Im Kino

Über Dokumentarfilme richten

Die Filmkolumne. Von Frédéric Jaeger
17.11.2017. Die beiden wichtigsten deutschen Festivals für Dokumentarfilme, das Dok Leipzig und die Duisburger Filmwoche, treffen sich trotz ihrer unterschiedlichen Ausrichtung in ihren Diskursen. In Leipzig sorgt dafür ein Film über Pegida, in Duisburg das Porträt eines sich weltoffen gebenden Imams. Und eine Diskussion im Anschluss an Romuald Karmakars "Denk ich an Deutschland in der Nacht" zeigt, dass ein Film über elektronische Musik die Gemüter stärker erhitzen kann als jeder Populismus.



Kontroversen, wie sie im Buche stehen: Beim Festival Dok Leipzig wettern Zuschauer, "Montags in Dresden", ein Film über Pegida, mache es Pegida recht. Bei der Duisburger Filmwoche wird der Verdacht laut, die beiden Regisseurinnen von "Inschallah" hätten sich von ihrem Protagonisten, einem weltoffenen Berliner Imam, instrumentalisieren lassen. Die Sorge ist in beiden Fällen eine ähnliche: Gehen die Filmschaffenden zu blauäugig mit ihren politisch sensiblen Themen um?

Die beiden traditionell wichtigsten Filmfestivals für Dokumentarfilme in Deutschland, die Anfang November kurz hintereinander stattfinden, könnten unterschiedlicher kaum sein: Dok Leipzig zeigt mehrere hundert, überwiegend sehr neue Filme in vielen Spielstätten verteilt über die ganze Stadt - bis hin zu öffentlichen Screenings in einer Bahnhofsvorhalle, wo auch der umstrittene Film über drei Pegida-Protagonisten lief. Die Duisburger Filmwoche übt sich dagegen seit jeher in Konzentration, zeigt zwei Dutzend Filme und reserviert fast genauso viel Zeit wie für die Vorführungen für die Gespräche danach, ganz gleich ob sie kontrovers ausfallen oder nicht. Und doch ähneln sich manchmal die Diskussionen, die die Festivals in die Gesellschaft tragen, auf überraschende Weise.

Sabine Michels "Montags in Dresden" und "Inschallah" von Antje Kruska und Judith Keil verhalten sich zueinander wie Gegenstücke, wie eingeschränkte Blickwinkel, die erst zusammen ein richtiges Bild ergeben. Während Michel nach Erkenntnissen sucht, indem sie drei Menschen folgt, die sich politisch recht bruchlos mit Pegida identifizieren (siehe auch Stefanie Diekmanns Dok-Leipzig-Bericht im Perlentaucher), nähern sich Kruska und Keil einem Imam, der dafür wirbt, dass sich Muslime für die Vielfalt des Lebens in Deutschland öffnen - und umgekehrt. In beiden Filmen spielt implizit das Außen, die Position anderer, eine Rolle. Doch als Methode wählen sie gleichermaßen, den Protagonisten viel Zeit und Raum zu geben und sie in unterschiedlichen Situationen für sich sprechen zu lassen, mit vergleichsweise wenig Kommentaren oder anderen Eingriffen, die die Distanz zwischen Film und Sujet erhöhen könnten. In beiden Fällen ist die Aufregung darüber groß, in Leipzig kocht sie schon im Vorfeld hoch, über klassische und neue Medien. Immer wieder tauchen dieselben Fragen auf: Wem wird da eine Bühne geboten, wie subjektiv ist die Perspektive und wie viel Distanz benötigen heikle Sujets?

Auf der Suche nach einem Publikum, das zu selten ins Kino geht, um Dokumentarfilme zu sehen, scheinen sich die Fronten weiter zu verhärten und der Horizont sich zu verkleinern - wie sonst lässt sich erklären, dass es die Eklats oft schon gibt, bevor die Filme überhaupt zu sehen sind? Und was sagt das über die Öffentlichkeit aus, die von Dokumentarfilmen hergestellt wird? Eins ist klar: Die Eventisierung macht auch hier nicht Halt - erst recht nicht, wenn sie mit Themen gepaart wird, die längst zu Triggern eines bisweilen reflexhaften Disputs geworden sind.



Vielleicht ist es das Privileg der Gattung, dass Dokumentarfilme das Publikum anders belangen, treffen, mitnehmen und gegen sich aufbringen können als Spielfilme. Und dieses Privileg ist zugleich ein vergiftetes, weil plötzlich Ansprüche im Raum stehen, die man von einem anderen Format kennt, nämlich der kleinen Schwester des Dokumentarfilms: der nach journalistischen Prinzipien gestalteten Reportage. Schon reicht es für einen Aufruhr, wenn ein Dokumentarfilm keine Gegenseite zitiert und nicht ausgewogen ist. Das Festival Dok Leipzig bemüht sich um zumindest kleine Gesten der Distanzierung, einerseits von Pegida, andererseits aber auch vom Film.

In Duisburg, wo die Gespräche stets protokolliert werden, steht im Resümee: "Zum Einstieg berichtet Moderator Sven Ilgner, dass der Film ihn verblüfft und berührt, aber auch geärgert habe." So beginnt eine Debatte, die sich gewaschen hat, was man auch daran sehen kann, wie auf diesen Gesprächsbeginn wiederholt Bezug genommen wird - die Filmemacherinnen unterstellen dem Moderator Argwohn, der Moderator fragt, wieviel Kalkül hinter der Nähe stecke, die der Imam gewährt, und Zuschauer beobachten, so wohl der Imam als auch der Film hätten unter dem Druck gestanden, Gegenbilder zur sonst üblichen medialen Darstellung muslimischen Lebens zu schaffen.

Beachtlich, wenn solche Diskussionen sich auf ästhetische Fragen beziehen - eines aber klammern sie ein ums andere Mal aus: dass die ambivalente Wirkung von Filmen Teil des ästhetischen Konzepts sein kann. Immerhin gehört es ganz selbstverständlich zur Geschichte der Gattung, dass die künstlerische dokumentarische Form mit Entscheidungen einhergeht, die anders als die meisten Fernsehformate nicht auf Ausgewogenheit ausgerichtet sind und deshalb leichter spalten können. Stefanie Diekmann hat im Fall von "Montags in Dresden" im Perlentaucher bereits einen entscheidenden Hinweis geliefert: "daraus [muss] ziemlich zuverlässig ein ziemlich unangenehmer Film entstehen". Dem ist nicht viel hinzuzufügen - außer dass es hilft, sich daran zu erinnern, dass kein Film für sich alleine steht und dass kein Zuschauer sich durch einen Film alleine ein Bild macht. Ein unangenehmer Film über Pegida? Ja, wieso nicht! Zum demokratischen Verständnis eines Festivals kann es ohnehin gehören, Positionen sichtbar zu machen, die die Kuratoren selbst nicht teilen.

In Duisburg steht das Festival in diesem Jahr unteÜber Dokumentarfilme richtenr dem Motto "Mittel der Wahl", und bezieht sich damit sowohl auf den demokratischen Prozess als auch auf die filmischen Formen, die Dokumentarfilme wählen. Direktor Werner Ružička sieht sein Festival in der Tradition einer Gegenöffentlichkeit, die sichtbar macht, was sonst zu wenig beleuchtet wird - und zugleich als "Labor der Öffentlichkeit", in der Filme und Debatten erprobt werden können.

Weil in Duisburg keinerlei Rücksicht auf Premieren genommen wird, können dort auch die Filme neu hinterfragt werden, die übers Jahr schon getourt sind oder im Kino liefen. Etablierten Regisseuren merkt man die Routiniertheit der Gedanken deshalb oft an. Heinz Emigholz zum Beispiel macht berückend schöne Architektur-Filme, die gleichzeitig aber so eigenwillig und spröde sind, dass sie meistens nur auf Festivals laufen. Das liegt natürlich auch daran, dass Kinos heute kaum mehr in der Lage sind, solche Sonderformen zu pflegen. Unterdessen wächst der Graben zwischen den an der Kinokasse erfolgreichen Dokumentarfilmen, die fast immer menscheln (Stichwort "Weit"), mindestens ein leicht verständlich aufbereitetes Thema bieten ("Expedition Happiness") oder auf bereits bekannte Personen setzen ("Rammstein: Paris"), und dem ganzen vielfältigen Rest.

Duisburg-Leiter Ružička blickt mit Sorge auf die Finanzierung dieser anderen Filme, sieht in der aktuellen "Legitimationskrise der Öffentlich-Rechtlichen" aber eine Chance - dass sie wieder "mehr für deviante" Filme tun müssen. Und beobachtet mit Genugtuung, dass große Kunstausstellungen wie die diesjährige Documenta wieder mehr auf klassische Dokumentarfilme setzen: "Da habe ich einen wilden Optimismus, auch wenn keinen sehr großen." In der Tat wurden mit Unterstützung der Documenta nicht zuletzt Filme von einigen der international interessantesten Dokumentarfilmer wie Wang Bing, Ben Russell, Douglas Gordon und Romuald Karmakar produziert.

Von einem Kontext in den anderen zu springen ist allerdings alles andere als leicht. Immerhin sind die Diskurse sehr andere. Während im Kunstraum viel von Praxis, Materialien und Motiven die Rede ist, stürzen sich die Gespräche bei Filmfestivals meist auf Intention und Wirkung. Karmakar, der in den letzten Jahren in Harvard gearbeitet hat und nicht zuletzt bei der Venedig Biennale ausgestellt wurde, kennt beide Bereiche. In Duisburg ist er mit seinem neuesten, im Kino bereits gestarteten Film "Denk ich an Deutschland in der Nacht" über einige Protagonisten der elektronischen Musik. Es ist ein langsamer, aber auch sehr humorvoller Film, der auf schöne Weise in sich selbst ruht - und vermutlich gerade deswegen für einige nicht so leicht greifbar ist.



Vielleicht war der Eklat vorprogrammiert, immerhin hatte es schon bei früheren Besuchen von Karmakar in Duisburg Streit gegeben. Eine Spannung jedenfalls liegt von Beginn an in der Luft, obwohl sich der Moderator sichtlich Mühe gibt, eine vermittelnde Rolle einzunehmen, Bezüge zwischen den verschiedenen Arbeiten von Karmakar herzustellen und flache Fragen nach der Vorbereitung der Interviews zu stellen. Karmakar ist das zu blöd, und er scheut sich nicht, es sein Gegenüber spüren zu lassen. Die Situation eskaliert, als ausgerechnet die erste Meldung aus dem Publikum völliges Unverständnis für den visuellen Ansatz des Films zeigt - für ihn, den jungen Mann, dem die Clubszene nah ist, sei der Film offensichtlich nicht gemacht. Karmakar mimt übertrieben Verständnis, das tue ihm sehr leid. Schon bald ist das Gespräch komplett festgefahren: Ein anderer Zuschauer fragt nach den Intentionen, den Film zu machen, und als Karmakar darauf verweist, dass er bereits erklärt habe, das Projekt sei ursprünglich die Idee des Produzenten gewesen und nicht seine, kommt der Austausch zum Erliegen - auf Nachfrage behauptet Karmakar schließlich, er selbst habe gar keine Intentionen, es sei ja nicht sein Film.

Die gesamte Diskussion ist beispielhaft für scheiternde Kommunikation: Der Regisseur spielt die Bälle der Zuschauer stets zurück, um weitestgehend und nachvollziehbarerweise zu vermeiden, Antworten auf Fragen nach seinen Absichten zu geben: nicht das Warum, sondern die manifeste Wirkung soll im Vordergrund stehen. Das wiederum lässt das Karussell des Festivaljahrmarkts immer schneller im Kreis drehen, bis ununterscheidbar wird, wer eigentlich im Rampenlicht steht: das Podium oder der Saal? Das wird schnell unangenehm, vor allem, weil es sich zwischenzeitlich eher aggressiv, denn spielerisch anfühlt. Und doch handelt es sich dabei zugleich um die vermutlich radikalste Infragestellung des gesamten Dispositivs von Dokumentarfilmen und der über sie richtenden Öffentlichkeit.

Werner Ružička nimmt der Dissens sichtlich mit, obwohl er sonst so gerne schelmisch provoziert. Nachdem sich Karmakar  mit der Ankündigung, nicht wiederkommen zu wollen, in der Nacht verabschiedet, erzählt Ružička beiläufig davon, dass die nächste Festivalausgabe seine letzte sein wird. 2018 wird er 71 Jahre alt, Duisburg leitet er seit 1985. Die großen Skandale und Tabubrüche im Dokumentarfilm hat er alle beobachtet - und wendet sich entschieden dagegen, dieses Kalkül für mehr Öffentlichkeit mitzuspielen. Karmakar wird er nicht wegen den aus dem Ruder laufenden Gesprächen, sondern aus ästhetischen Gründen in Duisburg vermissen.