Im Kino

Sehnsuchtsmelodien

Die Filmkolumne. Von Katrin Doerksen, Friederike Horstmann
24.01.2018. Hong Sang-soos "On the Beach At Night Alone" spielt in norddeutschen und südkoreanischen Hafenstädten und schwebt zwischen Traum, Erinnerung, Film und Wirklichkeit. Die Welt von Martin McDonaghs "Three Billboards Outside Ebbing, Missouri" endet an den Rändern einer amerikanischen Kleinstadt, über die der Film weit hinausweist.


Tiefer Sehnsucht heil'ges Bangen
Will in schön're Welten langen;
Möchte füllen dunklen Raum
Mit allmächt'gem Liebestraum.


Franz Schubert, Mein Gebet, 1823

Schubertsche Sehnsuchtsmelodien, spätromantische, klangschöne, elegisch gedehnte Bögen eines Streichquintetts, grundieren Hong Sang-soos "On the Beach at Night Alone". Als akustische Klammer umschließen sie den Film, erklingen am Anfang und Ende, legen sich wiederholt auf die Bilder, führen von den Opening Credits zur Eröffnungssequenz und fungieren als Tonbrücke zwischen den zwei Kapiteln des Films, um so die beiden Hafenstädte Hamburg und Gangneung zu verknüpfen. In dieser rätselhaft entrückten Kammermusik, deren C-Dur-Akkord nach zwei Takten nach c-Moll verschleiert, könnte man finden, was auch Hongs Film umtreibt, wunderliche Schwebezustände, jähe Umbrüche, trügerische Wahrnehmungsräume. Aufgehen möchte der Film in diesen aufgestöberten Analogien aber nicht.

Wie auch Hongs Vorgängerfilm folgt "On the Beach at Night Alone" dem Prinzip des Diptychons; doch anders als "Right Now, Wrong Then", der das Geschehen zwei Mal in leicht modulierter Variation erzählt, zeigt der Nachfolgefilm zeitlich und räumlich voneinander abgegrenzte Episoden im Leben der Schauspielerin Young-hee (Kim Min-hee). Im ersten, ungleich kürzeren Teil ist Young-hee auf Reisen in Hamburg, wohl um eine Freundin zu besuchen, vielleicht auch um Distanz zu einer Beziehung zu einem älteren und verheirateten Regisseur zu erlangen. Genau benennt der Film die Beweggründe Young-hees nicht, wie auch sonst vieles vage und im Konjunktiv verbleibt - so wie das wirklichkeitsgebundene Sprechen, das über vordergründige Banalität grundlegende Fragen nach Lebens- und Liebesformen stellt.

Bei einem gemeinsamen Spaziergang durch eine winterlich triste Parkanlage sinkt Young-hee vor einer kleinen Holzbrücke in die Knie. Erneut ertönt Schuberts melancholische Musik. Young-hee hingegen bleibt stumm, im Gebet und in einer Caspar-David-Friedrich-Rückenansicht. Sie wünscht sich, wie sie später auf einer Parkbank zu ihrer Freundin sagt, so zu leben, wie es ihr passt, dass sie stark genug ist, das Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu führen. Viele der ernsthaften, manchmal sogar ein wenig larmoyanten Gespräche der Freundinnen artikulieren unerfüllte Bedürfnisse. Geradezu programmatisch ist der hanseatische Himmel mit einer opaken, den Blick trübenden Wolkendecke verhangen und das Farbspektrum insgesamt auf Grau-, Grün- und Brauntöne geschrumpft. Beinahe möchte man meinen, dass das Wetter in der diesigen Hansestadt eine Entsprechung zu einer innerlichen Gemütsverdunklung von Young-hee darstellt.



Das erste Kapitel endet merkwürdig: Bei einem Strandspaziergang steht Young-hee am dämmrig blauen Elbeufer. Um ihren Freunden zu folgen, schwenkt die Kamera nach rechts. Als sie zurück an jenen Ort schwenkt, an dem Young-hee zunächst stand, ist dieser verlassen, so dass sich der Kamerablick noch weiter nach links dreht. In der Ferne trägt ein unbekannter Mann Young-hee auf seinen Schultern und aus dem ersten Teil der Geschichte. Auch im zweiten Teil, der in Südkorea spielt, taucht ein solcher Mann auf, als manischer Fensterputzer in einem Hotel. Durch seine seltsam dysfunktionalen Scheuerbewegungen mit einem kleinen Schwamm scheint er die Sicht nicht gerade zu verbessern. Vielmehr versperrt der mysteriöse Mann als schattenhafte Silhouette den Blick aufs Meer.

Nach einer Schwarzblende und erneuten Opening Credits lichtet sich das Bild im zweiten Teil langsam. Young-hee sitzt in einem leeren Kinosaal. Wie in anderen Filmen Hongs gibt es in "On the Beach at Night Alone" keine eindeutigen Markierungen zwischen Traum, Erinnerung, Film und Wirklichkeit. Der erste Teil könnte ein Film-im-Film sein, den die Schauspielerin gerade im Kino gesehen hat. Auch später ist nicht klar, ob Young-hee einem allmächt'gen Liebestraum erliegt und sich, im letzten Teil des Films, eine Begegnung mit ihrem verflossenen Regisseur erträumt. Insgesamt prägt Hongs Film ein gewisses Maß an Unbestimmtheit. Aus den allmählich sich herauskristallisierenden Formen, zwischen den ähnlichen Kameraeinstellungen, nach denen der Film montiert ist, lassen sich sukzessiv Rückschlüsse rekonstruieren, wodurch sich die narrativen Leerstellen zu einem merkwürdigen Erinnerungsbild fügen, das denen von Traumvorgängen nicht unähnlich ist. Relationen und Resonanzen unter den aufeinander bezogenen Motiven des Films bilden das, was es zu sehen gibt, was gewusst werden kann.

Nach ihrer Rückkehr nach Südkorea besucht Young-hee ein paar alte Freunde in Gangneung. Sporadisch fokussiert Hong hier auf männliche Malaisen. Während eines Treffens mit Young-hee bezeichnet beispielsweise ein alter Freund die im Café arbeitende Frau als eine "gute Freundin" - entgegen eindeutig anderer Indizien. Neben diesen komischen Fehlleistungen kommt es auch wieder zu einer gewohnt großartigen Dinnerszene: Dabei wird viel Alkohol getrunken, die Wörter verklären sich zunehmend, die porös ausschweifende Stimmung schwappt zwischen Ernst und Spaß, zwischen kleinen Indiskretionen und großen Offenbarungen. Es wird getrunken, gegessen, gelacht, gekränkt und geküsst, und die sichtlich angesäuselte Young-hee attestiert allen anderen am Tisch, für die Liebe nicht qualifiziert zu sein.

In diesem alkoholinduzierten Affektkino brilliert Kim Min-hee mit einem nuancierten Schauspiel. Für ihre Rolle wurde sie bei der Berlinale 2017 mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet. Schon in "Right Now, Wrong Then" hatte sie die Hauptrolle übernommen. Während des Drehs verliebten sich der verheiratete Hong und seine Schauspielerin ineinander, was in Südkorea einen Skandal auslöste, denn die Romanze verstieß gegen herrschende Moralvorstellungen - erst 2015 wurde Ehebruch straffrei gestellt. Man muss diesen ganzen Gossip nicht unbedingt wissen, um die schmerzhaft restriktiven Liebeskonventionen in den Bildern und Gesprächen freizulegen. Doch vor dem Hintergrund des Real-Life-Scandals könnten auch die immer wieder auftauchenden Schattenmänner eine neue Lesart bekommen.

Friederike Horstmann

On the Beach at Night Alone - Südkorea 2017 - OT: Bamui haebyun-eoseo honja - Regie: Hong Sang-soo - Darsteller: Kim Min-hee, Seo Young-hwa, Kwon Hae-hyo, Jung Jae-young, Moon Sung-keun - 101 Minuten.

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Hat man auch nur die knappste Inhaltsangabe zu "Three Billboards Outside Ebbing, Missouri" gelesen, erwarten einen inhaltlich keine Überraschungen mehr: Frances McDormand mietet sich in ihrer Rolle der Souvenirverkäuferin Mildred Hayes drei morsche Werbetafeln, kritisiert darauf in drastischen Worten den örtlichen Sheriff und legt sich so mit einer ganzen Kleinstadt an. Mehr ist da wirklich nicht. Keine epische Breite, keine Subplots, nur ein kurzer Flashback, aber der reicht nicht sonderlich weit in die Vergangenheit. Regisseur Martin McDonagh kommt gleich zu Beginn auf den Punkt, lässt den drei Billboards in einer Art Ouvertüre eine mythische Überhöhung angedeihen. Durch dichten Nebel sind ihre Umrisse nur undeutlich erkennbar, dazu singt Renée Fleming ihre Version der "Last Rose of Summer". Die Sonne scheint, als es kurz darauf so richtig losgeht: Eines Tages fährt Mildred an den Werbetafeln vorbei und dabei kommt ihr eine geniale Idee. Jedes Handeln im Film, jedes gesprochene Wort, einfach alles geht von den drei Billboards aus. Ohne sie kein Skandal, keine Folgen, keine Konsequenzen.

In Ebbing, Missouri kennt jeder jeden, schon seit Kindheitstagen. So kommt es, dass auch alle von dem Unglück wissen, das Mildreds Tochter widerfahren ist: vergewaltigt, ermordet, verbrannt - nicht weit von den Billboards ist das passiert. Die Nähe der Kleinstadtbewohner untereinander bringt es außerdem mit sich, dass der Respekt gegenüber Ämtern und Institutionen wenig ausgeprägt ist. Abends im Pub sind alle außer Dienst, dann ist auch eine Polizeiuniform nicht mehr viel wert. Oder vielleicht liegt es an Officer Jason Dixon (Sam Rockwell) selbst, der zunächst den Typus des dummen, rassistischen Provinzbullen verkörpert. Er wohnt noch bei Mama und man weiß nicht so recht, ob man ihn schlichtweg als Arschloch oder als armes Würstchen verbuchen soll.



"Three Billboards Outside Ebbing, Missouri" legt ein gemächliches Tempo vor. Es dauert, bis wir endlich zu Gesicht bekommen, was wortwörtlich auf den Tafeln steht - und dann sehen wir es auch noch verkehrt herum, aus einem vorbeifahrenden Auto heraus. Bald nimmt das Lokalfernsehen Witterung auf, schickt eine Reporterin mit Kamerateam vorbei. Martin McDonagh sperrt sich gegen Sensationalismus, verweigert sich eiligen Schlussfolgerungen und zieht nach und nach die Figuren wieder aus den Schubladen heraus, in die man sie anfangs stecken wollte. Mildred entpuppt sich bald als viel zu spröde für eine klassische Heldin oder Identifikationsfigur, radikal bis zur Selbstjustiz. Sie trägt einen Undercut und so gut wie immer einen abgewetzten Jeans-Overall, dazu ein Bandana um den Kopf gebunden. Es sieht aus, als wäre eine gealterte Rosie the Riveter vom We-Can-Do-It!-Plakat herabgestiegen. Das Postergirl hängt jetzt selbst Plakate auf. Plakate, keine Postings auf Facebook, so viel alte Schule muss sein. Der öffentlich Angeprangerte heißt Sheriff Willoughby (Woody Harrelson), ein Familienvater, der gern einen Täter ausfindig gemacht hätte, dem aber leider der Krebs dazwischenfunkt. Eigentlich scheint es so, als sei er der einzig Normale in der Stadt und Mildred räumt ein, sie habe ja nichts persönlich gegen ihn. Irgendwer müsse eben Verantwortung übernehmen.

Der Film vermittelt kleinstadttypische Enge, endet buchstäblich an der Stadtgrenze, und weist doch weit über sich hinaus. Ganz wie die Billboards, dieses essentielle Symbol der Americana, hundertfach dokumentiert durch Fotografen von Walker Evans bis William Eggleston. McDonagh verlässt sich auf seinen Humor, der zu schmerzhaft, zu zynisch ist, um noch wirklich kathartisch zu wirken. "How's the nigger-torturing business going?" fragt Mildred und Officer Dixon antwortet: "That's the person-of-color-torturing business these days." Wie sich in "Three Billboards Outside Ebbing, Missouri" die großen Baustellen der amerikanischen Gesellschaft im Kleinen spiegeln, macht aus dem Film den besseren, den organischeren "Suburbicon". Auch den Ehrlicheren, denn bei George Clooney läuft nach einiger bemühter Dialektik am Ende alles auf versöhnlich-optimistische Töne hinaus, auf gefühliges Wunschdenken. McDonagh hingegen sucht das fast immer streitbare Denken und Tun seiner Figuren nicht zu rechtfertigen, lässt Fragen offen, wo klare Antworten Erleichterung gebracht hätten.

Die einzige Irritation bleibt für mich: Dafür, dass ich ihm auf einer Bewertungsskala eine hohe Punktezahl geben würde, habe ich erstaunlich wenig über "Three Billboards Outside Ebbing, Missouri" zu sagen. Handwerklich habe ich nichts auszusetzen, ich habe gelacht, wo ich lachen sollte und oftmals ist mir das Lachen im Halse stecken geblieben. Aber am Ende eines Films letztlich nicht viel mehr loben zu können als die Darsteller_Innen, kluge Dialoge und eine interessante Prämisse, erscheint mir unbefriedigend. Vielleicht sagt das etwas über mich aus, dass ich schlicht nicht zu erkennen vermag, was den Film so besonders macht. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass er im direkten Vergleich mit anderen hervorstechenden Werken dieser Saison - "Dunkirk", "Der Seidene Faden", "The Shape of Water", um nur einige zu nennen - filmisch recht konservativ wirkt. Was man ihm nicht vorwerfen kann. Nicht zuletzt konfrontiert "Three Billboards Outside Ebbing, Missouri" einen mit den eigenen Vorstellungen von einem "guten" Film und der Unmöglichkeit von Bestenlisten.

Katrin Doerksen

Three Billboards Outside Ebbing, Missouri - USA 2017 - Regie: Martin McDonagh - Darsteller: Frances McDormand, Caleb Landry Jones, Sam Rockwell, Woody Harrelson, Abbie Cornish, Lucas Hedges, Kerry Condon - Laufzeit: 115 Minuten.