Im Kino

Deckel drauf und einheizen

Die Filmkolumne. Von Katrin Doerksen, Lukas Foerster
30.05.2018. Alles ist irgendwie okay, solange Filme entstehen wie Agnès Vardas fein melancholische "Augenblicke: Gesichter einer Reise". Abhay Chopra wirft in seinem Hochdruckthriller "Ittefaq" vielleicht ein paar Zutaten zu viel in den kochenden Pott.



In der Melkmaschine steht eine Ziege neben der nächsten, wachsame Augen folgen der Kamera, neugierig geblähte Nüstern. Ihnen fehlen die Hörner, denn, so erklärt ihr Halter, wenn Ziegen Hörner haben, dann kämpfen sie und brechen sich die Beine. Seine Nachbarin kann darüber nur missbilligend mit den Schultern zucken. Ziegen seien nun mal dafür gemacht, Hörner zu haben. Bei ihr stehen die Tiere jeden Tag auf der Weide, ein altes Pferd thront als Wachhund dazwischen und wiehert laut, wenn etwas nicht seine Ordnung hat. Gemolken wird per Hand, das sei so ein friedvoller Moment. Die Hörner abbrennen, das sei doch gegen die Natur, stimmt ein Passant zu. Stattdessen könne man ihnen Gummikugeln draufsetzen, wie bei Bullen. Oder gleich Clownsnasen. In unterschiedlichen Farben, so könne man sie gleich viel besser unterscheiden. In der französischen Provinz stehen die Ziegen zwar zuhauf auf den Wiesen herum, aber wenn ihre Gesichter in hundertfacher Vergrößerung an einer Hauswand kleben, erweisen sie sich als erstaunliche conversation starter.

Die Ziegengesichter an den Hauswänden sind Agnès Varda und JR zu verdanken, der Nouvelle-Vague-Filmemacherin und dem Fotografen und Streetart-Künstler. Gemeinsam fahren sie in "Augenblicke: Gesichter einer Reise" durch ländliche Regionen Frankreichs, fotografieren die Menschen, denen sie begegnen - ehemalige Minenarbeiter im Norden, Bauern, Hafenarbeiter in Le Havre, Lebenskünstler an der Mittelmeerküste - und hinterlassen an Fassaden, Bauruinen, Unterführungen und Bunkern großformatige Schwarzweißdrucke ihrer Gesichter. Und manchmal auch von Ziegen oder Vardas Füße.

So faszinierend die Geschichten hinter den Gesichtern sind - man kann nicht anders, als die größte Sympathie für die Frau entwickeln, die im Zentrum dieses Films steht: Agnès Varda selbst. Eine 90-Jährige, die mit ihrer kratzigen Altstimme, fast schon einem Bariton, im Auto Anita Wards "Ring my Bell" singt. Die die Kamera mitnimmt zu ihrer Augenoperation und hinterher erklärt, sie sei so ruhig geblieben, weil: "Das ist nichts gegen die Rasiermesserszene in 'Un chien andalou'." Die Kamera wird in "Augenblicke: Gesichter einer Reise" zum Emulator ihres Blick, und zwar im Wortsinn. Personen stellen sich pyramidenförmig über Treppenstufen verteilt auf, halten große Buchstaben und Zahlen in die Höhe, dann entgleitet der Fokus. "Bitte leicht auf und ab bewegen, so sieht das für mich aus", korrigiert Varda. Ihre Sicht wird trotz der OP schwächer, dazu kommen die Schmerzen beim Treppensteigen. Immer wieder klingt während des Films der Gedanke an, der überhaupt große Teile ihres Werks durchzieht: der Gedanke an die eigene Vergänglichkeit. "Augenblicke: Gesichter einer Reise" ist auch der Film einer Regisseurin, die ihrem Ende entgegensieht. Sich mit ihrem Vermächtnis auseinandersetzt. Die für das französische Kino zentral war und ist, aber in der Filmgeschichtsschreibung selten vor den großen Nouvelle-Vague-Päpsten genannt wird. Jean-Luc Godard versagt ihr auch in diesem Film die Pointe. Er glänzt bei einem geplanten Treffen mit Abwesenheit und bringt dadurch ihren Stil nur noch deutlicher zum Vorschein: die Kraft, die in ihrer Trauer um einen nicht umsetzbaren Plan liegt, die Vehemenz ihrer Improvisation.



"Augenblicke: Gesichter einer Reise" kultiviert eine feine Melancholie über den Verlust alter Gewohnheiten - ein Briefträger erzählt vom Radio, das einst an seinem Fahrradlenker baumelte, eine alte Frau im Norden ist die letzte verbliebene Bewohnerin ihrer Straße - und schätzt zugleich das Jetzt, den Moment, die Ahnung einer vielversprechenden Zukunft. Der Bauer ist fasziniert von der im Traktor verbauten IT, JR schiebt Varda im Rollstuhl durch den Louvre, um den einst von Jeanne Moreau, Oskar Werner und Henri Serre aufgestellten Besuchszeitrekord zu brechen. Als ob der unvermeidlichen Melancholie einzig durch verspielte Wildheit beizukommen wäre, und dann auch nur für einen kurzen Moment.

"Augenblicke: Gesichter einer Reise" gibt sich keinen politischen Anstrich, obwohl das fast nahe läge. Er formuliert keine Thesen, er beginnt auch nicht mit einer Absichtserklärung, sondern - wie ungewöhnlich im Kino ohne die Skip-Taste - mit liebevoll animierten opening credits. Danach spielen Agnès und JR ihr Kennenlernen nach. Gegen Ende wundert sich ein Mann über den riesigen Schwarzweißdruck faltiger Füße an einem alten Tankwagen. Höflich wendet er sich an die Regisseurin: "Darf ich fragen: Was ist eigentlich der Sinn des Ganzen?" Agnès Varda antwortet ihm mit geduldiger Selbstverständlichkeit, so als hätte sie sich noch nie erklären müssen: "Der Sinn ist die Macht der Vorstellungskraft. Wir nehmen uns die Freiheit, uns Dinge vorzustellen und fragen andere, ob wir das bei ihnen umsetzen dürfen." Man schämt sich fast dafür, es nicht selbst erkannt zu haben. Die Themen sind zweitrangig, die Blicke darauf, das Suchen und Kreisen, die Medien sind es nicht. Am Ende muss sich kein erzählerischer Masterplan entfalten oder ein Kreis schließen, höchstens als formale Andeutung: der Abspann ist wieder animiert. Alles ist irgendwie ok, solange jemand solche Filme dreht.

Katrin Doerksen

Augenblicke: Gesichter einer Reise - Frankreich 2017 - Regie: Agnès Varda, JR - Laufzeit: 89 Minuten.

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Drei Tage hat der Polizist Dev Verma (Akshaye Khanna) Zeit, um den Fall zu lösen. Denn wenn bis dahin keine Anklage gegen den Hauptverdächtigen, den indischstämmigen britischen Schriftsteller Vikram (Sidharth Malhotra) vorliegt, dann wird er ihn aufgrund diplomatischen Drucks wieder in Richtung Europa ziehen lasse müssen. Der zeitliche Rahmen ist also eng abgesteckt. Und der räumliche auch: Es gilt, die Ereignisse zu rekonstruieren, die sich am Tatort, in dem Apartment von Maya (Sonakshi Sinha), der zweiten zentralen Figur des Falles, zugetragen haben. Sicher ist nur, dass Vikram irgendwann am schicksalhaften Abend Einlass bei der ihm vermeintlich völlig unbekannten Maya gefunden hat, und dass einige Stunden später nicht nur Vikram, sondern außerdem die Leiche von Mayas Ehemann, in dem Raum vorgefunden worden waren.

Nicht im engeren Sinne ein Locked-Room-Mystery, aber doch eine konzentrierte, fast schon klaustrophobische und schon mehrfach erprobte - "Ittefaq" ist das Remake eines gleichnamigen Bollywoodklassikers von Yash Chopra aus dem Jahr 1969, der wiederum auf dem amerikanischen B-Movie "Signpost do Murder" (1963) basiert - Anordnung, die Regisseur Abhay Chopra (Yashs Großneffe), das merkt man schnell, in einen Potboiler im Wortsinn verwandeln möchte: Deckel drauf und einheizen. Der Film wechselt ständig zwischen zwei Räumen und Zeitbenen hin und her: In der Gegenwart befragt Dev Varma auf dem Polizeirevier abwechselnd Vikram und Maya. Deren Erzählungen dann Rückblenden triggern, die in das ominöse Appartment und die Stunden vor dem Auffinden der Leiche zurückführen. Schnell zeigt sich, dass das Rückblenden jener Sorte sind, denen man nicht trauen kann. Die Geschichten der beiden passen nicht zusammen, und außerdem werden sie, wenn neue Beweisstücke auftauchen, situativ angepasst.



Mit einiger Lust am spekulativen Spiel inszeniert Chopra diese Varianten, die letztlich auf einen Genreunterschied hinauslaufen. Vikrams Erzählung ist ein klassischer, softerotisch angehauchter Film-Noir: Er selbst ist in dieser Version ein unschuldig vor der Polizei Flüchtender (es gibt noch eine weitere, irgendwann sogar zwei weitere Leichen…), der bei einer shady Hausfrau Unterschlupf findet, die ihn für ihre eigenen Zwecke ausbeutet und ihm deshalb, kaum dass sich die Wohnungstür hinter ihm schließt, schöne Augen macht. Sinnliche Evidenz gewinnt diese Version der Vergangenheit dadurch, dass Sonakshi Sinha die Kunst des schöne-Augen-Machens, und auch die des hinterlistige-Seitenblicke-Werfens wirklich außerordentlich gut beherrscht. Maya dagegen sagt aus, dass Vikram sich gewaltsam Zugang zur Wohnung verschafft, sie danach dort gewaltsam festgehalten und schließlich ihren später am Abend von der Arbeit zurückgekehrten Ehemann erschlagen habe. Also ein deutlich geradlinigeres Terror-, beziehungsweise Home-Invasion-Narrativ. Was filmisch ebenfalls einiges hermacht, da Sidharth Malhotra die Rolle des hübschen Brutalo ausgesprochen gut steht.

Eine Weile lang bereitet der Film überhaupt einigen Spaß. Das Hin und Her zwischen dem rumpeligen, düsteren Revier und dem feminin geschmackvoll eingerichteten Apartment, zwischen der auf die Vergangenheit fixierten Gegenwart und der auf die Zukunft hin perspektivierten Vergangenheit, zwischen den männlichen und den weiblichen Taktiken des Erzählens und Erinnerns - das funktioniert alles ziemlich gut, vor allem, weil Chopra sein Konzept komplett ernst nimmt und von der dramaturgischen Gesamtstruktur her denkt: "Ittefaq" entfaltet sich entlang ausgedehnter Parallelmontagen, die alle Beteiligten und auch die Zuschauer in eine von schamlos treibender Musik unterfütterte Spannungsmaschinerie einbauen. Für den Comic-Relief sind, auch da ist der Film konsequent, durchweg Dev Vermas tumbe Kollegen zuständig: uniformierte Witzfiguren, die am Tatort erst mal Tee kochen, dumme Sprüche reißen und sonst vor allem im Weg stehen.

Die Stärke des Films liegt in der Reduktion - und er beginnt zu kollabieren, wenn ein paar Zutaten zu viel in den boilenden Pot geworfen werden. Schon die zweite Leiche außerhalb des zentralen Apartments ist streng genommen eine zu viel. Wenn dann später andauernd neue Beweismittel und Erinnerungsdetails auftauchen, von denen vorher nie die Rede war, nur damit eine weitere Variante der Tatnacht aus dem Hut gezaubert werden kann, dann bricht der Film alsbald wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Denn wenn die Rückblenden nicht mehr auf eine sinnhafte, sondern nur noch auf eine beliebige Art lügen, dann habe ich bald keine Lust mehr, Teil des Spiels zu sein, das der Film mit mir spielen will. Und blicke irgendwann nur noch von außen auf eine Maschine, die mit viel Energieaufwand und wenig Ertrag vor sich hin rattert.

Lukas Foerster

Ittefaq - Indien 2017 - Regie: Abhay Chopra - Darsteller: Sidharth Malhotra, Sonakshi Sinha, Akshaye Khanna, Mandira Bedi, Himanshu Kohli - Laufzeit: 105 Minuten.