Im Kino

Verschobene Offenbarungen

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Lukas Foerster
17.01.2018. In Michael Almereydas zauberhaften Science-Fiction-Film "Marjorie Prime" wird künstliche Intelligenz zum Medium der Erkenntnis. François Ozons "Der andere Liebhaber" schickt eine Frau erst zum Gynäkologen, dann zu zwei fast identischen Psychiatern.


Ziemlich genau in der Mitte des Films gibt es eine Rückblende, die zum Schönsten und Bewegendsten zählt, was ich in letzter Zeit im Kino erlebt habe. Marjorie, die wir vorher als Frau im hohen Alter (gespielt von Lois Smith) kennengelernt haben, ist plötzlich wieder jung. Zunächst ist sie (jetzt gespielt von Hannah Gross) ausgestreckt auf einem Bett zu sehen, nackt und außer Atem, unmittelbar nach dem Sex mit Walter (Jon Hamm) vermutlich, der neben ihr liegt, und der ihr gleich darauf einen Heiratsantrag macht. Wir wissen aufgrund des Vorangegangenen, wie die Geschichte weitergeht: Die beiden bleiben, trotz vieler Schwierigkeiten, zusammen und bekommen zwei Kinder, er stirbt aufgrund des Altersunterschieds früher, und sie wird an ihrem eigenen Lebensende von einem Walter-Hologramm begleitet, einer Computersimulation, die nicht nur die visuelle Form des Verstorbenen imitiert, sondern auch mit einer künstlichen Intelligenz ausgestattet und deshalb in der Lage ist, komplexe Gespräche mit Marjorie und anderen Familienmitgliedern zu führen.

Aus diesen Gesprächen besteht die erste Filmhälfte. Der digitale Walter redet mit Marjorie über eine gemeinsame Vergangenheit, von der er gar nichts wissen kann. Paradoxerweise hat er gleichzeitig die Aufgabe, das nachlassende Gedächtnis der alten Frau anzuregen, es im dialogischen Hin und Her zu trainieren. Eine therapeuthische Präsenz also, die allerdings auch frustrierend wirken kann - auf Marjorie, und erst recht auf deren Tochter Tess (Geena Davis), die plötzlich ihre eigene Version der Vergangenheit, des geteilten Lebens mit ihrer Mutter, in Frage gestellt sieht. Komplettiert wird die Anordnung durch Tess' Mann Jon (Tim Robbins), der nur auf den ersten Blick einen Moment der Ruhe und Umsicht in die Familie einbringt, sowie durch die junge Haushälterin Julie (Stephanie Andujar).



Das Entscheidende sind freilich nicht die vielfältigen interindividuellen Spannungen, die sich in den Gesprächen eröffnen, die Bruchlinien, die dabei sichtbar werden und stets tief in die Familiengeschichte hinein führen; zu einem außergewöhnlichen Film, vielleicht zum schönsten Science-Fiction-Film der letzten Jahre, wird "Marjorie Prime" ganz im Gegenteil, weil der gute Wille aller Beteiligten nie zur Debatte steht. Das beginnt bei Marjorie, die keineswegs so senil ist, dass sie die technisch-artifizielle Natur des wiederauferstandenen Walter nicht durchschaut. Sie weiß genau, auf was für ein Spiel sie sich einlässt, aber sie spielt dennoch mit, nicht zuletzt, weil sie auch kurz vor ihrem Tod noch auf sich selbst neugierig ist. Wie auch ihre Angehörigen sich voll und ganz auf das psychosoziale Experiment einlassen, das die Kommunikation mit einem künstlichen Bewusstsein darstellt.

Es geht nicht um (Selbst-)Täuschung und Manipulation, sondern um (Selbst-)Erkenntnis, oder etwas anders gewendet: Es geht darum, selbst noch das Bedürfnis nach Selbsttäuschung als einen Moment der Selbsterkenntnis anzuerkennen. Das heißt zum Beispiel: Wenn Marjorie die Existenz ihres zweiten, verstorbenen Kindes beharrlich leugnet, dann kann es nicht darum gehen, sie vermittels des digitalen Walter mit der bitteren Wahrheit zu konfrontieren; vielmehr muss der Versuch unternommen werden, die Bedingungen dieses partiellen Vergessens offen zu legen und zu zeigen, dass für Marjorie ein gewissermaßen zombiehaft wiedergekehrter Hund an die Stelle des Kindes getreten ist.



Die größtenteils im lichten, dezent großbürgerlich eingerichteten Haus der Familie, gelegentlich auch an einem gleisend paradiesischen Sandstrand geführten Gespräche sind voll solcher verschobener Offenbarungen. Ich hätte mir diese visuell feinsinnig variierten, nuanciert gespielten Dialogszenen stundenlang anschauen können... Warum allerdings hat mich dann gerade die erwähnte Rückblende noch einmal besonders berührt, warum bin ich an einem Moment hängen geblieben, der mit der Logik des bis dahin Gezeigten zu brechen scheint? Vielleicht, weil es sich dabei, wenn man den Film ernst nimmt, um schlechterdings unmögliche Bilder handelt. Denn "Marjorie Prime" ist auch ein Film über die Paradoxien des Erinnerns. Im Film wird das einmal folgendermaßen gefasst: Erinnern kann man sich immer nur an die Erinnerung. Soll heißen: Im Akt des Erinnerns stellt man nicht auf magische Weise den Kontakt zur Vergangenheit her, sondern man aktualisiert nur die jeweils letzte Erinnerung an ein in diesem Sinne unwiderbringlich verlorenes Vergangenes. Die bitteren Konsequenzen hieraus werden in der zweiten Filmhälfte noch deutlicher, wenn weitere digitale Surrogate auftauchen, und die vermeintliche Sicherheit einer interindivuell geteilten und konsensfähigen Vergangenheit sich endgültig als Schimäre entpuppt.

Ich bleibe dennoch kleben an dem einen, klaren Bruch, den "Marjorie Prime" in diese temporale Anordnung einbaut: Wie kann es so etwas wie eine Rückblende überhaupt geben, wenn die Erinnerung immer nur die Funktion eines Bewusstseins ist, das an die Gegenwart gekettet bleibt? Wie kann Marjorie, von einem Moment auf den anderen, doch wieder jung werden, wie kann sie noch einmal diesen einen Moment des Liebesüberschwangs auskosten, ganz unbeeindruckt vom Wissen über die Frustrationen, die in der Zukunft auf Walter und sie warten? Man kann diese wenigen schönen, dunkel und sinnlich leuchtenden Bilder der Rückblende kaum als etwas anderes begreifen, denn als ein Geschenk, das der Regisseur Michael Almereyda seiner Hauptfigur macht. Und das gleichzeitig nachdrücklich jene Kritiker eines Besseren belehrt, die in "Marjorie Prime" nur eine weitgehend werkgetreue Adaption des gleichnamigen brillianten Bühnenstücks von Jordan Harrison sehen wollen. Almereydas Film handelt, auch das wird in der Rückblende noch einmal besonders anschaulich, ganz direkt von der Macht des Kinos: Schließlich ist das Kino eine Maschine, die Erinnerungen nicht nur aktualisiert, sondern tatsächlich materialisiert, in der lebendigen Bewegung einer im Bild gebannten Vergangenheit.

Lukas Foerster

Marjorie Prime - USA 2017 - Regie: Michael Almereyda - Darsteller: Lois Smith, Jon Hamm, Geena Davis, Tim Robbins, Stefanie Andujar, Hannah Gross - Laufzeit: 99 Minuten.

"Marjorie Prime" ist am Samstag, 20.01. um 21 Uhr im Berliner Kino Arsenal zu sehen, als Teil des Festivals "Unknown Pleasures", das noch bis zum 28.01. im Arsenal sowie im Kino Wolf stattfindet.


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Zu Beginn darf die Kamera tief blicken - in eine mit gynäkologischem Werkzeug weit geöffnete Vagina. Dann gibt es einen perfekten Match Cut auf ein Auge, aus dessen Winkel eine Träne fließt. Dieser Auftakt gibt in mehrfacher Hinsicht den Ton an für einen Film, in dem es um allerlei, insbesondere auch sexuelle Abgründe geht, und in dem das Begehren und die visuelle Wahrnehmung der weiblichen Hauptfigur gleichermaßen trügerisch darauf erpicht sind, ihr Streiche zu spielen. Die Szene zeugt aber auch von der inszenatorischen Virtuosität, die François Ozon in seinem achtzehnten langen Spielfilm an den Tag legt. Schließlich verweist schon das Setting beim Frauenarzt auf das Sterile, Klinische, das dem Film sicherlich in voller Absicht anhaftet - aber leider zu dem Gesamteindruck beiträgt, dass Ozons große und bedeutungsschwangere Bilder letztlich nicht allzu viel zu erzählen haben.

Die Frau, die zum Beginn auf dem Gynäkologenstuhl sitzt, heißt Chloé Fortin (Marine Vacth), und da alle körperlichen Untersuchungen keinen Aufschluss über den Ursprung ihrer starken Bauchschmerzen geben konnten, sucht sie bald die Hilfe eines Psychiaters. Der stellt sich ihr als Paul Meyer (Jérémie Renier) vor, aber Namen sind in diesem Film nicht nur Schall und Rauch, sondern meist auch schlicht erfunden. Die Therapiesitzung ist Anlass des nächsten formalen Kabinettstückchens, indem mit Überblenden eine Nähe zu sich selbst und einander suggeriert wird, die aber in einem Film, dessen Figuren einem auf ewig fremd bleiben, über die reine Behauptung nicht hinausgeht. Immerhin findet Ozon, die Breite der Scopeleinwand gekonnt nutzend, ein Bild für das, was Therapeut und Patientin trennt, indem er sie in ihren Sesseln an den Rändern des Kaders positioniert und den Raum zwischen ihnen durch eine Fensterscheibe akzentuiert, hinter der fallender Regen zu sehen ist. Aus der medizinisch-professionellen Beziehung wird schnell eine sexuell-emotionale - der Film ist sichtlich darum bemüht, seine Handlung flott hintereinander weg zu erzählen und hakt Plot Point nach Plot Point ab.



Jedenfalls geht es Chloé auch mit neuem Freund nicht wirklich gut, und so wendet sie sich ein weiteres Mal an einen Psychiater. Als sie ihm gegenübersteht, ist ihr Erstaunen und Entsetzen groß: Er gleicht dem alten wie ein Ei dem anderen (und wird natürlich ebenfalls von Renier verkörpert), nennt sich aber Louis Delord. Die Art, wie diese zweite Sitzung gezeigt wird - in kühlem Schuss / Gegenschuss -, soll wohl den Unterschied zwischen Paul und Louis hervorheben. Letzterer ist, stellt sich bald heraus, der böse Zwillingsbruder von Ersterem. Wie der Film dieses Beziehungsdreieck mit großem psychologischem Aufwand auflöst, soll nicht verraten werden, ist aber letztlich auch nicht der Rede wert. Angemerkt sei nur noch, dass Ozons Vorstellung von "abgründigem" Sex - von dem inzestuösen und bisexuellen Dreier, der durch einen bizarren, aber kalkulierten Body-Horror-Bildeinfall zu einem Vierer aufgefaltet wird, über Strapon-Sex bis zu Menstruationsblutspielen - auf eine reichlich spießige Auffassung von "normaler" Sexualität hinauslaufen.

Die emotionalen, oder auch soziopolitischen Abgründe, die bei großen Stilisten wie Paul Verhoeven oder Brian De Palma nicht so sehr unter den perfekt durchgestylten Oberflächen lauern, als dass sie diesen untrennbar anhaften, sucht man in "Der andere Liebhaber" vergeblich. Wenn am Ende der letzte der unzähligen Spiegel, die Ozon nutzt, um seine Figuren zu verdoppeln oder gleich zu vervielfachen, spektakulär zu Bruch geht, bleibt nur noch: ein großes Nichts.

Nicolai Bühnemann

Der andere Liebhaber - Frankreich 2017 - OT: L'amant double - Regie: François Ozon - Darsteller: Marine Vacth, Jérémie Renier, Jacqueline Bisset, Myriam Boyer, Dominique Reymond - Laufzeit: 107 Minuten.