films, die NSU-Morde, mit ins Spiel bringt.


Zu Beginn stehen Bilder der Hoffnung: Bilder der Serie "The Great Migration" von Jacob Lawrence, in einer animierten Version. Die schwarze Bevölkerung zieht aus dem Süden der USA in den Norden, in Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen. Doch was sie vorfinden, in Detroit und anderswo, sind Spielarten des Rassismus, den sie schon im Süden erdulden mussten: Gettoisierung, Ausgrenzung, Verarmung. Und nicht zuletzt: Beengung. Detroit 1967, für die schwarze Bevölkerung bedeutete dies: Enge, Armut, Albdruck. Der sich schließlich in den berühmten Unruhen im Hochsommer des Jahres entlud. Eben diese Unruhen stehen im Mittelpunkt von Bigelows "Detroit".

Von der großen transnationalen Bewegung zum klaustrophobischen Kammerstück - von der Flucht vor Rassismus hin zum völligen Ausgeliefertsein, das ist die Schlaufe, die Kathryn Bigelow langsam, aber konsequent zuzieht. In ihrer nach "The Hurt Locker" und "Zero Dark Thirty" dritten Zusammenarbeit mit Drehbuchautor Mark Boal verfolgt sie das gemeinsame Projekt eines "journalistischen" Stils: Im Gegensatz zu den teils hochgradig fetischisierten Affekt- und Actionfilme, für die Bigelow früher stand, zeichnen sich diese drei Filme - die vielleicht wirklich so etwas wie eine "USA-Trilogie" ergeben - durch einen reportagehaften Gestus aus, der sich in "Detroit" insbesondere im ersten Akt besonders kenntlich zeigt: Historische und nachgestellte Aufnahmen der Riots vermengen sich bis zur Ununterscheidbarkeit, Figuren, die als Protagonisten in Betracht kommen, verschwinden wieder, erst allmählich schält sich eine Handlung und ein Ensemble heraus. Man kann das problematisch finden - welche Überfrachtung nachgestellten Materials mit dem Nimbus des historisch Dokumentarischen ist das nicht? -, "Detroit" entwickelt jedoch enorme Durchschlagskraft, spätestens dann, wenn die Bilder der Stadt an die Kriegsgebiete im Nahen Osten erinnern, in denen die beiden letzten Filme Bigelows angesiedelt waren. Erst mit militärischen Mitteln konnte die Lage seinerzeit wieder unter Kontrolle gebracht werden. Wenn bei Bigelow ein Panzer auf ein Mädchen an einem Fenster schießt, findet sie dafür einen geradezu finsteren melodramatischen Affekt.

Wobei es relativ harmlos anfängt: In einer Bar ohne Konzession feiern Schwarze die Rückkehr eines Freundes aus Vietnam. Cops stürmen den Laden, sogar an einen schwarzen Ermittler hat man gedacht, der die angespannte Lage dämpfen soll - reines Bigelow-Kino, wenn die Regisseurin den begrenzten Raum effektiv und zugespitzt ausnutzt. Doch der Einsatz geht schief: Die Hintertür klemmt, jetzt müssen die Leute auf offener Straße abgeführt werden, vor den Augen der schwarzen Bevölkerung, die rassistische Gängelei vermutet. Erste Flaschen fliegen, die Polizei zieht ab, schon geht ein Schaufenster zu Bruch und Plünderer übernehmen das Ruder. Am Ende steht eine Zäsur in der amerikanischen Nachkriegsgeschichte, die für alle vergleichbaren Erhebungen und Unruhen den historischen Referenzpunkt bildet - ob 1992 im Falle Rodney Kings in Los Angeles oder zuletzt im Zusammenhang mit #BlackLivesMatter.



Am Narrativ des gemeinschaftlichen Protests strickt Bigelow zunächst nicht mit: Leidtragende der Unruhen ist nicht zuletzt die schwarze Bevölkerung selbst. Die Dramatics etwa, eine aufstrebende Soulband, deren hoffnungsvoller großer Auftritt - im Publikum sollen wichtige Funktionäre aus dem Musikgeschäft sitzen - wegen der Riots abgesagt werden muss. Unterschlupf findet die Band zwischen Flaschenwürfen, Steinhagel und Polizeiknüppeln im Algiers Motel. Dort verschanzt man sich - hofft darauf, das ganze gut zu überstehen. Bis auch hier die Sache aus dem Ruder gerät und eine Tölpelei - ein weiterer Hotelgast schießt im Überschwang mit Platzpatronen auf eine Gruppe Polizisten - eine Gruppe Cops auf den Plan ruft, deren Anführer nicht nur ein rassistisches Scheusal vor dem Herrn ist, sondern auch wegen einer anderen Sache einiges auf dem Kerbholz hat. Kaum hat er das Algiers Motel unter seine Kontrolle gebracht, bricht er auf kleinstem Raum ein furchterregendes Folterspektakel vom Zaun - an dessen Ende stehen diverse Tote, skandalöse Freisprüche und ein Ereignis, das mit dem "Algiers Motel Incident" als Randepisode der Detroit Riots in die amerikanischen Geschichtsbücher eingegangen ist. Für einen Musiker der Dramatics war die Geschichte so traumatisierend, dass er die Band verlassen und die Musikerkarriere an den Nagel gehängt hat.

Bigelows "Detroit" ist von einem heiligen Furor getrieben, insbesondere im Kernstück des Films, der eben jene Foltereien der Polizei als klaustrophobisches Grindhouse Movie im 70er Stil in Szene setzt. Zwischen den Fronten: Schauspieler John Boyega in der Rolle eines schwarzen Wachmanns, der als Stimme der Vernunft deeskalierend eingreift, der die schwarzen Nachbarschaftskids von der Straße holt, und die Redneck-Cops zu beschwichtigen versucht. Am Ende steht er selbst, in einer bitteren Volte, als Tatverdächtiger mit einem Bein im Knast.

In den ausgiebig geschilderten Folterszenen lässt Bigelow konsequent jeden guten Ratschlag aus den Chefetagen Hollywoods hinter sich und setzt ganz - und zum Glück des Films - auf den totalen Distanzverlust. Nicht um die Lust an der Gewalt und um Nervenkitzel geht es, sondern um die Enttarnung von Gewalt und Rassismus als schäbige Handlungsweisen - Anti-Tarantino, wenn man so will. Wie ist es, wenn man tagtäglich darauf gefasst sein muss, von Rassismus nicht nur beeinträchtigt, sondern bedroht zu werden? Diese Frage steht in aller Deutlichkeit im Raum und wird mit bösem Spiel konsequent beantwortet - "Detroit" überträgt diese Frage in kühlem Zorn einer mitleidlosen Beobachtung direkt auf zumindest den weißen Teil des Publikums. Das ist fernab jeder Analyse - aber eine Hardcore-Lektion in Sachen Emphase. Und nicht zuletzt mutig: In den USA hat der Film, der namhaften Regisseurin und dem großen Namen Boyegas - "Star Wars" macht ihn gerade zum Star - zum Trotz, nur sehr wenig eingespielt.

"Detroit" ist anti-kathartisches Kino, ein meisterliches Feelbad-Movie. Der Zorn, den der Film entfacht, nimmt man aus dem Kino mit. Und so soll es sein: Nichts schlimmer als ein Kino, das sein Publikum nach Hause schickt, mit dem einlullendes Gefühl, sowieso auf der richtigen Seite zu stehen, nachdem die drängenden gesellschaftlichen Konflikte stellvertreterhaft auf der Leinwand gelöst wurden. Probleme löst man hier, in der Wirklichkeit. Die Wut und Drastik, mit der Bigelow ihren "Detroit" vollpackt, zielt darauf, den Leuten genau dies als Lektion mit auf den Weg zu geben.

Thomas Groh

Detroit - USA 2017 - Regie: Kathryn Bigelow - Darsteller: John Boyega, Will Poulter, Algee Smith, Jacob Latimore, Jason Mitchell, Hannah Murray - Laufzeit: 143 Minuten.


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Dass Fatih Akin einen Film gedreht hat, der sich in fiktionalisierter Form mit den Morden des "Nationalsozialistischen Untergrund" beschäftigt, liegt erst einmal ziemlich nahe. Wo im Werk des in einer türkischen Familie in Hamburg geborenen Filmemachers immer wieder Fragen nach Zugehörigkeit und Identität (nicht nur) unter MigrantInnen anklingen, gaben die VerbrecherInnen des NSU auf diese eine so einfache wie infame Antwort: Ihr seid anders, deshalb dürft ihr hier nicht leben! Und das Versagen der ermittelnden Behörden, die noch die deutlichsten Hinweise auf den rechtsextremen Hintergrund der Taten geflissentlich ignorierten und es stattdessen vorzogen, die Opfer zu inkriminieren, schienen zumindest die Ressentiments (man denke auch an die Formulierung "Dönermorde"), die den Verbrechen der Terrorzelle zugrunde lagen, zu untermauern.

Zunächst erzählt "Aus dem Nichts" eine relativ konventionelle Rachegeschichte, wie es sie im Kino vor allem seit den Siebzigern immer wieder gibt und deren formelhafte Struktur durch die Gliederung in drei Kapitel unterstrichen wird: Katja (Diane Krüger) verliert durch einen rechtsradikal motivierten Nagelbombenanschlag ihren türkischstämmigen Mann Nuri (Numan Acar) und den gemeinsamen Sohn Rocco (Rafael Santana). Bei einem Gerichtsprozess, dessen Verlauf an der Schuld der Angeklagten keinen wirklichen Zweifel lässt, werden diese aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Katja reist nach Griechenland, wo die TäterInnen Verbindungen zur örtlichen Neo-Nazi-Szene unterhalten, um sie schließlich selbst zu stellen.

Akin ist sichtlich daran gelegen, diesen Genreplot auszuhöhlen, um ihn mit den Mitteln des Arthousekinos zu füllen. Allerdings steht ihm dabei die Schematik der Rachegeschichte sichtlich im Weg. Während "Gegen die Wand" (2004), der bis heute beste Film des Regisseurs, seine beträchtliche Wucht ganz aus den beiden Hauptfiguren und deren auto- und fremd-aggressivem Potenzial heraus entwickelt hatte, bleiben die Figuren in "Aus dem Nichts" reine Funktionen eines Plots, der wiederum ganz in den Dienst eines Anliegens gestellt wird.



Im ersten Kapitel sehen wir einer Frau beim Zerbrechen zu. Oft sind die nervösen, mit der Handkamera eingefangenen Scopebilder dicht am Körper, vor allem am Gesicht von Krüger, deren Schmerz, Verzweiflung, Wut und Trauer, die sich auch durch Drogen kaum lindern lassen, der Film unmittelbar spürbar lassen möchte. Dazu scheint der ununterbrochene Regen alle Farben aus der Stadt und den Bildern zu waschen. Spätestens wenn Katja schließlich einen Suizidversuch unternimmt, das Blut aus ihren aufgeschnittenen Adern langsam ins Badewasser und als farblicher Akzent ins gedeckte Grau des Bildes fließt, kann einem etwas mulmig zumute werden ob der Art, wie Akin das Leid seiner Protagonistin in schaurig schöne und möglichst geschmackvolle Bilder zu übersetzen sucht. Just in dem Moment, in dem sie endgültig aufgeben will, erhält Katja einen Anruf ihres langjährigen Freundes und Anwalts Danilo (Denis Moschitto), der ihr eröffnet, dass es doch zur Gerichtsverhandlung gegen die Tatverdächtigen kommen wird. Nun kann Katja aus ihrem Verlangen nach Gerechtigkeit neuen Lebenswillen schöpfen, quasi auferstanden verbindet sie sich ihre blutenden Arme.

Dass der zweite Filmabschnitt, der ausführlich den Verlauf der Gerichtsverhandlung zeigt, der intensivste ist, liegt an der Verbissenheit, mit der Danilo und sein Widersacher, der Strafverteidiger Haberbeck (Johannes Kirsch), der merklich ideologische Sympathien für seine KlientInnen hegt, die Verhandlung angehen, die sie in bis zum Siedepunkt erhitzten Wortduellen führen. Akin übernimmt die problematischen, weil ihrem Wesen nach antirechtsstaatlichen Komponenten des Genres unkritisch und versucht zugleich, sie auf links zu drehen. Die homophobe Äußerung Danilos über den Zusammenhang deutscher, griechischer und juristischer Nazis mag eine Vorstellung von der politischen Inkongruenz geben, die sich unter der vorgeblichen Geschlossenheit der Form versteckt: "Die ficken sich alle gegenseitig in den Arsch!"

Wenn Akin schon Form und Inhalt kaum in einen sinnvollen oder produktiven Zusammenhang bekommt, dann wird der Film noch fragwürdiger durch die dritte Komponente des Spannungsfeldes, in dem er sich bewegt: die realen Verbrechen des NSU. Nuri saß einst, in der Vorgeschichte des Films, wegen Drogengeschäften im Knast, wo er auch, wie wir am Anfang sehen, Katja heiratete. Danach wurde er vollständig rehabilitiert. Akin wird es dabei wohl darum gehen, zu zeigen, dass Menschen sich ändern können, dennoch wirken die Verdächtigungen der Polizei gegen das Opfer angesichts dieser Vergangenheit wesentlich weniger haltlos als im Kontext der realen Ermittlungen. Es mangelt auch hier an Differenzierungen. Natürlich ist die kriminelle Vorgeschichte eines Geläuterten ein bleibendes Stigma, aber eben ein anderes als das rassistische, das Menschen aufgrund ihrer Ethnizität unter Generalverdacht stellt.

Das setzt sich nahtlos fort in der Figur Danilos, der ebenfalls eine kriminelle Vergangenheit hat. Dass er einer schwer traumatisierten Frau unter anderem auch Drogen gibt, mag die Hilflosigkeit seiner Bemühungen, sie zu retten, noch einmal unterstreichen. Natürlich ist es nicht wünschenswert, dass Menschen mit Migrationshintergrund, weil sie Opfer rassistischer Ausgrenzung und Gewalt werden können, ausschließlich als Chorknaben dargestellt werden. Trotzdem begibt sich Akin mit seinem unbedingten Willen, Ambivalenzen zu schaffen, auf dünnes Eis, unter dem genau die Ressentiments lauern, denen er mit seinem Film doch eigentlich den Kampf erklären will.

Nicolai Bühnemann

Aus dem Nichts - Deutschland 2017 - Regie: Fatih Akin - Darsteller: Diane Krüger, Denis Moschitto, Numan Acar, Samia Muriel Chancrin, Johannes Krisch, Ulrich Tukur - Laufzeit: 106 Minuten.