Im Kino

Giftiges Lila

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Michael Kienzl
07.02.2018. Da uns die Neustarts der aktuellen Woche eher kalt lassen, wagen wir einen Blick auf andere Bereiche des Kinos. Bisher nur auf Festivals zu sehen ist Paul Schraders calvinistischer Neo-Noir "First Reformed". Immerhin auf BluRay zu erwerben gibt es Takashi Miikes meisterliche Schwertkampfapokalypse "Blade of the Immortal".


Aufopferungsvoll kümmert sich Pfarrer Toller (Ethan Hawke) um sein Reich: eine kleine Kirche am Stadtrand New Yorks, die der einzige Lebensinhalt des engagierten Geistlichen ist. Doch je länger man ihm bei seiner Arbeit zusieht, etwa wie er die 250-Jahresfeier des Hauses vorbereitet oder versucht, die überfällige Reparatur der Orgel voranzutreiben, desto leerer erscheint sie auch. Die Kirche wirkt mit dem Friedhof, der sie umgibt, wie eine Geisterstadt. Denn obwohl sich auch mal ein paar Touristen oder eine Schulklasse hierhin verirren, eine richtige Gemeinde gibt es nicht. Und so erscheinen Tollers Bemühungen gänzlich unökonomisch. Wenn es es keine Gläubigen gibt, stellt sich schließlich die Frage, wem die Bemühungen des Pfarrers dann eigentlich nutzen.

"First Reformed" ist zunächst betont karg und geduldig erzählt. Minutiös lässt der Film sich auf den Alltag seines Helden ein, nähert sich über Tagebuchaufzeichnungen seiner Gedankenwelt und entwickelt daraus ein in vielen Schattierungen schimmerndes Porträt, statt der Geschichte eine erkennbare Richtung zu geben. Man merkt dem in einer calvinistischen Familie aufgewachsenen Schrader an, wie ernst er sein Thema nimmt. Es wäre ein Leichtes gewesen, sich mit Ironie von der Figur und ihrem Glauben zu distanzieren. Doch bevor er die Funktion der Religion überhaupt in Frage stellen kann, muss er sich erst dem widmen, was sie einem Menschen wie Toller bieten kann.

Paul Schrader bewegt sich dabei innerhalb eines filmhistorischen Referenzsystems. Der Regisseur hat bereits mehrere Bücher über das Kino geschrieben - eines davon steht vielleicht exemplarisch für seine Vorlieben und trägt den Titel "Transcendental Style in Film: Ozu, Bresson, Dreyer". Tatsächlich wirkt sein neuer Film, als hätte er Robert Bressons "Tagebuch eines Landpfarrers" und Ingmar Bergmans "Licht im Winter" im Hinterkopf gehabt - nicht nur wegen seiner minimalistischen, stark konzentrierten Inszenierung, die auf den ersten Blick wenig mit Schraders stärker am Genrekino orientierten Filmen zu tun hat, sondern auch thematisch. "First Reformed" gibt sich erst einmal so klassisch wie bescheiden: das Porträt eines Mannes in der Glaubenskrise; eines vom Leben Gezeichneten, der den Niedergang der Welt und den schwindenden Einfluss der Kirche beobachtet und dabei irgendwann selbst beginnt, seine sorgfältig kultivierten Ideale in Frage zu stellen.



Ein Wendepunkt zeichnet sich ab, als Mary (Amanda Seyfried) - die sich der Kirche eher aus nostalgischen Gründen verbunden fühlt und bei Toller nicht nur berufliches Interesse auslöst - Rat bei ihm sucht. Als Seelsorger soll er sich mit ihrem Mann zusammensetzen, einem radikalen Öko-Aktivisten, der besorgniserregend destruktive Tendenzen entwickelt. Sobald die beiden Männer zu diskutieren anfangen, prallen unterschiedliche Weltanschauungen aufeinander: die Überzeugung, dass man trotz unzähliger persönlicher Rückschläge nicht an Zuversicht verlieren darf, wird kontrastiert mit der Einstellung, dass man den Scheußlichkeiten dieser Welt nicht tatenlos zusehen kann.

Was in diesem Augenblick mit Toller passiert, zeigt sich eindrucksvoll in Ethan Hawkes Gesicht. Der Schauspieler sieht immer noch gut aus, ist aber längst nicht mehr der leicht verplante, verschmitzt grinsende Indie-Beau früherer Tage. Er ist insgesamt schmaler geworden, markanter, auch geheimnisvoller. Mehrmals wird der immer etwas betrüblich wirkende Pfarrer von Kollegen nach seinem Wohlempfinden gefragt. Und jedes Mal folgt darauf ein nervöses Blinzeln und ein nachgeschobenes, nur halb überzeugendes Lächeln mit der Versicherung, dass eh alles in Ordnung sei. Die Skepsis, die in diesen Momenten steckt, das tiefe Gefälle zwischen Gesagtem und Gefühltem, zwischen unerschrockenem Optimismus und angestauter Wut, diesen Zwiespalt lässt Schrader schließlich eskalieren. Hat Toller zunächst noch sein Leid ertragen wie der biblische Hiob, beginnt er nun immer mehr, das Gefühl über den Verstand zu stellen. So wie die zerstörerischen Gedanken langsam von ihm Besitz ergreifen, wird auch der Film zunehmend von der Wahrnehmung seines Protagonisten beherrscht. Die Nacht verfärbt sich zu einem giftigen Lila, die dunklen Fantasien ragen in die Wirklichkeit und die düsteren Soundflächen des Industrial-Musikers Lustmord geben eine dunkle Ahnung davon, dass es das noch lange nicht gewesen ist.

Auch wenn sich "First Reformed" zunehmend in Richtung Paranoia-Thriller und Neo-Noir bewegt, ist seine erste Hälfte sehr viel mehr als nur ein Ablenkungsmanöver, um die anschließende Pointe besser wirken zu lassen. Schrader behält auch weiterhin seinen präzisen Blick für das hochinfektiöse Klima in den USA, in dem schon eine Therapiesitzung oder das informelle Treffen mit einem Förderer zum Austragungsort politischer Grabenkämpfe werden kann. Sowohl das Christentum als auch der ökologisch motivierte Terrorismus sind hier vor allem Strategien, um mit dem eigenen Schmerz klarzukommen - und gerade auch darin beliebig austausch- und kombinierbar. Wenn Toller beginnt, seinen Glauben unter ökologischen Vorzeichen zu interpretieren, dann ist das nur ein weiterer Umweg, um seinen Zorn endlich an der Welt auslassen zu können.

Am Ende ist "First Reformed" doch wieder ein im besten Sinner klassischer Schrader-Film. Toller entwickelt sich zunehmend zu einer jener Figuren, die sich immer wieder in den Regiearbeiten und Drehbüchern Schraders finden. Ob es die Vietnam-Veteranen in "Taxi Driver" oder "Rolling Thunder" sind, der nationalistische Autor in "Mishima: A Life in Four Chapters", der Selbstjustiz übende Vater in "Hardcore", der kontrollsüchtige Filmproduzent in "The Canyons" oder die Millionärstochter und spätere Terroristin in "Patty Hearst" - jedes Mal haben wir es mit einem Protagonisten zu tun, dessen Welt auf derart gravierende Weise erschüttert wird, dass Wahn und Raserei von ihm Besitz ergreifen und sich sein unstillbarer Drang nach Erlösung nur noch durch Gewalt artikulieren kann. Und wie schon öfter landet Schrader letztlich bei Bressons Schlussszene aus "Pickpocket", wo der Taschendieb Michel plötzlich einsieht, dass er sich die ganze Zeit auf einem Umweg zu seinem eigentlichen Ziel befunden hat; zu der einzigen Hoffnung, die uns immer bleiben wird, der Liebe.  

Michael Kienzl


First Reformed - USA 2017 - Regie: Paul Schrader - Darsteller: Amanda Seyfried, Ethan Hawke, Cedric the Entertainer, Van Hansis, Michael Gaston, Philip Ettinger, Victoria Hill - Laufzeit: 108 Minuten.

"First Reformed" war auf dem diesjährigen Internationalen Filmfestival Rotterdam zu sehen. Ein Deutschlandstart ist noch nicht in Sicht.

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Ein Mann gegen 100. Umringt von den Feinden neigt er den Kopf leicht zu Boden, und wirkt auch sonst sonderbar abgeschlafft. Aber dann ist es, als würde er plötzlich von Strom durchflossen, er reißt das Schwert in die Höhe und erlegt mit wuchtigen Schlägen drei, vier Gegner auf einmal. Anschließend sackt er wieder in sich zusammen, als hätte er alle Körperspannung verloren, und doch registriert er aus den Augenwinkeln jede Bewegung der Kontrahenten um ihn herum. Bis zur nächsten Explosion. Das wiederholt sich fünfmal, zehnmal, fünfzehnmal, die Leichen türmen sich, bald watet er in Blut und auch er selbst lässt Federn: eine Hand wird ihm glatt abgesäbelt, ein Auge ausgestochen, aber immer noch gelingt es ihm, die entscheidenden Schläge zu führen. Ein maximal versehrter Restkörper, mit seinem Schwert verschmolzen, der Tötungswille der einzige Reflex, der ihn noch durchzuckt.

Ähnliche Szenen finden sich in unzähligen Samuraifilmen, diese spezielle steht am Anfang von Takashi Miikes "Blade of the Immortal". Gefilmt ist sie in dreckigem, kontrastarmem Schwarz-Weiß, erst wenn wirklich alle Gegner ins Jenseits befördert sind, dringt Farbe in die Bilder: Eine mysteriöse Frauengestalt, den Kopf yodamäßig unter einer Kapuze verborgen, schenkt dem Helden (gespielt von Takuya Kimura) "Blutwürmer", die fortan durch seine Venen marodieren und nicht nur ihn selbst sofort genesen lassen, sondern auch dem Film als Ganzem einen rosigen Teint verleihen. Wobei "Blade of the Immortal" auch als Farbfilm eine dunkle Angelegenheit bleibt. Viele Szenen spielen nachts oder in fast blickdicht verdüsterten Räumen. Ein Film der fahl schimmernden Gesichter und der im Schwarz momenthaft aufblitzenden Schwertklingen.



Die Erzählung ist fürs Genre vergleichsweise geradlinig: Manji, der Kämpfer mit den Blutwürmern im Körper, tut sich mit Rin Asano (bekommt leider etwas zu wenig zu tun: Hana Sugisaki) zusammen, einem Mädchen im Teenageralter, das den Tod ihres Vaters rächen will. Die Hauptkontrahenten der beiden gehören dem Ittō-ryū an, einer Kampfkunstschule, die sich den strikten Codes der Samurai-Tradition verweigert und das Recht des Stärkeren predigt. Die aus der gleichnamigen Manga-Vorlage übernommenen Fantasyelemente spielen insgesamt keine allzu große Rolle; im Kern ist "Blade of the Immortal" eine Variation auf die nihilistischen, revisionistischen Schwertkampfepen der 1960er und 1970er Jahre, von "Zatoichi" bis "Lone Wolf and Cub". Wie diese Vorläufer beschreibt auch Miikes Film eine Welt, die gerade dabei ist, auseinander zu brechen: Das alte, feudale Gesellschaftssystem mit seinen formalisierten Loyalitäten verliert an Bindekraft, es entstehen neue politische Allianzen, aber auch Freiräume für Einzelkämpfer, die auf eigene Rechnung arbeiten. Oder sich eben, wie die Hauptfigur in "Blade of Immortal", gegen jede rationale Kosten-Nutzen-Rechnung mit einem hilflosen Mädchen verbünden.

Der eigentliche Reiz von Miikes Film besteht jedoch darin, dass sich der Zusammenbruch der Ordnung mit dem harmonischen Gleichmaß und der Seelenruhe eines Rituals vollzieht. Im rhythmischen Wechsel von Stillstand und eruptiver Bewegung, von minimalistisch-spröden Gesprächs- und minimalistisch-expressionistischen Kampfszenen, von grün leuchtender Naturidylle und schwarz gähnender Zerstörungswucht entfaltet sich einer der reinsten, perfektesten Genrefilme der letzten paar Jahre. Er gehorcht in seiner Form einer zyklischen Struktur, die freilich gleichzeitig als ein Strudel beschrieben werden kann, der alles, was er erfasst, früher oder später auslöschen wird. Dazu passt das von Anfang ins Paradoxe geführte Motiv der Unsterblichkeit: Ewig leben kann in Miikes Film nur, wer ewig tötet.

"Blade of the Immortal" hat kaum noch etwas mit verstörenden Schockern wie "Audition" und "Dead or Alive" zu tun, die Miike um 2000 herum bekannt gemacht hatten. Aber es war schon damals wenig sinnvoll, den Japaner auf die vermeintliche Krassheit und Weirdness seiner Filme zu reduzieren. In erster Linie war Miike stets ein brillanter Handwerker, und als solcher hat er sich eben innerhalb der Filmindustrie über die Jahre hochgearbeitet, von Direct-to-Video-Quickies bis zu (für japanische Verhältnisse) Großproduktionen. Dass er in einem aufwändigen, teuren Projekt wie "Blade of the Immortal" seine punkigeren, exzessiveren Instinkte zügeln muss (wobei der Film durchaus eine gewisse perverse Lust daran entwickelt, seiner Hauptfigur wieder und wieder diverse Gliedmaße zu entfernen), ist eine Selbstverständlichkeit. Dafür schlagen andere Qualitäten umso eindrucksvoller durch: Klug nutzt der Klassizist Miike die Breite des Cinemascopebildes, etwa wenn sich Manji und Rin nach einem Kampf an einem See wiedertreffen und das Verhältnis der beiden zueinander neu austariert wird, in einer einzigen, langen Einstellung, die eine komplexe psychologische Situation mithilfe der Anziehungs- und Abstoßungsverhältnisse zweier Körper ermisst. Auch die Musik ist bemerkenswert, gerade in ihrer Dezenz: Die Kampfszenen sind manchmal mit Italowesterngitarren untermalt, ansonsten dominieren zumeist leise, hypnotische Streicherklänge - der Soundtrack einer meisterlich durchexerzierten Apokalypse.

Lukas Foerster

Blade of the Immortal - Japan 2017 - OT: Mugen no junin - Regie: Takashi Miike - Darsteller: Takuya Kimura, Hana Sugisaki, Sota Fukushi, Hayato Ichihara, Erika Toda - Laufzeit: 140 Minuten.

"Blade of the Immortal" ist seit dem 26.1. diesen Jahres in Deutschland auf Blueray erhältlich.